LUGANO. (hpd) Anfangs Februar beschloss der Gemeinderat von Cadro, einem beschaulichen Ort nahe Lugano, dass das Symbol der Christenheit in die Volksschule gehört. Nicht in die Klassenzimmer, aber zumindest in den Korridor.
Diese Präzisierung ist deshalb von Bedeutung, weil damit der Bundesgerichtsentscheid vom 27.9.1990 (BGE 116 IA 252) umgangen, bzw. frei interpretiert wird. Darin wurde letztinstanzlich entschieden, dass das Kruzifix das Prinzip der konfessionellen Neutralität der öffentlichen Schule verletze.
Vom Korridor sei da aber nicht die Rede, befand die Dorfregierung einhellig. Wie jetzt bekannt wurde, sollen Kirchenvertreter zuvor angekündigt haben, mit einer Unterschriftensammlung für die Rückkehr des Kreuzes in die Schule Druck von unten aufbauen zu wollen. Wollte die Exekutive dem „Volksbegehren“ vorgreifen? Die Verantwortlichen erklären, die Entscheidung sei nach gründlicher Prüfung gefallen – pikanterweise waren weder Eltern noch Lehrkörper darüber informiert.
Die Reaktionen haben nicht auf sich warten lassen. Viel Zustimmung sei in der Bevölkerung auszumachen, berichteten die Lokalmedien. Es tobe ein Krieg unter Christen, titelte Ticino online etwas reisserisch, ganz im Gegensatz zu den Muslimen, die absolut keine Mühe mit dem Kreuz bekunden. Im Interview meinte der Imam Sheikh Samir Jelassi Radouan gar, die Kontroverse sei Ausdruck einer gewissen „Brüchigkeit der modernen Gesellschaft“ und er möchte die Eltern der betroffenen Schüler demokratisch darüber abstimmen lassen. Eine Ablehnung des Kreuzes wäre ein „Zeichen der Schwäche“, so der Imam, der mehr Respekt für die islamische Kultur anmahnt und gleichzeitig die christlichen Wurzeln des Tessins beschwört.
Cadro zum Zweiten
Als offene Provokation bezeichnen die Freidenker Tessin den Vorfall, als Kniefall der Gemeinde vor der Geistlichkeit. Für Roberto Spielhofer, Präsident der regionalen FVS-Sektion, sind Timing und Wahl des „Tatortes“ kein Zufall. Schliesslich geht das Bundesgerichtsurteil auf die Klage eines Lehrers von Cadro zurück. In einem Statement warnen die Freidenker vor den neuen Einmischungsversuchen religiöser Gruppierungen, wie sie sich zum Beispiel im Vorstoss, die Kosten des Schwangerschaftsabbruches zu privatisieren zeigen oder in der geplanten, restriktiven Neureglementierung der liberalen Sterbehilfepraxis in der Schweiz. Damit würden zentralste Selbstbestimmungsrechte beschnitten.
Die Massnahme habe eine Flut von irritierten Mails an die Gemeindekanzlei ausgelöst. Darunter finde sich die Beschwerde eines Betroffenen, der die zuständigen Stellen unter Androhung rechtlicher Schritte auffordere, das „Corpus Delicti“ umgehend zu entfernen. Die dornige Angelegenheit wird die Behörden weiter beschäftigen, auch auf europäischer Ebene. Erst kürzlich hat Italien gegen den Kruzifix-Entscheid des EGMR Rekurs eingelegt.
Grazia Annen