Zwischen Biologie und Kultur, zwischen Individuum und Menschheit

symposium_kortizes_2025_foyer.jpg

Multi-identitäres Zusammensein bei Wein und Musik. Am Klavier: Claus Gebert.
Im Foyer des Germanischen Nationalmuseums

symposium_kortizes_2025_podiumsdiskussion.jpg

Podiumsdiskussion mit Michael Schmidt-Salomon, Prof. Sofie Valk, Helmut Fink, Prof. Miriam Koschate-Reis und Markus Schulte von Drach (v. l.)
Abschlussveranstaltung am Sonntag: Die Podiumsdiskussion

Am vergangenen Wochenende fand das diesjährige Kortizes-Symposium im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg statt. Das Thema: "Identität im Wandel – Neurowissenschaft und Selbstbild".

William Brodie war ein angesehener Bürger und Handwerker – und zugleich ein heimlicher Einbrecher und Glücksspieler. Das machte ihn zur Legende im Edinburgh des 18. Jahrhunderts und inspirierte Robert Louis Stevenson zu seinem Roman "Dr. Jekyll und Mr. Hyde". Eine Person mit zwei Identitäten, dieses Motiv fasziniert uns bis heute, betonte Rainer Rosenzweig, Geschäftsführer des Instituts Kortizes. Doch was ist das überhaupt, Identität? Was weiß die Neurowissenschaft über die Entstehung unseres Selbstbildes, und wie können diese Erkenntnisse dazu beitragen, Gruppenkonflikte besser zu verstehen? Fragen wie diese standen im Zentrum des 8. "Symposiums Kortizes", das vom 3. bis 5. Oktober in Nürnberg stattfand. Organisiert von Rainer Rosenzweig und Helmut Fink, versammelte die Veranstaltung 300 Teilnehmer vor Ort, weitere 60 verfolgten das Programm im Livestream.

Prof. Joachim Bauer
Prof. Joachim Bauer sprach über Identität in digitalen Zeiten.
Foto: © Karin Becker

Den Auftaktvortrag am Abend des 3. Oktober hielt Prof. Joachim Bauer. Als Neurowissenschaftler, Facharzt, Psychotherapeut und Buchautor führte er in die multidisziplinäre Perspektive der Veranstaltung ein. Unsere Identität, so Bauer, werde gleichermaßen durch biologische wie kulturelle Faktoren bestimmt. Bei Neugeborenen bilden sich sogenannte Selbst-Netzwerke von Neuronen im Gehirn, die im Kontakt mit der Mutter und anderen Bezugspersonen entstehen und sich ein Leben lang verändern.

Doch, auch das berichtete der Psychotherapeut aus seinem Berufsalltag, gerade Jugendliche lagern ihr Selbst zunehmend in die Sozialen Medien aus, wo stabile soziale Bindungen fehlen und KI-Chatbots reale Gesprächspartner ersetzen. Bei jugendlichen Intensivnutzern von Sozialen Netzwerken beobachtet Bauer vermehrt Ängste und Depressionen. In diesem Zusammenhang wies er auch auf tragische Fälle von Jugendlichen hin, deren Suizide offenbar in Zusammenhang mit KI-Chatbots standen.

Das plastische Gehirn

Neben Sozialkontakten sind auch individuelle Erinnerungen konstitutiv für unser Selbst. Was dabei im Gehirn geschieht, war Thema der Vorträge zu Beginn des zweiten Veranstaltungstages. Sofie Valk, Leiterin der Lise-Meitner-Forschungsgruppe "Neurobiosozial" am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, betrachtete die Wechselwirkungen zwischen sozialem Handeln und Hirnphysiologie. Einerseits ermögliche uns das Gehirn, sozial zu handeln. Andererseits wirkten unsere Erfahrungen wiederum auf das Gehirn zurück, sodass es sich stetig umgestaltet – von früher Kindheit bis ins hohe Alter. Es sei also nie zu spät, eine Umgebung zu schaffen, die positiv auf das Gehirn einwirkt, schloss Valk. Jede und jeder Einzelne könne dazu beitragen, etwa durch die Pflege sozialer Beziehungen. Doch auch die Gesellschaft insgesamt trage Verantwortung, eine gehirnfreundliche Umgebung für ihre Mitglieder zu schaffen.

Einen weiteren Faktor brachte Beat Lutz zur Sprache. Der Professor für physiologische Chemie an der Universitätsmedizin Mainz, dort Direktor des Instituts für Physiologische Chemie und wissenschaftlicher Direktor und Arbeitsgruppenleiter am Leibniz-Institut für Resilienzforschung, bereicherte die Debatte um den Aspekt der Epigenetik. Epigenetische Prozesse beeinflussen maßgeblich die Genexpression. Sie bestimmen also mit, wie genetische Informationen umgesetzt und für die Zellen nutzbar gemacht werden.

Die drei darauf folgenden Beiträge unterstrichen das Bild vom wandelbaren Selbst als Produkt unseres plastischen Gehirns und eröffneten weitere Perspektiven. So präsentierte Magdalena Sauvage, Professorin für Funktionelle Neuroplastizität an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Co-Direktorin am Leibniz-Institut für Neurobiologie LIN, neueste Erkenntnisse, wie sich die Abrufprozesse von alten und neuen Erinnerungen unterscheiden.

Unser Gehirn verfügt zudem über eine Art "Landkarte des Körpers". Wie sich diese Repräsentation im Laufe des Alterns verändert, damit befasste sich anschließend Prof. Esther Kühn, Neurowissenschaftlerin und Professorin für Translationale Bildgebung des Gehirns an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die gute Nachricht: Die Repräsentationen bleiben auch im Alter weitgehend stabil. Jedoch führen Veränderungen in der Hirnrinde dazu, dass sensorische Wahrnehmungen vermehrt aufgenommen werden – was mitunter zu Reizüberflutung und ungefilterten emotionalen Reaktionen führen kann. Als hilfreich hätte sich gezieltes Training von Körper und Empathie erwiesen, berichtet Kühn.

Männer und Frauen

Von individuellen Veränderungen im Zeitverlauf zu den Unterschieden von Mann und Frau: Obgleich 51 Prozent der Bevölkerung Frauen sind, befassen sich nur 0,5 Prozent der Forschungsarbeiten in den Neurowissenschaften mit ihnen. Ein Missverhältnis, das die Psychiaterin und Neurowissenschaftlerin Prof. Julia Sacher in ihrem Vortrag kritisierte. Sacher lehrt und forscht als Professorin für Kognitive Neuroendokrinologie an der Medizinischen Fakultät der Universitätsklinik Leipzig und ist Forschungsgruppenleiterin in der Abteilung Neurologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Zudem ist sie Fakultätsmitglied der Max Planck School of Cognition, der International Max Planck Research School of Cognitive Neuroimaging und der Berlin School of Mind & Brain. Das von Sacher angesprochene Forschungsdefizit hat weitreichende Folgen: Viele Ergebnisse, die an männlichen Probanden gewonnen wurden, lassen sich nicht ohne Weiteres auf Frauen übertragen. So verwies Sacher auf ein neu entwickeltes Demenz-Medikament, dessen Wirksamkeit bei Männern gut belegt ist. Bei Frauen wurde hingegen keine bessere Wirkung als bei einem Placebo gezeigt – obwohl rund zwei Drittel der Alzheimerpatienten weiblich sind. Ein ähnliches Ungleichgewicht zeige sich beispielsweise auch bei Depressionen und Angsterkrankungen, von denen Frauen zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind als Männer. "Es ist eine Frage von Menschenrecht und Gerechtigkeit, diese Datenlücke zu schließen und eine bestmögliche Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten", betonte Sacher.

Das Thema Geschlechtsidentität sorgt immer wieder für kontroverse Diskussionen. Auf dem Symposium widmete sich der Biologe, Wissenschaftsjournalist und SZ-Redakteur Markus Schulte von Drach diesem brisanten Thema. Leider werde dabei oft an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vorbeidiskutiert, beklagte der Biologe. In seinem Vortrag betonte er den Unterschied von biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender). Dabei ging er auch auf die Debatte um die medizinische Behandlung von trans Jugendlichen ein. Während die deutsche Leitlinie noch am genderaffirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern festhält, konstatiert der britische Cass-Report eine nur schwache Evidenzlage für diese Form der Behandlung. Schulte von Drach plädierte für eine differenzierte Bewertung. Watchful waiting, also die Strategie des aufmerksamen Abwartens, sei für trans Kinder nicht ideal, könne aber andere vor vorschnellen Fehlentscheidungen schützen. "Irgendjemand verliert immer", resümierte er. Wie die Gesellschaft mit Menschen und ihren vielen Identitäten umgehe, sei letztlich keine biologische, sondern eine ethische Frage.

Fremdenhass und Gruppenkuscheln

Ein weiterer Aspekt des Identitätserlebens, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, stand anschließend im Zentrum von Prof. Eckart Volands Ausführungen. Der Sachbuchautor und emeritierte Professor für Philosophie der Biowissenschaften betrachtete dieses wohlbekannte Phänomen aus evolutionärer Sicht. In vielerlei Hinsicht ähnelten sich Menschen und Schimpansen, so Voland. Beide unterstützen Angehörige der eigenen Gruppe, haben eine Abneigung gegen Fremde und kämpfen häufig. Doch im Gegensatz zu Schimpansen kennen Menschen soziale Identität und Kollektivismus, führte er weiter aus. Unsere sozialen Gruppen würden durch Identifikationssignale zusammengeschweißt. Dialekte, Rituale, Mythen und gemeinsame Überzeugungen brächten auch große Gruppen zusammen, in denen kein Mitglied alle anderen oder deren soziale Beziehungen überblickt. "Ironischerweise verdankt unsere Spezies ihre einzigartige Kooperationsbereitschaft einer langen Geschichte gewalttätiger Zwischengruppenkonflikte", betonte Voland. 

Ein Beispiel für die destruktive Energie von Gruppendenken lässt sich gegenwärtig bei der MAGA-Bewegung in den USA beobachten. Wie bei weißen, christlichen Amerikanern der gefühlte Verlust von Mehrheit und moralischer Ordnung zur Abwertung von Andersgläubigen, insbesondere Atheisten, führt, hat Prof. Ulrich Kühnen in einer Studie untersucht – angeregt durch die Einladung zum Symposium. Kühnen ist Professor für Psychologie an der Constructor University in Bremen und Academic Chair an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS). In seiner Untersuchung ging er davon aus, dass Trumps Politik gezielt die weiße, christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft anspricht, deren Mitglieder sich durch den demografischen Wandel bedroht fühlen. Frühere Studien zeigten, dass diese Sorge zu einer verstärkten Abwehrhaltung gegenüber nicht-weißen Bevölkerungsgruppen führt. Vergleichbares konnte Kühnen auch bei der Religion feststellen. Gegenwärtig stellen die Christen noch die größte Bevölkerungsgruppe in den USA, doch in absehbarer Zeit werden die Konfessionsfreien in der Mehrheit sein. Auf diese Information reagierten Kühnens Probanden mit massiver Ablehnung von Atheisten. Als Erklärung vermutet Kühnen, dass religiöse Menschen glauben, Güte und Nächstenliebe kämen erst durch Gottes Eingriff in die Welt. Dieses moralische Fundament der Gesellschaft sehen sie durch eine säkulare Weltsicht bedroht.

Der Abschlusstag der Veranstaltung, Sonntag, 5. Oktober, griff in vielerlei Hinsicht die Themen und Perspektiven vorangegangener Beiträge auf. Harald Schickedanz, Ärztlicher Direktor der DRV-Klinik Hüttenbühl in Bad Dürrheim, sowie Facharzt für Innere Medizin und Psychosomatik und Psychotherapeut, widmete sich dem Phänomen von zwei Persönlichkeiten in einem Körper. Was in der Literatur die Gestalten Jekyll und Hyde kennzeichnet, findet man in der Realität bei Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung – oft als Folge eines psychischen Traumas. Die Symptome sind vielfältig, der Leidensdruck enorm, und viele Betroffene versuchen, die unerträglichen Gefühle durch Drogen oder andere schädliche Verhaltensweisen zu bewältigen. Psychotherapie kann das Trauma nicht heilen, so Schickedanz, aber sie eröffne den Weg zu einem sinnvollen Umgang mit dem Leid.

Im Alltag wechseln Menschen ständig zwischen gruppenbezogenen Identitäten, etwa der Rolle im Beruf und in der Familie. Wie effizient unser kognitives System diese verschiedenen Rollen koordiniert, untersucht Miriam Koschate-Reis, Professorin für computerbasierte Sozialpsychologie an der Universität Exeter. Ihre Forschung zeigt, dass wir zwischen diesen Identitäten sehr effektiv wechseln können, jedoch nur begrenzt Kontrolle über den willentlichen Identitätswechsel besitzen.

Vom Individuum zur Weltgemeinschaft

Michael Schmidt-Salomon
Michael Schmidt-Salomon: Gelingt uns der Sprungin die "nichtidentitäre Identität"?
Foto: © Karin Becker

Den Bogen von der individuellen zur gesellschaftlichen und politischen Dimension schlug dann der letzte Einzelreferent der Veranstaltung, der Philosoph und Autor Michael Schmidt-Salomon, Mitbegründer und Vorsitzender der Giordano-Bruno-Stiftung. Ausgehend vom weltweiten Aufstieg der ideologischen Rechten, verwies er auf die enorme Bedeutung, die Religion in autoritären Gesellschaften besitzt. Als sozialer Kitt stärkt sie den inneren Zusammenhalt und fördert gleichzeitig die Abgrenzung nach außen, wie die Beispiele Putin und Erdoğan zeigen. Dabei seien evolutionäre Muster erkennbar, wie sie auch Eckard Voland am Vortag beschrieben hatte: Kooperation und Empathie innerhalb der eigenen Gruppe, aber Feindseligkeit gegenüber Fremden. Schmidt-Salomon stellt diese Strategie bei Vertretern identitärer und autoritärer Politik von rechts und links gleichermaßen fest. Dieser bedenklichen Entwicklung stellte er die humanistische Idee einer Menschheit, bestehend aus lauter Individuen, gegenüber. Wie der Konflikt mit autoritären Ideologien ausgeht, wisse freilich niemand. "Sicher ist lediglich, dass wir die globalen Herausforderungen nur meistern, wenn wir effektiv zusammenarbeiten", schloss Schmidt-Salomon.

Dieser Ausblick leitete direkt über zur abschließenden Podiumsdiskussion. Neben Schmidt-Salomon nahmen auch Miriam Koschate-Reis, Markus Schulte von Drach und Sofie Valk teil, Moderator war Helmut Fink.

Die Diskussion spannte einen weiten Bogen von Geschlechtsidentität bis zu den Angriffen religiöser Gruppen auf die individuelle Freiheit ihrer Mitglieder. Bei den Grundfragen, etwa der biologischen Zweigeschlechtlichkeit, herrschte auf dem Podium weitgehende Einigkeit. So wies Schulte von Drach darauf hin, dass es "das" weibliche oder männliche Gehirn nicht gebe. Gleichwohl lasse sich das Geschlecht auf Basis von Hirndaten relativ gut identifizieren. Was dies über eine bestimmte Person aussagt, müsse im Einzelfall geklärt werden.

Gleichzeitig lieferte die Diskussion ein lebendiges Beispiel, wie eine freie Debatte gelingen kann. Und gerade bei emotional aufgeladenen Themen sei eine sachliche Betrachtung umso wünschenswerter. Das bedeutet auch: Das Argument zählt – unabhängig davon, wer es vorbringt. Für künftige Debatten forderte etwa Schmidt-Salomon, den Demagogen dort Recht zu geben, wo sie Recht haben. Und sie zu kritisieren, wo sie Unrecht haben.

Bleibt die Frage nach guten Wegen, bereits bei Kindern Dialogfähigkeit und individuelles Denken  zu fördern. Hier plädierte Schmidt-Salomon dafür, Kinder als Individuen wahrzunehmen, nicht als Träger eine Familienidentität. So gebe es keine christlichen oder muslimischen Kinder, nur Kinder, die christliche oder muslimische Eltern haben. Staatliche Stellen forderte er auf, Kindern Perspektiven zu eröffnen, um ihre eigene Identität zu entwickeln. Ein bedeutender Schritt wäre, so Schmidt Salomon, die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts.

Zum Vormerken: Das "Symposium Kortizes 2026" trägt den Titel "Der Geist in der Maschine – Zauber und Grenzen der Künstlichen Intelligenz" und findet vom 2. bis 4. Oktober 2026 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg statt.

Unterstützen Sie uns bei Steady!