Legierung aus Ratio und Empathie

Für den Autor besteht das ethische Grundproblem der menschlichen Existenz nicht darin, dass Menschen sich immer wieder dafür entscheiden, „böse“ zu handeln. Vielmehr ist die Vorstellung des Gut-Böse-Dualismus selbst ein Teil des Problems. Menschen, die jenem Paradigma verhaftet sind, neigen dazu, ihre Gegner zu dämonisieren und sich in Hass und Verachtung zu steigern. Die Gegner wollen eine derartige Einordnung natürlich nicht hinnehmen und entwickeln ihr eigenes Gut-Böse-Schema. Je mehr sich Menschen gegenseitig verteufeln, umso brutaler werden schließlich die Mittel, die im Kampf gegen „das Böse“ als gerechtfertigt erscheinen. Der Referent hatte keine Scheu, hierbei auch auf den Holocaust Bezug zu nehmen. Die Quintessenz der Nazi-Ideologie zielte eben nicht darauf ab, sich dem „Bösen“ zu verschreiben, sondern darauf, die „Anderen“, also z.B. Juden, Zigeuner, Kommunisten und Slawen, als den Inbegriff „des Bösen“ zu betrachten. Schmidt-Salomon hat sich bei seinen Recherchen nicht nur mit der Person Adolf Eichmanns auseinandergesetzt, sondern auch Tagebuchaufzeichnungen von KZ-Wächtern ausgewertet. Immer wieder wurde offenkundig, mit welcher erheblichen Mühe viele Täter ihre sozialen Instinkte unterdrücken mussten, um sich einreden zu können, auch das jüdische Kind sei ein „Teufel in Menschengestalt“. Für den Autor ist das dualistische Paradigma ein Nährboden für Wahnideen, die ein friedliches Zusammenleben blockieren. Der moralisierende Dualismus beruht letztlich auf zwei irrigen Grundannahmen:

  1. Der Mensch verfügt über einen freien Willen (Indeterminismus). Er kann also in einer gegebenen Situation zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten wählen und für seine Wahl „moralisch“ verantwortlich gemacht werden.
  2. „Gut“ und „Böse“ sind absolute metaphysische Kategorien.

Die erste Prämisse kollidiert mit dem wissenschaftlichen Weltbild, zu welchem (zumindest oberhalb der Quantenebene) die Einordnung eines jeden Ereignisses in eine Verkettung von Ursache und Wirkung gehören. Der Mensch wird in dieser Prämisse praktisch zum „unbewegten Beweger“, eine Eigenschaft, die man sonst nur Gott (im natürlich hinfälligen „kosmologischen Gottesbeweis“) zuspricht. Auch die moderne Hirnforschung scheint von den Rechtfertigungsmöglichkeiten der Willensfreiheit kaum etwas übrig zu lassen, wie etwa die neurophysiologischen Befunde zur Sozialverhaltenssteuerung zeigen.

Die zweite Prämisse ist ebenfalls mit einer naturalistischen Weltsicht unverträglich, denn sie setzt ein religiöses Fundament oder doch zumindest eine moralische Zielgerichtetheit der Evolution voraus.

Der Naturalismus sieht den Menschen aber nur als zufälliges Produkt der Evolution, der darauf konditioniert ist, für sich und die Seinen die Ressourcen zum Leben und Überleben zu sichern. Er verfügt nicht über „Willensfreiheit“, sondern bestenfalls über „Handlungsfreiheit“, also über die Freiheit, gemäß seinem Willen zu handeln, sofern er nicht von einer Diktatur (= Unterdrückung äußerer Handlungsfreiheit) oder psychologischen Barrieren (= fehlende innere Handlungsfreiheit) an deren Ausübung gehindert wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist das zugefügte Leid wie ein Unfall zu betrachten, welches es durch Sanktionen, also durch Erhebung von Kosten, zu verhindern gilt. Die Willensregungen rechtstreuer Bürger und Krimineller sind gleichermaßen als Produkt genetischer Disposition und kultureller Lernerfahrungen zu werten. Das Strafrecht sei daher von einem Sühnestrafrecht zu einem Präventionsstrafrecht zu transformieren. Viele Zuschauer waren verblüfft zu hören, dass die Weimarer Republik bereits solche Reformen begonnen hatte, diese aber in der Nazi-Diktatur annulliert und in der Bonner Republik nicht wieder aufgegriffen wurden. Untersuchungen zeigten, wie Menschen, die nicht von einem freien Willen der Täter ausgehen, erlittenes Unrecht leichter verarbeiten können, als diejenigen die sich als Opfer der „Bösen“ sehen. Es kann aber nicht nur heilsam sein, anderen zu vergeben. Ebenso wichtig ist auch die Fähigkeit, sich selbst vergeben zu können. Wer sich dessen bewusst ist, dass er sich zu keinem Zeitpunkt seines Lebens hätte anders verhalten können, der kann auch viel gelassener und ohne Selbstwertbeschädigung auf seine Vergangenheit zurückblicken und unverkrampft daran arbeiten, frühere Fehler in Zukunft zu vermeiden, um so viel leichter zu dem zu werden, der er in Zukunft sein möchte. In diesem Zusammenhang spricht Schmidt-Salomon von einer „Neuen Leichtigkeit des Seins“.

Aber auch gesellschaftlich ist die Überwindung des Paradigmas der Willensfreiheit von erheblicher humanitärer Bedeutung. Denn es ist mit der Vorstellung verbunden, dass jeder „seines Glückes Schmied“ sei und wird so zur Legitimierung von sozialer Ungerechtigkeit verwendet.

Als der Autor sich anschließend den Fragen des Publikums stellte, zeigte sich wieder, wie schwer es manchen fällt, die Vorstellung ihres freien Willens aufzugeben.

Wenn ich darüber mit hartnäckigen Verfechtern des Indeterminismus ins Gespräch komme, frage ich die Betreffenden immer, ob sie sich denn vorstellen könnten, ein schimpfliches Verbrechen, etwa von der Art wie es jetzt häufig in den Medien präsent ist, zu begehen. Dies wird natürlich stets entrüstet zurückgewiesen. Aber wenn sie wirklich über einen freien Willen verfügen würden, müssten sie doch solche Handlungen begehen können? Sie haben sich halt nur bisher stets dagegen entschieden? Bis jetzt. Nach einiger Zeit dämmert es den meisten Diskutanten, dass es wohl doch erstrebenswerter ist, als jemand zu gelten, der nicht über einen freien Willen verfügt, sondern stattdessen über funktionierende soziale Instinkte wie Mitgefühl und Fürsorgewillen, die einen wahren Ekel bewirken vor allen Handlungen, die ein Kind verletzen und so als mächtige Barrieren wirksam sind. Gefühle der fürsorglichen Zuwendung oder der Abscheu vor Kindesmisshandlung hat sich aber niemand frei gewählt.

Natürlich ließ man auch diesmal den Abend im Restaurant des Saalbaus Bornheim gemütlich ausklingen.

Die Säkularen Humanisten Rhein-Main treffen sich wieder in Frankfurt am Main, am 19.03.2009 um 19:00 Uhr, im 2. Stock des wohlbekannten Club Voltaire, in der Kleinen Hochstraße Nr. 5. Der nächste Termin der Vortragsreihe ist am 16.04.2010 um 19:30 Uhr.

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Am folgenden Tag referierte Michael Schmidt-Salomon bei den  Säkularen Humanisten – Regionalgruppe Rhein-Neckar des Förderkreises der Giordano Bruno Stiftung (GBS) in Mannheim, vor vollem Haus.

Der Videomitschnitt der Lesung ist hier zu sehen.

 


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