(hpd/AuK) Dieser anregende Sammelband geht im Kern auf eine Humanismustagung in Berlin im November 2008 zurück. Einige Beiträge weiterer Autoren wurden als Ergänzung hinzugefügt. Entstanden ist eine Abfolge großenteils lesenswerter Fachbeiträge, Analysen und Stellungnahmen, die in ihrer Länge und dem Grad ihrer akademischen Ausarbeitung recht heterogen sind, jedoch alle einen erkennbaren Bezug zur reichen Ideenwelt des säkularen Humanismus aufweisen.
Der Titel des Bandes ist klug gewählt: „Humanismusperspektiven“ meint sowohl die Perspektiven (i.S.v. Blickrichtungen und Sichtweisen) auf den Humanismus, als auch die Perspektiven (i.S.v. Entwicklungschancen und Zukunftsaussichten) des Humanismus. Einige der immer wieder aufscheinenden Schlüsselfragen, die verschiedene Humanismuskonzeptionen voneinander trennen, sind: Wo muss heute über die antike Philosophie hinausgegangen werden? Wie stark naturalistisch geprägt kann ein humanistisches Menschenbild sein? Ist der Humanismus der Gegenwart eher ein (einheits-)wissenschaftliches Bildungskonzept oder ein demokratisches Bürgerrechtsanliegen oder eine nichtreligiöse Weltanschauung? Wie verhält sich im Humanismus Wahrheitsanspruch zu Selbstkritik?
Auf dem Buchrücken steht – vielleicht durch ein redaktionelles Versehen – der Satz „Das Buch ist ein Beitrag zum aktuellen Streit über Theorien der Menschenwürde.“ Tatsächlich geht es aber um Humanismus. Menschenwürde kommt als explizites Konzept nur in wenigen der Beiträge vor (und wird in seiner Begründungskraft ohnehin meist überschätzt, wie andernorts etwa Norbert Hoerster und Edgar Dahl gezeigt haben). Insgesamt ist der Band jedoch ordentlich ediert und bietet einen guten Einstieg in die theoretischen Debatten im Umfeld des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) und der Humanistischen Akademien.
Der Herausgeber ist Kulturwissenschaftler, geschäftsführender Direktor der Humanistischen Akademie Berlin sowie der Humanistischen Akademie Deutschland und war bis Anfang 2010 Präsident des HVD. Er hat bis 2009 die Heftreihe „Humanismus aktuell“ herausgegeben, deren Nachfolger die Schriftenreihen der genannten Akademien sind. Sein langjähriges verdienstvolles Grundanliegen einer konzeptionellen Verständigung in der säkularen Szene kommt im vorliegenden Band besonders deutlich zum Ausdruck.
Der erste Beitrag stammt von dem Altphilologen Hubert Canzik. Er bestimmt Humanität als Bildung und Barmherzigkeit und geht ihren Wurzeln in der Antike nach, insbesondere bei Cicero. Die griechisch-römische Tradition staatlicher Sozialpolitik wird der jüdisch-christlichen Tradition des Almosengebens gegenübergestellt. Der Literaturwissenschaftler Martin Vöhler zeichnet die
Der Philosoph und Politikwissenschaftler Julian Nida-Rümelin verfolgt einen systematischen Anspruch und spannt dabei den Bogen zum ethischen und politischen Humanismus. Er geht von einem theoretischen Humanismus aus, der Rationalität, Freiheit und Verantwortung betont. Sein Argument für die kausale Rolle von Gründen und gegen einen harten Naturalismus („Gründe haben keine algorithmische Form“) suggeriert eine Eigenmächtigkeit des Geistes gegenüber dem Gehirn und wird kaum einen Naturalisten überzeugen. Leider hängt sein Verständnis von theoretischem Humanismus davon ab.
Der Philosoph Frieder Otto Wolf sieht den Kern eines modernen Humanismus darin, sich zum Guten zu entscheiden und entsprechend zu handeln, wobei das Gute weder objektiv noch absolut zu verstehen ist. Er plädiert für eine „wahrheitspolitische Position“ des Eintretens für die eigene Wahrheit bei gleichzeitiger Reflexion der Existenz anderer Positionen. Den Unterschied zu religiösen Positionen diskutiert er in einer eigenwilligen Betrachtung zum „Freudschen Theorem der Urverdrängung“. Hierin werden ihm nur wenige folgen wollen.
Horst Groschopp verfolgt in seinem Beitrag die Bedeutung und den Wandel des Weltanschauungsbegriffs und seine Relevanz für den Humanismus. Der erste Abschnitt leidet daran, dass zu viele nicht klar definierte Begriffe miteinander in Beziehung gesetzt werden (Kultur, Weltanschauung, Philosophie, Humanismus). Das erschwert dem analytisch denkenden Leser den Einstieg. Die weiteren Abschnitte sind jedoch begriffsgeschichtlich durchaus erhellend. Am Ende wird die strategisch wichtige Frage aufgeworfen, was Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften von anderen Kulturorganisationen unterscheidet.
Sehr lesenswert ist der knappe Text von Jaap Schilt, der das sperrige Thema eines humanistischen Bekenntnisses klar und nachvollziehbar erschließt.
Der Politologe und Soziologe Armin Pfahl-Traughber behandelt in acht Thesen (die leider weder drucktechnisch hervorgehoben noch numeriert sind) das Verhältnis von Humanismus und Demokratie. Der politisch geschulte Blick des Autors beinhaltet eine Art Frühwarnsystem vor Sozialdarwinismus und Intoleranz und führt u. a. zu scharfen Abgrenzungen von Friedrich Nietzsche und Richard Dawkins. Ob er insbesondere letzterem damit gerecht wird, mag bezweifelt werden.
Die Beiträge von Johann-Albrecht Haupt, Michael Schmidt-Salomon, Joachim Kahl und Volker Mueller sind kurz. Die ersten drei gehen auf Podiumsbeiträge zurück. Haupt vertritt einen bürgerrechtlichen Humanismus, gekennzeichnet durch das Wagnis des Selbstdenkens, den Verzicht auf Ausschließlichkeitsansprüche und die Akzeptanz von Pluralität. Schmidt-Salomon wirbt für einen evolutionären Humanismus naturalistischer Prägung (mit Kultur als Teil der menschlichen Natur, aber ohne metaphysisches „Gut und Böse“) und Kahl für einen weltlichen Humanismus (mit Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen und nichtreligiöser Spiritualität). Mueller umreißt die Positionen des Dachverbandes Freier Weltanschauungsgemeinschaften.
Von profunder Literaturkenntnis geprägt ist der Beitrag des Philosophen Gerhard Engel über Evolutionären Humanismus als Integrationswissenschaft. Er betont den Nutzen von Wissen, neuen Ideen, Kooperation und Offenheit für unterschiedliche Quellen und zeigt sich kritisch gegenüber Werturteilen im Allgemeinen und der Ausgrenzung religiösen Denkens im Besonderen. Seine zehn Thesen und ihre Begründung lohnen die Lektüre.
Mit der Abhandlung der Philosophin Petra Caysa hingegen werden die wenigsten Leser etwas anfangen können. Es ist eine immer noch weit verbreitete Unart in der Philosophie, (lebende oder tote) Kollegen zu interpretieren anstatt Probleme zu lösen. Im konkreten Fall steht der französische Modeliterat Michel Foucault im Mittelpunkt, sachlich geht es wohl um die Bedingungen für gelingende Selbstbestimmung. Wieso der Beitrag in den Sammelband aufgenommen wurde, bleibt unklar.
Zweifellos zu den klarsten Beiträgen des Bandes gehört der Text „Unglaube genügt“ des Neurobiologen Christian Walther. Der Autor argumentiert umsichtig, präzise und in unprätentiöser Sprache für ein vernunftgemäßes und zugleich lockeres Verhältnis zur Religion. Der Titel spielt darauf an, dass ein kämpferisches antireligiöses Auftreten von Atheisten schlicht überflüssig ist. Sterblichkeit, Wertvorstellungen und Hoffnung werden als zentrale Themen aufgeklärter Weltanschauung identifiziert, die musischen Aspekte religiöser Kultur ausdrücklich geschätzt. Der organisierte Humanismus kann von derartigen sachlich-unaufgeregten Analysen nur profitieren. Es ist fast ein wenig beschämend für die Vordenker und Funktionäre humanistischer Organisationen, dass sie solch luzide Grundlagentexte nur selten hervorbringen.
Es folgt eine gelungene Zusammenstellung zu Spezifika des Humanismusbegriffs von Ernst Grewel. Er arbeitet die Fähigkeit des Menschen zur Übernahme von Verantwortung im Vergleich zum Tier heraus und betont die menschliche Autonomie in Abgrenzung zu göttlicher Fremdherrschaft. Erfrischend deutlich stellt er im Rahmen eines ganzheitlichen Materialismus fest: „In der naturalistischen Fundierung von Humanismus liegt die Gewähr für ein ungespaltenes Menschenbild.“
Den Band beschließt ein erweitertes Vortragsmanuskript des Geschichtsdidaktikers und Philosophen Peter Schulz-Hageleit zur Fortschrittsidee. Sein Thema ist der menschlich-soziale Fortschritt (nicht der wissenschaftlich-technische), gedacht als generationsübergreifender Bewusstseinswandel, und die Widerstände, auf die er trifft. Am Ende steht das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Vernunft als menschheitsverbindender Gemeinsamkeit und weltanschaulichem Humanismus als partikularer Kraft, ausformuliert am Beispiel des humanistischen Lebenskunde-Unterrichts und der Frage eines humanistischen Bekenntnisses. – Trotz einzelner Schwachstellen kann der Band jedem empfohlen werden, der an aktuellen Positionen und Problemen des säkularen Humanismus mehr als nur oberflächliches Interesse zeigt.
Helmut Fink
(Der Rezensent ist Vorsitzender des HVD-Nürnberg, Vizepräsident der Humanistischen Akademie Bayern und Präsidiumsmitglied des HVD-Bundesverbandes.)
Die Rezension ist entnommen aus: Aufklärung&Kritik, Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Heft 2/2010 (erscheint Mitte Juli 2010), herausgegeben von der Gesellschaft für Kritische Philosophie (GKP), Nürnberg.
Weitere Informationen.
Horst Groschopp (Hrsg.): Humanismusperspektiven, Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland Band 1, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2010, ISBN 978-3-86569-058-6, 209 S., 16.- Euro.
Der Band ist auch im denkladen erhältlich.