WEIMAR. (hpd) Haiti kurz vor dem verheerenden Erdbeben von 2010 mit mehr als 300.000 Toten. Es ist ein drückend heißer Sommer in der Hauptstadt Port-au-Prince. Kriminalinspektor Dieuswalwe Azémar betrachtet sich als gescheiterte Existenz, weil er sich mit der allgemeinen Korruption – auch und gerade im Polizeiapparat – nicht abfinden will.
So lebt der ungläubige Azémar ganz im Gegensatz zu seinem früheren Wachtmeister Colin in bitterer Armut und kann das Leben nur noch im Suff ertragen. Der erzkatholische Colin schloss sich irgendwann einer evangelikalen Sekte an. Trotz seines Alkoholismus ist Azémar aber einer der erfolgreichsten Kriminalisten, der seine Fälle zumeist mehr als unkonventionell löst und auch abschließt. Der alleinerziehende Vater hat seine Tochter Mireya – die es einmal besser haben sollte – in die Obhut einer aus den USA stammenden religiösen Gemeinschaft, der “Kirche vom Blut der Apostel”, gegeben, die vorgibt, aus edlen und wohltätigen Motiven haitianische Arme-Leute-Kinder an adoptionswillige Familien in der “weißen Welt” zu vermitteln.
Nur drei Tage vor dem Abflug des Mädchens in die USA erhält Azémar einen telefonischen Hilferuf Colins. Es ginge um Leben oder Tod. Azémar lässt alle anderen Fälle stehen und liegen und eilt zu Colin und erblickt Erschreckendes, Voodoo-mäßiges. Dabei kommt die Sprache auch auf die religiöse Gemeinschaft, in deren Obhut sich Mireya befindet. Und der Inspektor muss erkennen, dass sich seine Tochter – mehr noch als Colin – in höchster Lebensgefahr befindet. Er erwacht aus dem Suff, kümmert sich nicht um die Attacken eines korrupten Kommissars und findet seine Reflexe als Elitepolizist wieder.
Mit seiner treffsicheren Beretta, viel Zuckerrohrschnaps und wilder, unbeirrbarer Entschlossenheit zieht er aus, das Leben Mireyas zu retten. Und – je unwirklicher es dabei zugeht, desto realistischer wird das Bild der haitianischen Gesellschaft. Dabei zögert Azémar nicht, notfalls rücksichtslos von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Trotz aller gefährlichen Widrigkeiten und nach vielen überraschenden Wendungen gelingt es ihm, in tatsächlich letzter Minute Mireyas Leben zu retten. Leider nur ihres. Denn die korrupten Obrigkeiten verhindern, dass er der Sache tiefer auf den Grund geht…
Mehr soll zu den Ermittlungen und Aktionen des Inspektor Azémar hier nicht gesagt werden.
Der Kriminalroman “Schweinezeiten” ist weit mehr als nur ein Voodoo-Krimi, obwohl Voodoo-Kult und -rituale darin keine unwesentliche Rolle spielen. Das Buch ist vielmehr ein ungeschminktes Sittenbild Haitis, des ärmsten und elendsten Landes des “westlichen Hemisphäre”.
Sklaven-Revolution bis heute nicht verziehen
Nach der letztlich ersten siegreichen Revolution schwarzer Sklaven von 1791 und der Erringung der Unabhängigkeit im Jahre 1804 galt Haiti als eines der reichsten Länder der Karibik. Das haben die christlich-weißen Kolonialmächte, insbesondere Frankreich und die USA, den Menschen Haitis bis heute nicht verziehen. So musste das Land, um die Anerkennung seiner Unabhängigkeit durch die ehemalige Kolonialmacht Frankreich zu erreichen, sich durch immens hohe Zahlungsverpflichtungen “freikaufen”. Diese Zahlungen in Höhe von rund 90 Millionen Gold-Franc (in heutiger Euro-Kaufkraft eine mehrfache Milliardensumme!) an die früheren sklavenhaltenden Kolonialherren, die fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch andauerten, überstiegen die Leistungskraft Haitis. Dies und politische Instabilitäten verbunden mit der Terrorherrschaft mehrerer US-höriger Diktatoren sowie vor allem die Umstellung der Landwirtschaft von der Deckung des eigenen Bedarfs auf Exporte in die USA (und später in den Raum des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens!!!) führten dazu, dass Haiti sich im 20. Jahrhundert zum absoluten “Armenhaus Amerikas” entwickelte.
Das spiegelt sich allein schon in Gary Victors Beschreibungen der einzelnen Stadtteile der Hauptstadt oder in den schonungslosen Gewaltszenen wider. Seine literarische Sprache, mal durchaus lyrisch, mal bis zum äußersten drastisch, zeichnet hier sehr plastische Bilder.
Der Roman ist nicht minder eine Darstellung dessen, wie sich der “reiche und von christlichen Werten durchdrungene Westen”, in schamlosester und verlogenster Weise die Notlage von Menschen in der sogenannten Dritten Welt zu Nutze macht. Und dies stets unter dem Vorwand, dass man ja so viel Gutes tue. Aber was früher vorrangig unter katholischem Mantel daherkam, das versteckt sich seit einigen Jahrzehnten hinter evangelikalen Freikirchen, zumeist aus den USA stammend.
Die Kirchen tun ja so viel Gutes
Ja, die Prediger und die Nonnen, sie bieten der Öffentlichkeit ein positives Bild an: sie nehmen Kinder aus armen Familien auf, bieten ihnen in den Internaten tatsächlich eine relativ gute Schulbildung und kümmern sich intensiv um deren medizinische Betreuung… Doch, das ist der geheime Kern, das geschieht nur, um für den Kinderhandel (Adoptionen) und vor allem für den Organhandel für Superreiche geeignetes Menschenmaterial zur Verfügung zu haben. In einer Szene zeichnet der Autor ein knappstes Bild, wie sein Held einen gerade frisch ausgeweideten Jungen vorfindet.
In einem Land wie Haiti bilden korrupter Staatsapparat, religiöse Sekten und ein undurchschaubares Netz an “Wohltätigkeitsorganisationen/NGO” ein nahezu übermächtiges kriminelles Geflecht. Ein Held wie Azémar weiß, dass er die Verhältnisse nicht ändern kann, aber er zeigt auch, dass der Einzelne durchaus Widerstand leisten kann.
Da dem mitteleuropäischen Durchschnittsbürger solche Verhältnisse fast unbekannt sein dürften und vielleicht sogar unglaubhaft vorkommen – denn es gilt ja das Diktum “christliche Kirchen tun ja so viel Gutes” soll der Autor im Folgenden selbst anhand einiger prägnanter Zitate zu Wort kommen.
In Bezug auf die angeblich heilkräftigen Voodoo-Priester heißt es: “Diese Schurken beziehen ihre Macht aus der Angst, daraus, daß alle glauben, sie seien mächtig.” (S. 47) Und nicht nur auf diese bezogen, sondern auf Religionsvertreter allgemein: “So was lebt von unserer Angst und unserer Unwissenheit.”
An anderer Stelle heißt es: "Was wußte er eigentlich über die Kirche vom Blut der Apostel? Er hatte lediglich eine weitere amerikanische Sekte gesehen, die kam, um den Voodoo, die Teufel und die animistischen Glaubensvorstellungen zu bekämpfen. Eine weitere Sekte, die der katholischen Kirche das Wasser abgrub. Die Leute bekehrten sich, um der Angst [vor den Voodoo-Priestern SRK] zu entkommen, aber auch der materiellen Vorteile wegen, die die neue Kirche bot. Der Inspektor war von der praktisch kostenlosen Schulbildung angetan, die diese (…) bot." (S. 86)
Ein Azémar zugetaner Kollege recherchierte und teilte ihm daraufhin mit: "Für die Apostel sind es [gemeint sind die “Erwählten” am Ende der Zeiten; SRK] die Menschen mit der Blutgruppe A Rhesus negativ. Natürlich nur reinblütige weiße Angelsachsen. Die Kirche hatte in mehreren Staaten mit der Justiz zu tun. Wegen Steuerhinterziehung, genetischen Manipulationen und Organhandel. Der Sekte gehören einige geriatrische Forschungszentren. (…) Ich frage mich nun, was eine solche Kirche auf Haiti macht." (S. 89)
Azémar bittet seinen Kollegen daraufhin: “Du mußt für mich herausfinden, welche Verbindung zwischen den Kindern, die in den letzten vier Jahren verschwunden sind, der Kirche vom Blut der Apostel und der Blutgruppe A Rhesus negativ besteht.” (S. 91)
Als der Inspektor seine Tochter aus dem Internat abholen will – das Mädchen ist aber bereits zur Organentnahme verschleppt worden, geifert ihn die Internatsdirektorin an: “Sie sind verrückt geworden. Sie legen sich mit Kirche vom Blut der Apostel an. Einer nach (US-)amerikanischem Recht zugelassenen Kirche.” (S. 102)
Azémar lässt sich davon aber nicht (mehr) beeindrucken; der Autor gibt dessen Gedanken und nachfolgendes Tun so wieder: “Man durfte einen Menschen nicht zwingen, bestimmte Grenzen zu überschreiten. Das jedoch hatten die Leute von dieser Sekte getan, die aus dem hintersten Winkel der USA gekommen waren, um hier die frohe Botschaft zu verkünden. (…) Wie so oft wurden unter dem Deckmantel der evangelikalen Mission Komplotte gegen Gesellschaften geschmiedet, die sich nicht verteidigen konnten, da die schurkischen Politiker und Regierungen, die sie unter ihrer Fuchtel hielten, zu allem bereit waren, um sich zu bereichern.” (S. 102)
Aufklärung tut nach wie vor not
Solche Sekten agieren nicht nur in Haiti, sondern breiten sich – erfolgreich – inzwischen in vielen noch katholisch-religiös dominierten Ländern Lateinamerikas und mittlerweile auch in Afrika aus.
Aufklärung tut also nach wie vor not, eigentlich sogar noch mehr als früher. Ein Buch, ein so spannender Krimi, wie dieses von Gary Victor kann dazu einen Beitrag leisten. Die ganze Realität ist vielleicht sogar noch schlimmer als in dieser auf Realität beruhenden Fiktion.
Dem Litradukt-Verlag ist zu danken, dass er diesen Roman einem deutschen Publikum zugänglich gemacht hat. Ebenso ist ihm zu danken, dass er darüber hinaus eine ganze Reihe von Werken anderer haitianischer Autoren im Angebot hat. Und somit dem deutschen Leser Blicke über den wohlstandsgesellschaftlichen Tellerrand hinaus ermöglicht.
Gary Victor, geb. 1958 in Port-au-Prince, gehört zu den meistgelesenen Schriftstellern Haitis. Seine Leser rühmen, dass es ihm dank seines unverwechselbaren Stils, in dem sich beißende Sozialkritik, Voodoo-Magie, schwarzer Humor und haitianische Kulturtraditionen auf gekonnte Weise verbinden, gelingt, ein aufrüttelndes Bild der schlimmen Realität in seinem Lande zu zeichnen. Das kann der Rezensent für diesen fesselnden, spannungsgeladenen Kriminalroman von nur 130 Seiten ohne Wenn und Aber bestätigen.
Gary Victor: Schweinezeiten. Ein Voodoo-Krimi. A.d.Franz.v. Peter Trier. 130 S. Paperback. Litradukt-Verlag. Trier 2013. 11,90 Euro. ISBN 978–3–940435–11–8