Das Diktat heiliger Schriften bedroht die Freiheit der Literatur

Fatwa oder Fantasie?

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Illegale iranische Ausgabe des Buches "Satanische Verse" von 1988
Illegale iranische Ausgabe des Buches "Satanische Verse" von 1988

GELSENKIRCHEN. (hpd) Am 14. Februar 1989 rief der schiitische Ayatollah Chomeini in einer Fatwa dazu auf, den Schriftsteller Salman Rushdie zu töten. Dies war der auch hierzulande deutlich sichtbare Beginn einer Strategie islamistischer wie islamischer Kräfte, über die muslimische Welt hinaus mehr politisch-kulturelle Hegemonie zu gewinnen.

Nicht nur wegen des feigen Anschlags auf die Redaktion von “Charlie Hebdo” ist die Fatwa gegen den in Bombay geborenen Briten Salman Rushdie im wahrsten Sinne des Wortes brandaktuell. Dessen bereits 2012 erschienenes Buch “Joseph Anton. Eine Autobiografie” erzählt von den Folgen dieser Fatwa, vom Exil als Persona non grata, einem Überleben ohne Freiheit, aber auch vom Aufbegehren eines Intellektuellen und Religionenkritikers als totgesagter Künstler. Ein Schicksal, das heute in der ein oder anderen Form weltweit schon viel zu viele Künstler teilen müssen.

“Joseph Anton” lehrt darüber hinaus dies: Sich dem Druck von Religionen-Kartellen zu unterwerfen, der Stimmungsmache ihrer politischen Lobbyisten oder dem systematischen Angriffen auf Kunst und Meinungsfreiheit, heißt aufgeklärtes Denken und selbstbestimmtes Leben einzutauschen gegen eine Knechtschaft im institutionalisierten Allmachtswahn alter Männer.

Hey Joe, where you goin’ with that gunman at your side?

Als den Schriftsteller Salman Rushdie am 14. Februar des Jahres 1989, einem sonnigen Valentinstag, in London-Islington eine Journalistin anrief und ihm mitteilte, dass das iranische Staats- und Religionsoberhaupt Ayatollah Ruhollah Chomeini ihn per Fatwa zum Tode verurteilt habe, dachte er: “Ich bin ein toter Mann.” Und fragte sich, wie viele Tage er wohl noch zu leben habe. Heute, genau 26 Jahre später, lebt und schreibt Salman Rushdie immer noch, die Fatwa des obersten schiitischen Un-Rechtsgelehrten aber hat sein Leben radikal verändert, wie tiefgreifend, das schildert Rushdie in “Joseph Anton. Die Autobiographie”.

Joseph Anton war Rushdies Deckname, eine Namenskombination aus Joseph Conrad und Anton Tschechow, zwei von Rushdies literarischen Lieblingen. Dieses Alias verkürzten Rushdies Personenschützer zu einem kumpelhaften “Joe”, ein Diminutiv, mit dem sie Salman Rushdie auch selbst anredeten. Für “Joe” planten sie geheime Treffen mit Freunden, Politikern, mit seinem Sohn Zafar oder den Frauen seines Lebens. Für “Joe” organisierten sie Umzüge in immer neue Verstecke. Mit “Joe” wurde nicht nur der Mensch Salman Rushdie unsichtbar, sondern auch der großartige Schriftsteller, der für Jahre mit seinem Namen auch letzte Reste seiner Freiheit zu verlieren schien.

Siddiqui an ‘The Guardian’: “Wir (Muslime) müssen die Todesstrafe für Rushdie fordern”

Die Fatwa Chomeinis gegen Salman Rushdie, man muss das schon erwähnen, war nicht etwa ein Gerichtsurteil als Folge eines juristischenVerfahrens – und sie richtete sich von Anfang an nicht nur gegen ihn und seinen Roman “Die satanischen Verse”. Die Fatwa, so Rushdie in “Joseph Anton”, “war das Edikt eines grausamen alten, im Sterben liegenden Mannes”. Khomeini starb nur wenig später am 3. Juni 1989. Die politische Vorgeschichte des Mordaufrufs, das frühe Verbot der englischsprachigen Ausgabe 1988 in Indien etwa, die Querverbindungen Irans zu britischen Muslimen und ihren selbsternannten Sprechern wie dem Scharfmacher Dr. Kalim Siddiqui vom Londoner Muslim Institute erhellt eine BBC-Dokumentation, die auch zeigt, warum der – nach großen menschlichen und wirtschaftlichen Verlusten des Ersten Golfkriegs (1980–1988) – angeschlagene Chomeini die Fatwa inszenierte, um dem Personenkult und seiner Meinungsführerschaft innerhalb der islamischen Welt neue Impulse zu geben.

Fatwa und Sippenhaft

“Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt, dass der Autor des Buches ‘Die satanischen Verse’, welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publikation beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen.” Natürlich erkannte sich Chomeini auch in den Träumen eines blutdurstigen Imams im Exil wieder. Rushdie schreibt dazu: “In ‘Die satanischen Verse’ gibt es das Porträt eines ihm ähnlichen Imams, der zum Ungeheuer wird, dessen gigantisches Maul die eigene Revolution frisst.”

Arbeitsteilung: Autodafés, aufgehetzte Massen, Kopfgelder und Killerkommandos

Die Ketzerjagd auf Salman Rushdie begann und nicht nur “das stolze muslimische Volk der Welt” sollte sich daran beteiligen. Der Roman “Die satanischen Verse” wird in vielen islamischen Ländern verboten, Mitglieder der islamischen Gemeinde im englischen Bradford verbrennen öffentlich Rushdies Buch, anderswo werden Rushdie-Puppen verbrannt, Kopfgelder ausgesetzt, Killerkommandos losgeschickt usw. usf.

Die WAZ meldet am 16. Februar 1989 eine bemerkenswert opportunistische Forderung der Europäischen Gemeinschaft: Die EG-Regierungen sollten “Iran mit Sanktionen für den Fall drohen, daß Rushdie ermordet werde”. Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erklärt, er werde den Roman “Die satanischen Verse” nicht herausgeben, um eine Gefährdung seiner Mitarbeiter zu verhindern. Rushdie und seine (zweite) Ehefrau Marianne Wiggins beginnen ihr Leben im Untergrund, von da an lebt Rushdie neun Jahre meist rund um die Uhr geschützt von Personenschützern des ‘A’-Kommandos, des Special Branch und der Metropolitan Police sowie ihren Kollegen beim britischen Auslandsgeheimdienst (SIS).

Bei Demonstrationen gegen Salman Rushdie und dessen Roman sterben in Bombay zehn Menschen, in Islamabad fünf. Später wird es Messerattacken auf Rushdies italienischen Übersetzer geben, der überlebt, während der japanische Übersetzer von “Die satanischen Verse” durch Messerstiche getötet wird. Salman Rushdies norwegischen Verleger Nygaard treffen mehrere Kugeln, wie durch ein Wunder überlebt er.

Im Frühjahr 1989 erschießt ein Unbekannter den Leiter der Großen Moschee in Brüssel, Abdullah Muhammad al-Ahdal, sowie dessen Stellvertreter. Laut FAZ bekannte sich eine “pro-iranische libanesische Gruppierung (…) zu dem Mord an dem Imam, dem sie eine zu gemäßigte Haltung und seine Verurteilung von Khomeinis Fatwa gegen den Autor der ‚Satanischen Verse‘, Salman Rushdie, vorwarf.”

Vorauseilende Totenstarre

So verbreitete sich Terror und Angst in den Metropolen der Welt und selbst um die Ruhrprovinz sollte zumindest die Angst keinen Bogen machen. Bis zum 20. März scheiterten insgesamt sieben Versuche des Literaturbüros Ruhr (Gladbeck) und des Münchner Schriftstellers Gerhard Köpf, der als Literaturwissenschaftler in Duisburg lehrte, einen öffentlichen Raum anzumieten, um eine Lesung aus Romanen Rushdies auf die Bühne zu bringen. Überall entdeckten Verantwortliche den Konjunktiv II: “Ich wäre gern bereit, spräche nicht so viel dagegen.”

Die Gladbecker Polizei und der Recklinghäuser Polizeipräsident denken darüber nach, eine mögliche Rushdie-Solidaritätsveranstaltung zu unterbinden. Über einen direkten Draht zu einem hochrangigen Mitarbeiter des NRW-Innenministers Schnoor kann die Anti-Haltung gekippt werden. Die Polizei unterstützt nun eine Lesung aus Romanen Rushdies in der Gladbecker Buchhandlung Carlotta Althaus, die Gerhard Köpf, der Duisburger Anglist Dietmar Haack und ich organisierten und bestritten. Zuvor allerdings wurde die Buchhandlung von Sprengstoffhunden abgeschnüffelt, am Abend der Veranstaltung saß politische Polizei in Zivil unter den Zuschauern und in einer Nebenstraße sollte auch Bereitschaftspolizei präsent sein, falls…. Doch nichts geschah. Der Abend war gut besucht, der örtliche Kulturdezernent erschien, alles verlief ohne jede Störung. Die Angst vor muslimischen Anti-Rushdie-Protestlern war zumindest diesmal unbegründet. Nicht nur die Polizei war erleichtert, zumal erst ein gutes halbes Jahr zuvor das Gladbecker Geiseldrama für Schlagzeilen gesorgt hatte, Gladbeck sollte nicht erneut im Zentrum negativer Gewalt-Berichterstattung stehen.

Angstinfektion und Immunreaktionen

Warum ich dies überhaupt berichte? Weil so leichter zu erschließen ist, wie viel Furcht und Schrecken religiöse Einschüchterung, religiöser Terror auch weitab jeder direkten Bedrohung erzeugen. Um wie vieles stärker mussten also Reaktionen auf die unmittelbarere Bedrohung Rushdies und seines Umfeldes ausfallen – bei Familie, Freunden, Verlagsmitarbeitern, Übersetzern, Buchhändlern, Vermietern, Personenschützern, involvierten Politikern …

Rushdies “Joseph Anton” erzählt von diesen sehr unterschiedlichen Reaktionen, von Unterstützern und Helfern, kleinen Helden des Alltags, er schildert aber auch von all den konzertierten Anti-Rushdie-Aktionen nicht nur des offiziellen britischen Islams, der vom Islamismus wenig zu unterscheiden war.
Er berichtet von Literaturkritikern und Autorenkollegen, die dem Roman “Die satanischen Verse” jede literarische Qualität absprechen, die stattdessen in ihren religiösen Gefühlen beleidigte Gläubige in Schutz nehmen. Und Salman Rushdie hätte größte Solidarität seit dem 14. Februar 1989 bitter nötig gehabt.

“Die satanischen Verse” – eine andere Art Offenbarung

Salman Rushdie, bis heute wunderbarerweise nicht getöteter Autor des Romans “Die satanischen Verse”, wurde in der ZEIT so zitiert: “Wenn ich nicht das Recht habe, wahrheitsgemäß über das Innenleben eines Menschen zu schreiben, der den Glauben verloren hat, dann können wir ja nichts mehr schreiben.”

“Die satanischen Verse”, mit ihrer komplex-komponierten Romanstruktur und magisch-realistischen Handlungssträngen, handeln zwar auch von der Geburt einer erfundenen Religion, von einem erfundenen Propheten (“Mahound”), einem erfundenen revolutionären Religionsführer im Exil, aber vor allem um Schicksal und Träume zweier indischer Immigranten in England, es sind dies die aus allen Wolken stürzenden Protagonisten Saladin und Gibril. Ähnlichkeiten mit Aspekten der Geschichte des Islams und Chomeini sind nicht zufällig, aber Rushdies Fiktion darf nicht naiv 1:1 in die “Wirklichkeit” rückübersetzt werden. Als literarische Fiktion darf man den Roman aufs Schärfste kritisieren, nicht aber als vermeintlich historisch verbürgte Aussagen über Koran, Prophet, Chomeini und tatsächliche Ereignisse.

Über Götter als Menschen reden

Davon abgesehen muss natürlich dennoch auch eine Historisierung und Fiktionalisierung des Islams erlaubt sein. Warum nicht “über Mohammed wie über einen Menschen reden”, merkt Salman Rushdie an. Und weitergedacht betrifft dies eben nicht allein den Islam: Über sogenannte heilige Schriften als Kerne weltumspannender Aberglaubenssysteme ist zu reden, über Götter als menschengemachte, als historisch-literarische Figuren darf und muss man sprechen.

Im Zweifel: Zweifeln!

Salman Rushdie, Foto: © David Shankbone, wikimedia (CC BY 3.0)
Salman Rushdie, Foto: © David Shankbone, wikimedia (CC BY 3.0) 

Kein freiheitsliebender Mensch sollte sich also dazu hergeben, den Vollstreckungsexport inquisitorischer Todesurteile als Form der Buchbesprechung oder Redaktionsschließung zu akzeptieren. Im Wettstreit der Bücher haben sich die Mythen und Legenden der sogenannten heiligen Schriften mit jenen humanen Mythen und Märchen zu messen, die Rushdie und andere in der Kunst entwerfen.

Das Recht auf Meinungsfreiheit muss nicht nur geschützt, es will auch ausgeübt werden. Die Gegenwart des Zweifels ist überzeugender als die Glaubenssätze der Religionen. Die Kunst-Fantasien eines Rushdie, Scorcese, Achternbusch, Nagib Machfus, Theo van Gogh, einer Ayaan Hirsi Ali oder Taslima Nasreen, die Songs des Kölner Rappers Shahin Najafi oder die Karikaturen aus “Charlie Hebdo” sind gewiss nicht die Auslöser für Todesschüsse religiöser Eiferer, sondern das Gegengift, das diesen Schützen längst hätte verabreicht werden müssen.

Herrschaftsansprüche eines menschengemachten Textes über alle anderen müssen zurückgewiesen werden. Oder es wird wahr, was eine New Yorkerin nach der Fatwa gegen Salman Rushdie sagte: “Wir alle hier sind Geiseln.”

Das Verb “glauben” verträgt keinen Imperativ

Die Fantasie der Kunst bleibt ein Rest-Risiko für Machthaber. Sie hat sich vor Finanzkapital oder Staat, vor religiösen Dogmen oder konstruierten Sachzwängen nicht zu rechtfertigen. Im Übrigen: Nicht nur die Lästerung eines von unzähligen Göttern dürfte an die Persönlichkeitsrechte vieler Menschen rühren. Zu Beginn des 21. Jahrhundert haben wir es eher (und massenhafter) mit der Lästerung aufgeklärter Vernunft zu tun, werden täglich Intelligenz und Gefühl “ungläubiger Heiden” (Rushdie) von Seiten der Religionen verletzt.

Die Religionen werden lernen müssen, auch die Würde der Menschen zu respektieren, die ihnen in Taten und Gedanken nicht zu folgen bereit sind. Krude Inszenierungen religiöser Fantasien belästigen mich täglich, da werden doch wohl ein paar Rückfragen in Form fantastischer Gegenbilder erlaubt sein? Auch Rushdie hat schließlich einen Roman als Kunstwerk geschaffen und nicht etwa Gewalt ausgeübt oder eine Moschee angegriffen, er hatte nicht einmal die geringste Absicht den Besuch irgendeines Gebets- oder Kultraums zu behindern. Seinen Roman muss kein Gläubiger lesen. “Lies!”, das propagieren im Befehlsmodus nur Salafisten mit ihren Gratis-Koranen auf deutschen Straßen. Ich halte es da eher mit einem Satz des französischen Autors Daniel Pennac: “Das Verb ‘lesen’ verträgt keinen Imperativ.”

Auf religiöses Machtgehabe und gewalttätige Drohung lässt sich auf vielerlei Weise antworten: mit der subversiven Kraft der Kunst und des Lachens (wie in Umberto Ecos “Im Namen der Rose”), mit der Abschaffung des sog. Blasphemieparagrafen hierzulande, mit konsequent-argumentativer Religionenkritik, mit Freude am Leben und Mitgefühl.

Naives Trennen von Islamismus und einem wahren Islam

Der gewaltbereite, durchaus arbeitsteilig agierende Islam hat viele Wurzeln und Gesichter. Von Salafisten und IS zum Gottesstaatsterror des Iran, von Suren, ihrer Auslegung und der Scharia bis hin zu religiöser Indoktrination, von Djihad und saudi-arabischen Peitschenhieben für den “Ungläubigen” Raif Badawi bis hin zu allerhand militanten islamischen Strömungen, Gemeinden und Einzelpersönlichkeiten in Bradford, Köln oder anderswo. Führten die Biografien der Attentäter vom 11. September 2001 nicht auch nach Hamburg und ins Ruhrgebiet?

Angesichts der Fatwa gegen Rushdie und ihrer Folgen erscheinen manch aktuelle Diskussionen in der Nachfolge des Attentats auf die “Charlie Hebdo”-Redaktion bodenlos naiv. Als ob es überhaupt darum ginge, was Satire dürfe oder nicht dürfe. Es geht längst darum, was jeder freie Bürger, jede freie Bürgerin eines freien Landes, was jeder Künstler und Religionenkritiker darf und dürfen können muss.

Die Fatwa gegen Salman Rushdie ist nie zurückgenommen worden. Das könnte auch nur Chomeini selbst tun – im Rahmen einer Auferstehung, auf die ich gern verzichte. Die Fatwa wurde ganz im Gegenteil mehrfach bekräftigt, das auf Rushdie ausgesetzte Kopfgeld im September 2012 auf über 3 Millionen Dollar angehoben. Seit März 2002 – so kann man es in “Joseph Anton” nachlesen – lebt Rushdie ohne Personenschutz. Hoffen wir, dass es so ist – und bleibt.