Ein Plädoyer für den assistierten Suizid

Die Freiheit zum Tode

In einer pluralistischen Gesellschaft, die die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Überzeugungen beherbergt, gibt es kein "wir". "Wir" – das sind Joseph Ratzinger, Alice Schwarzer, Michael Schuhmacher, Gregor Gysi, Dieter Bohlen, Roger Willemsen, Mario Götze, Karl Lagerfeld, Helmut Schmidt, Udo Lindenberg, Günter Grass, Boris Becker, Olaf Henkel, Reinhold Messner, Michel Friedman, Ranga Yogeshwar, Renate Künast und Nina Hagen. Wollte wirklich irgend jemand behaupten, dass sich diese Menschen eine gemeinsame Vorstellung von "unserer" Gesellschaft teilen? Die einzige Vision, die sie sich miteinander teilen könnten, ist die von einer Gesellschaft, die es allen gleichermaßen erlaubt, entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen zu leben, und in der es niemandem gestattet ist, die staatliche Gesetzgebung dazu zu missbrauchen, anderen ihre Werte aufzuzwingen. Anderen vorschreiben zu wollen, wie sie zu sterben haben, ist daher vollkommen unannehmbar.

In einer freien Gesellschaft müssen wir damit leben, dass Menschen vieles tun, mit dem wir nicht einverstanden sind. Wir mögen ihre Entscheidungen missbilligen und – vorausgesetzt, sie sind bereit, zuzuhören – mit ihnen darüber reden; doch solange sie mit dem, was sie tun, anderen keinen Schaden zufügen, haben wir nicht das geringste Recht, sie mit Gewalt daran zu hindern, und zwar selbst dann nicht, wenn dies zu ihrem eigenen Besten wäre.

Eine andere in der Orientierungsdebatte geradezu gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung lautete: Die Zulassung des assistierten Suizids würde einen so großen sozialen Druck auf Alte, Kranke und Behinderte ausüben, dass sich das Recht zu sterben schon bald in eine Pflicht zu sterben verwandeln werde. Dies ist das so genannte "Dammbruch-Argument".

Das erste, das man zu dieser inzwischen nachgerade inflationär verwendeten Behauptung sagen muss, ist: Das Dammbruch-Argument ist kein Argument gegen die Sterbehilfe als solche, sondern lediglich ein Argument gegen die vermeintlichen sozialen Konsequenzen der Sterbehilfe. Das zweite, das man sagen muss, ist: Es genügt nicht, verheerende soziale Konsequenzen zu beschwören, man muss sie auch empirisch belegen.

Gibt es irgendwelche Indizien für einen sozialen Druck auf alte, kranke und behinderte Patienten? Nein! Wenn uns eine derartige Entwicklung drohte, würde sie sich bereits heute zeigen. Patienten haben bekanntlich das Recht, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen abzulehnen. Und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie mit Rücksicht auf die aus ihrer Behandlung entstehenden Kosten für die Gesellschaft auf eine Therapie verzichten.

Neben dem sozialen Druck wird regelmäßig auch der familiäre Druck beschworen. Wenn der assistierte Suizid erlaubt sei, so heißt es in einer nahezu schon an Boshaftigkeit grenzenden Unterstellung, würden die Kinder ihre schwer erkrankten Eltern dazu drängen, von ihr Gebrauch zu machen, um rascher an ihr Erbe zu gelangen. Doch vom familiären Druck gilt dasselbe wie vom sozialen Druck. So wie ein Patient subtil zu einer Hilfe bei der Selbsttötung gedrängt werden könnte, so könnte er auch subtil zu einem Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen gedrängt werden. Es gibt jedoch keinerlei Indizien dafür, dass Kranke allein auf Druck ihrer Familie zunehmend ihre Dialyse beenden, ihre Chemotherapie abbrechen oder ihren Respirator abschalten lassen.

Bevor unsere Politiker sich in Unheilsszenarien ergehen, sollten sie lieber zunächst einen Blick über die Landesgrenze werfen. In der Schweiz gibt es beispielsweise fünf Sterbehilfeorganisationen. Und niemand fühlt sich durch die Freitodhilfe, die sie leisten, bedroht. Als im Jahre 2011 im Kanton Zürich ein Volksentscheid stattfand, sprachen sich 84,5 Prozent der Bürger gegen ein Verbot der Freitodhilfe aus. Die überwiegende Mehrheit nimmt die bestehenden Sterbehilfeorganisationen nicht in Anspruch. Tatsächlich sterben jedes Jahr nur 7 von 1.000 Menschen durch eine Freitodhilfe. Doch die Schweizer sind liberal: Auch wenn sie selber nicht daran denken, vom assistierten Suizid Gebrauch zu machen, fragen sie sich doch, welches Recht sie haben, ihn anderen vorzuenthalten.

Mit 60.000 Mitgliedern ist Exit die größte Sterbehilfeorganisation in der Schweiz. Die Mitgliedschaft kostet 45 Franken jährlich. Jedes Jahr erhält Exit etwa 2.000 Anfragen zu einer Freitodbegleitung. Davon werden im Durchschnitt 500 angenommen. Von den 500 Menschen, denen eine Freitodhilfe zugesagt wird, machen letzlich aber nur 300 Gebrauch. 200 Menschen genügt also das bloße Wissen, dass sie ihrem Leben jederzeit ein Ende setzen können, falls ihr Leiden unerträglich werden sollte.

Exit hilft nicht nur Menschen mit Krebserkrankungen oder degenerativen Erkrankungen, wie etwa der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), sondern bisweilen auch Patienten, die unter einer chronischen Depression, beginnender Demenz oder der Alzheimerschen Erkrankung leiden. Voraussetzung dabei ist immer, dass die Betroffenen noch urteilsfähig sind. Über die Freitodbegleitung hinaus bietet Exit zudem noch eine Palliativpflege und eine Suizidprophylaxe an.

In Deutschland liegen zwei Gesetzentwürfe zur Hilfe bei der Selbsttötung vor. Beide Entwürfe sprechen sich ausdrücklich dafür aus, den assistierten Suizid auf Patienten zu beschränken, die an einer tödlichen Erkrankung leiden und nur noch wenige Monate zu leben haben. Menschen mit einer beginnenden Demenz könnten das Gesetz also nicht in Anspruch nehmen. Aus liberaler Sicht ist eine derartige Einschränkung jedoch ungerechtfertigt. Viele erinnern sich gewiss noch des Tübinger Professors für Rhetorik Walter Jens, der im vergangenen Jahr verstarb. Als sich die ersten Symptome einer Demenz bemerkbar machten, sagte er in einem Interview mit dem Stern: "Nicht mehr schreiben zu können, heißt für mich: Nicht mehr atmen zu können. Dann ist es Zeit zu sterben." Was glaubt der Staat, wer er ist, wenn er einem Menschen wie Walter Jens eine Hilfe zur Selbsttötung verweigern und ihn dazu verdammen will, die letzten Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung zu verbringen?