Etwa zur selben Zeit warf auch der französische Humanist und Essayist Michel de Montaigne die Frage auf, ob "unerträglicher Schmerz und die Befürchtung eines schlimmen Todes nicht die verzeihlichsten Beweggründe für eine Selbstentleibung" seien: "Den Tod, die Armut und den Schmerz halten wir für unsere Hauptfeinde. Doch wer wüßte nicht, daß dieser Tod, den die einen den schrecklichsten aller Schrecken nennen, von anderen der einzige Hafen genannt wird, der ihnen vor den Stürmen des Lebens Zuflucht gewährt? Das höchste Gut der Natur! Der einzige Hort unserer Freiheit! Das allen zugängliche und prompte Heilmittel gegen alle Übel!"
Zu einer wahren Auflehnung gegen das Verbot der Selbsttötung kam es aber erst durch die Aufklärung. Montesquieu gehörte zu den ersten, die die Behandlung der "Selbstmörder" durch die geistlichen und weltlichen Gerichte anprangerten: "Die europäischen Gesetze", schrieb er, "sind erbarmungslos gegen die Selbstmörder. Man schlägt sie sozusagen noch einmal tot, man schleift sie durch den Schmutz der Straßen, man behaftet sie mit dem Makel der Ehrlosigkeit, man zieht ihre Güter ein. Es scheint mir, daß diese Gesetze ungerecht sind. Wenn ich von Schmerz, Elend und Verachtung erdrückt werde, warum will man mich hindern, meinen Leiden ein Ende zu setzen, und warum beraubt man mich eines Heilmittels, das in meinen Händen ist?"
In seinem 1764 erschienenen Buch "Von den Verbrechen und von den Strafen" bezeichnete der italienische Rechtsgelehrte Cesare Beccaria die Bestrafung des Leichnams von Selbstmördern als lächerlich. "Die Richter", meinte er, "sollten wohl wissen, daß der Tote dabei eben so viel empfindet, als wenn man eine Säule peitschen wollte." Zudem erklärte er die Schändung der Leiche für barbarisch und die Konfiskation der Güter als geradezu rechtswidrig. Überhaupt sollte der Staat nicht vermeintliche "Sünden gegen sich selbst", sondern nur wirkliche "Verbrechen gegen andere" bestrafen.
Auch Voltaire setzte sich dafür ein, dass eine aufgeklärte Gesellschaft es seinen Bürgern gestatten sollte, ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen, wenn sie es als unerträglich empfinden. Als philosophischem Unterweiser Friedrich des Großen gelang es Voltaire sogar, den Preußenkönig 1752 dazu zu bewegen, die Selbsttötung als Straftat aus dem Gesetzbuch zu streichen. Unter dem Einfluss von Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot und Henry Thiry d’Holbach verschwand 1791 auch in Frankreich der Paragraph, der den Suizid bisher unter Strafe stellte.
Mit der Aufklärung begann nicht nur der Kampf um die Anerkennung allgemeiner Menschenrechte, sondern auch um die Trennung von Staat und Kirche. Moralische und rechtliche Fragen sollten nicht länger durch die vermeintliche Offenbarung der Bibel, sondern durch das allgegenwärtige Licht der Vernunft gelöst werden.
Insbesondere David Hume ist es zu verdanken, dass die antiken Lehren des Epikureismus und des Stoizismus neue Aufmerksamkeit fanden. Bei Arthur Schopenhauer, der es nicht nur für verständlich, sondern auch für durchaus vernünftig hielt, seinem Dasein ein Ende zu bereiten, "wenn die Bedrängnisse des Lebens die Bedrängnisse des Todes überwiegen", klingen deutlich epikureische Gedanken an. Bei Friedrich Nietzsche, klingen dagegen sogar stoische Gedanken an, wenn er den "Tod zur rechten Zeit" preist: "Den freien Tod, der zu mir kommt, wenn ich will!"
3 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
Vielen Dank für den interessanten Überblick.
valtental am Permanenter Link
Ebenfalls Danke!
Wie bei vielen anderen Aspekten zeigt sich auch hier bei Thema Selbsttötung ein seltsamer Geschichtsverlauf: Nach rund 1.300 Jahren (mal grob von 400-1700 gerechnet) wurden wieder Gedanken aufgenommen, die vom Christentum mit dem Bann belegt worden waren. Was man auch betrachtet, das Christentum erweist sich fast ausnahmslos als ein völlig unnötiger ideologischer Irrweg für die Menschheit. Die vielschichtige Antikerezeption seit der Renaissance ist der offensichtlichste Beleg dafür.
Dieter Depping am Permanenter Link
wirklich interessante kompakte Zusammenfassung, Danke