Christliche Atheisten

Nach K.H., für den Gott nicht existiert, sondern geschieht, können soziale Beziehungen, die auf Vertrauen beruhen, mit dem Begriff "Gott" bezeichnet werden, müssten es aber nicht. 'Vertrauen' sei die ursprüngliche Bedeutung von 'glauben'. In auf Vertrauen gründenden zwischenmenschlichen Beziehungen zeige sich das 'Göttliche', wobei dieses Vertrauen auf Erfahrung i.S. von "gefühltem Wissen" beruhe. Man könnte K.H.s Glauben als Spiritualität mit zwischenmenschlicher Ausrichtung umschreiben. Als Gott wird nicht länger ein über den Menschen thronender, statischer, omnipotenter Gnadenverteiler bezeichnet, sondern soziale, zwischenmenschliche Beziehungen besonderer Art. "Gott" wird hier also sprachlich wie auch inhaltlich vom Ding in eine Eigenschaft, das "Göttliche" gewandelt. Der übernatürliche, statische "Gott" der Dogmen wird zum sozialen "Göttlichen" dynamisiert.

W.K. begegnet "Gott" hingegen nicht in sozialen Beziehungen, sondern im Schauen und Erfahren des Vollkommenen in der Tradition mystischen Denkens, dessen Bedeutung er in seinem Buch ausgiebig darstellt. Das eigentliche Ziel dieser mystischen Hinwendung bleibt dabei im Dunkel typisch theologischer Geheimniskrämerei: das "große", "nicht durchschaubare", "nicht hinterfragbare", "nicht auflösbare" oder eben "unsagbare" Geheimnis, das sich bei Bedarf auch noch zum "Urgeheimnis" steigern lässt… Gleichermaßen bedient er sich auch bei seinen Versuchen einer begrifflichen Annäherung an einen nicht existierenden Gott altbekannter theologischer Formeln: "Das nicht Aufzulösende hinter den Erkenntnissen der Kosmologie können wir Gott nennen." "Gott ist nicht ein existierendes Wesen, sondern wenn schon, Sinnhintergrund alles Existierenden." (S.93) Man könne die Welt "rational erklären […] Oder ich kann das Urgeheimnis, das darin aufleuchtet, auf mich wirken lassen. […] Das Zweite ist Begegnung mit Gott, […]" "Hinter dem Alltäglich-Gegenständlichen […] gibt es das Geheimnis, das nicht Auflösbare." (S.113) Trotz dieser Annäherungsversuche sei dies aber alles noch keine Erfahrung von Gott, denn "Gott ist nicht Gegenstand einer Erfahrung", sondern diese nur "Spur des Göttlichen", die zu "weiterem Begegnen einlädt. Im Erleben der Ganzheit, der Sinnhaftigkeit, der Erfüllung, in der Atmosphäre des Heiligen tritt er uns ungegenständlich, aber bedeutungsvoll entgegen." (S.100) W.K. beschreibt Gott und Glaube auf Mystikerart: das innere Schauen und Erfahren von Geheimnissen, im Gegensatz zum externen, dinglichen und vermenschlichten Gott der Dogma-Christen. W.K.s atheistische Gottesvorstellung bezieht sich auf ein von ihm vorausgesetztes Vollkommenes, Ganzheitliches (wie es sich z.B. in der Schönheit zeige) der physischen Welt, dass sich einer oberflächlichen Betrachtung entziehe, und für ihn in diesem Sinne Geheimnis bleibt.

Das bisher Skizzierte sollte den Bezugsrahmen und einige Positionen der beiden Autoren verdeutlichen. Was leiten diese nun davon ab?

Wie unter A-theisten dem Wortsinn nach nur ein Konsens über das Abgelehnte bestehen kann, so zeigen sich auch bei den Autoren Unterschiede, sobald sie versuchen, von ihrer atheistischen Grundposition aus Konzepte zu entwerfen. An den zwei sehr verschiedenen Neudefinitionen des Gottesbegriffes (zwischenmenschliches Vertrauen oder mystisch erfahrene Vollkommenheit) dürfte dies schon sichtbar geworden sein. Beide äußern sich aber auch zur Frage, ob die den Gläubigen zugestandenen subjektiven Gotteserfahrungen in eine intersubjektive Gottesvorstellung übersetzt werden müssen, oder individuell stehen bleiben können?

K.H. hält jegliche Synchronisation dieser individuellen Gottesvorstellungen mittels einer Lehre und damit auch zu einer Religion für überflüssig. Das Gemeinsame sei nicht ein abgeglichener Gottesbegriff, sondern die geteilte Erfahrung von als "Göttlich" verstandenen, zwischenmenschlichen Vertrauen, welche aber nicht unbedingt eines konkreten Namens bedürfe. Speisen könne sich diese Gottesvorstellung aus den mythisch überlieferten Lebenserfahrungen früherer Generationen verschiedenster Religionen und müsse dann mit dem Heute in Beziehung gesetzt werden. W.K. sieht das anders, woran womöglich auch die verschiedenen konfessionellen Hintergründe erkennbar werden. Die persönlich eingefärbte mystische Erfahrung des Einzelnen bedürfe sehr wohl der Ergänzung durch andere. Die Bedeutung der Religionen bei der Einbettung persönlicher Mystik in einen kulturellen Zusammenhang sei nicht zu unterschätzen (S.43) W.K. bevorzugt es, individuelle Spiritualität zu Religion zu synchronisieren.

Bei W.K. findet sich auch ein Kapitel über christliche Lebensführung und Ethik, wobei die areligiöse Leser verblüffende Frage auftaucht: "Gibt es Ethik ohne personalen Gott?" (S.116) Die Antwort fällt etwas mystisch, dürftig aus: "Grundlage der Ethik ist die Erfahrung des Göttlichen." (S.116) Dürftig, weil den Lesern an dieser Stelle des Buches inzwischen mitgeteilt wurde, dass eine "Erfahrung des Göttlichen" nicht beschreibbar sei und es sich höchstens nur um eine "Spur des Göttlichen" handeln kann. Doch wie soll etwas nicht Beschreib-, sondern (wenn überhaupt) nur subjektiv und gefühlsmäßig Erfahrbares Grundlage einer Ethik für die Gesellschaft bilden? Hier zeigt sich deutlich, dass W.K. zwar sein Christsein als atheistisch versteht, aber sein Denken weiterhin theistischen Mustern folgt, indem er Spezielles wie die Ethik in einem imaginär vorausgesetzten (nicht beschreibbaren) Vollkommenen begründet sieht. Ganz in diesem Sinne verweist er auf E.Lévinas (1906–95), welcher "nicht müde [wird] zu schreiben, der Anruf des Menschen komme vor jeder Philosophie, vor jedem Denken." (S.117) Der Glaube rangiert für W.K. treu dem christlichen Dogma weiter vor der Vernunft. Dieser bezieht sich zwar nicht mehr auf eingebildetes Übernatürliches, wie etwa ein Wille Gottes als Grundlage sittlicher Prinzipien, aber Imaginiertes lebt bei ihm in Form eines willkürlich angenommen Vollkommenen, Ganzheitlichen der physischen Welt fort, welches nur im Glauben erfahrbar sei.