Rezension

John Stuart Mill und die Nützlichkeit der Religion

860px-john_stuart_mill_by_london_stereoscopic_company_c1870.jpg

John Stuart Mill um 1870
John Stuart Mill um 1870

Der bekannte englische Philosoph John Stuart Mill schrieb 1854 einen kritischen Essay über die Nützlichkeit der Religion, der erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Jetzt liegt erneut eine deutschsprachige Ausgabe vor, welche die Notwendigkeit einer übernatürlichen Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hinterfragt.

John Stuart Mill (1806–1873) gehört zu den bedeutendsten Philosophen in der englischsprachigen Welt. Seine bekanntesten Bücher "Über die Freiheit" (1859) und "Der Utilitarismus" (1863) gelten dort als klassische Werke. Demgegenüber ist er in Deutschland kaum bekannt, obwohl es auch einschlägige Übersetzungen gibt. Damit fand ein bedeutender liberaler Denker des 19. Jahrhunderts nicht die ihm gebührende Würdigung, erwies er sich doch als innovativer, wenn auch nicht unproblematischer Kopf.

Als aktueller Religionsphilosoph wird er durch eine weitere Schrift bekannt gemacht, da nun seine Abhandlung "Die Nützlichkeit der Religion" (1854, erschienen 1874) erneut vorliegt. Darin geht es um die gesellschaftlichen Funktionen des Glaubens, nicht um deren innere Wahrheit. Demgemäß hat man es nicht mit einer Kritik an der Religion an sich zu tun. Für Mill schien dieses Thema erledigt zu sein. Zumindest deuten dies harsche Kommentare an, schrieb er doch etwa von einer "Bestechung und Täuschung des Verstandes" (S. 9).

Cover

Genauere inhaltliche Begründungen für diese Einschätzung formulierte Mill nicht, dafür schien es ihm keine Notwendigkeit mehr in aufgeklärten Zeiten zu geben. Indessen erörterte er die Frage, ob nicht Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig sei. So bemerkte Mill: "Es ist durchaus denkbar, dass die Religion moralisch nützlich sein kann, ohne verstandesmäßig haltbar zu sein …" und daher fragte er danach, "ob der religiöse Glaube lediglich als Überzeugung und unabhängig von der Frage seiner Wahrheit verstanden, für die irdische Wohlfahrt der Menschheit tatsächlich unerlässlich ist …" (S. 11 f.). Es soll also um den "weltlichen Nutzen der Religion" (S. 14) gehen. Die darauf bezogenen Erörterungen gelten dann sowohl der individuellen wie der sozialen Sphäre. Dabei wird folgendes Ergebnis formuliert: Auch wenn in früheren Entwicklungsstadien der menschlichen Gesellschaft der übernatürliche Glaube für die soziale Moral zu Recht und Unrecht relevant gewesen sei, so könnte dies aber nicht mehr für die Gegenwart gelten, was einen Wandel nötig mache.

Dies führt ihn zu folgender Feststellung: "Das Wesen der Religion ist die starke und ernsthafte Ausrichtung unserer inneren Regungen und Wünsche auf einen idealen Gegenstand, dem die höchste Vollkommenheit zuerkannt wird und der mit Recht über allen Gegenständen unserer selbstsüchtigen Wünsche steht. Diese Bedingungen werden durch die Religion der Menschheit jedoch in ebenso hohem Maß und in ebenso hohem Sinn erfüllt wie durch die übernatürlichen Religionen selbst in ihren besten und weit besser in ihren übrigen Erscheinungsformen" (S. 48). Die Formulierung "Religion der Menschheit" spielt auf ein gleichnamiges Werk an, welches Auguste Comte erstmals 1847 veröffentlichte. Diesem hatte Mill bereits 1845 in seiner Religionskritik zugestimmt, plädierte aber angesichts öffentlicher Stimmungen eher für eine verbale Zurückhaltung. Die Auffassung mag auch erklären, warum der hier thematisierte Essay erst nach Mills Tod erschien. Denn es solle Abschied von der "Idee eines allmächtigen Schöpfers" (S. 54) genommen werden.

Für seine kritischen Argumente lieferte Mill gehaltvolle Reflexionen, die auch heute noch Gegenstand breiteren Interesses sein sollten. Seine Alternative "Religion der Menschheit" blieb indessen konzeptionell eher im Vagen. Deutlich wurde lediglich, dass sie nicht auf bloßen Glaubenslehren, sondern ethischen Grundlagen fußen sollte. Dabei würde es aber auch auf die Benennung von deren Elementen sowie ihre Legitimation ankommen. Außerdem stellt sich bezogen auf die Angemessenheit der Begriffswahl die Frage, ob denn bei der "Religion der Menschheit" von einer Religion gesprochen werden müsste. Ist dessen Essenz das Streben nach Vollkommenheit? Muss diese nicht eher im Gottesglauben und dem Übernatürlichen gesehen werden? Und wie steht es um die Bindungskraft der gemeinten "Religion der Menschheit"? Zu derartigen und anderen Erörterungen lädt Mills "Die Nützlichkeit der Religion" ein, wozu sich wichtige Hintergrundinformationen in einem ausführlicheren Nachwort finden. Es sollte indessen als Einführung gelesen werden.

John Stuart Mill, Die Nützlichkeit der Religion (1854), Ditzingen 2022, Reclam-Verlag, 106 Seiten, 6 Euro

Unterstützen Sie uns bei Steady!