Christliche Atheisten

DRESDEN. (hpd) Als ob die Welt an Paradoxien Mangel leiden würde, verblüffen Christen ab und zu mit einem öffentlichen Bekenntnis zum Atheismus. Christ und Atheist, wie soll das zusammen gehen? Eine neue Masche oder alter Hut? Etikettenschwindel oder Synthese auf höherer Ebene? An Hand von zwei aktuellen christlich-atheistischen Bekenntnisschriften soll der Frage nachgegangen werden: Was meint ein Christ, wenn er vom eigenen Atheismus redet? Welche Folgerungen werden bzw. müssten daraus gezogen werden?

2013 erschien das "Manifest eines atheistischen Pfarrers: Glauben an einen Gott, den es nicht gibt" des evangelischen Pfarrers Klaas Hendrikse aus den Niederlanden auf Deutsch. Und seit März diesen Jahres fragt sich der katholische Theologe und heutige Psychotherapeut Werner Kaiser öffentlich: "Bin ich noch Christ? Gedanken zur Situation des Christentums", und fasst seinen atheistischen Standpunkt so zusammen: "Es gibt zwar keinen Gott, […] Es gibt keinen Schöpfer, […] Es gibt keine Sanktionen in Himmel oder Hölle, […] Es gibt keinen erlösenden Jesus, […] Es gibt keinen historischen Moment der Menschwerdung Gottes, […] Es gibt keine überzeitlichen Wahrheiten, […] Es gibt keine herrliche, unfehlbare Kirche, […]" (S.159)

Nach den Kommas werden mit einem einleitenden 'aber' heutige Optionen des Christseins aufgezeigt, doch der Autor lässt alle dogmatischen Glaubensinhalte höchstens noch als Symbole eines von Menschen geschaffenen Christus-Mythos gelten. Eine neue oder gar revolutionäre Sichtweise? Mit Blick auf das über Jahrhunderte währende dogmatische Christentum - ja, wenn man jedoch nur die letzten 200 Jahre betrachtet - nein. Denn der Atheismus heutiger Christen beruht vor allem auf den Erkenntnissen von Aufklärung betreibenden Philosophen sowie liberalen und radikalen Bibelkritikern. Bereits Jahrzehnte bevor Nietzsche unter eigenem Unbehagen Gottes Tod diagnostizierte, schrieb der junge Hegel 1803 vom "unendlichen Schmerz" als einem Gefühl, "worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist tot". (1)

Derartige Befunde von Philosophen wurden von Forschungen kritischer Theologen begleitet, welche die kirchlich-dogmatischen Ansichten über die Bibel mit Hilfe der Wissenschaft auseinanderpflückten. Besonders von den Radikalen unter diesen dürften entscheidende Impulse für den atheistisch grundierten Mythos-Glauben heutiger Christen ausgegangen sein. Denn im Unterschied zu den liberalen Theologen, welche trotz aller Bibelkritik immer noch an einem göttlichen Kern der Bibel und einem historischen einer Person Jesus festhielten, zogen die radikalen Bibelkritiker beginnend mit Bruno Bauer (1809–82) bis zu Hermann Detering heute den Schluss: Das Christentum verkörpert nicht mehr als einen Mythos, welcher aus den verschiedenen philosophischen und religiösen Strömungen der Spätantike gesponnen und von seinen Anhängern rückwirkend in die Vergangenheit historisiert wurde, um ihn glaubhafter zu machen. Vergleichbar einer Bühnenhandlung, der durch Einbettung in eine historisierende Theaterkulisse eine größere Wirkung auf die Zuschauer verliehen werden soll.

In diesem Sinne schreibt auch W.K.: "Der Christus-Mythos kann weiterhin erzählt werden, jedoch im Wissen, dass er ein Mythos ist." (S.59) In dieser Aussage zeigt sich nichts Geringeres als die seit der Aufklärung fortschreitende Säkularisierung des christlichen Topos, der seit einigen Jahrzehnten nun sogar einen Teil der Christen selbst erfasst hat. Allerdings ist W.K kein Radikaler, denn er hält an einem historischen Jesus fest, so wie auch viele Schweizer bis weit ins 19. Jh. Wilhelm Tell für einen historischen Freiheitskämpfer und Nationalhelden hielten, bevor Historiker eine Schrift aus dem 15. Jh. als maßgebliche Quelle der Sage und des nationalen Mythos nachgewiesen haben.

Für seine atheistische Grundposition verweist W.K. in seinem Buch u.a. auf L.Feuerbach, F.Nietzsche, E.Husserl, D.Bonhoeffer, K.Rahner, D.Sölle, P.Tillich, E.Drewermann, K.Jasper, L.Wittgenstein, E.Lévinas (letztere drei werden ausführlicher behandelt). Seine von diesen abgeleiteten Ausführungen entsprechen einer schon länger bestehenden theologischen Richtung, die in den 1940er Jahren von D.Bonhoeffer als religionsloses Christentum und in den 1960er Jahren von Vertretern der säkularen, sogenannten "Gott-Ist-Tot-Theologie" entwickelt worden war. Einer ihrer Vertreter, John A.T. Robinson schrieb 1964 in seinem Buch "Gott ist anders": "Wenn nun tatsächlich der Atheismus einen erdachten Gott beseitigt und wir ohne einen Gott ‘außerhalb der Welt’ auskommen können und sogar müssen? Haben wir uns schon einmal klargemacht, daß die Abschaffung eines solchen göttlichen Wesens in Zukunft der einzige Weg sein könnte, dem christlichen Glauben Sinn und Bedeutung zu erhalten?" Wenn schon der metaphysische Gott nicht zu retten ist, soll aber wenigstens das Bedürfnis auf christliche Art zu glauben nicht darunter leiden. Es geht also um das weitere Ermöglichen religiöser Praxis sowie der Propagierung ethischer Wertvorstellungen, aber eben unabhängig vom kirchlichen Dogma eines personalen Gottes, wie es in den christlichen Glaubensbekenntnissen in erstarrte Form gegossen ist. Denn für immer mehr Christen scheint der Inhalt dieser Bekenntnisse wegen seiner eklatanten Widersprüche zum sonstigen heutigen, aufgeklärten Denken eine intellektuelle Zumutung darzustellen.

W.K. und Klaas Hendrikse versuchen deshalb in Anknüpfung an die Gott-Ist-Tot-Theologie, welche Parallelen zum Pantheismus aufweist, christlichen Glauben für die Gegenwart rundzuerneuern: Dinglich Metaphysisches wird komplett gestrichen, Bibeltexte werden als Produkte ihrer Zeit gesehen, zentrale christliche Glaubensinhalte umdefiniert, oder meist gleich ganz auf einen Symbolgehalt reduziert. Durch das Aufgeben sämtlicher metaphysischer Annahmen, wie der eines personalen Gottes und einer göttlichen Offenbarung in Form der Bibel, verliert auch atheistische Kritik ihren Gegenstand. Aber für was steht dann noch der Begriff "Gott"?