Ethik jenseits solch theologischer Begründung bedient sich dagegen seit der Antike des Prinzips der Vernunft, mittels dessen theoretischer Reflexion allgemeingültige Normen und Werte für die Gesellschaft formuliert werden können, die keiner Legitimation durch Tradition und Konvention mehr bedürfen. Dem entgegen versucht der Autor an Beispielen spontanen ethischen Handelns speziell in Lebensrettungssituationen zu zeigen, dass Menschen für ihr ethisches Handeln keines vernunftmäßigen Nachdenkens, sondern nur eines "Impulses" bedürften. Entsprechend wird E.Lévinas das Wort gegeben: "Ethik lässt sich nicht logisch begründen. Es gibt keinen logischen Grund, ethisch zu leben. Es gibt ganz einfach den Impuls, ethisch zu handeln." (S.118 ) Damit wird jedoch nur der Aspekt spontanen, empathischen Handelns im Bereich der Individualethik erfasst. Ethische Fragestellungen aber, die über spontane Empathie hinausführen, wie die gesamte Sozialethik, lassen sich nicht mit "Impulsen" beantworten, da es bei diesen Fragen vor allem um eine rationale Folgenabschätzung des Handelns geht. Trotz seines Atheismus positioniert sich W.K. als dogmatreuer Glaubensethiker, der in der Schrift "Autonome Moral und christlicher Glaube" von Alfons Auer (1915–2005) keine gedankliche Anregung gefunden zu haben scheint.
Weiter beschäftigt sich W.K. auch mit kircheninternen Detailfragen, ob z.B. Mitgliedern der Kirchenchöre Interpretationshilfen für die kaum mehr nachvollziehbaren sakralen Liedtexte zur Hand gegeben werden sollten (ein vielsagender Umstand!), doch welche tiefgehenden Konsequenzen seine atheistische Position für die Großkirchen bedeuten würden, darüber verliert er und K.H. kein Wort. Dabei drängen sich naheliegende Fragen geradezu auf, denn in den Ohren von Klerikern müssen sich die Ansichten beider Autoren wie eine Degradierung göttlicher Offenbarung zu psychotherapeutischer Lebensberatung anhören: Ein Christus-Mythos als Lebenshilfe anstelle göttlichen Heilsgeschehens? Die Kirche nur eine Lebensberatungsstelle mit Priestern als mythologisierende Psychotherapeuten? Der Papst nur oberster Verwalter und Deuter eines Mythos? Wessen Stellvertreter wäre er dann eigentlich? Und vor allem: Was wird aus den weltpolitischen Machtansprüchen der Kirchen, die sie aus diesem Stellvertreteranspruch ableiten?
Die Konsequenzen konkret für Deutschland formuliert hießen: Milliardenschwere staatliche Zuwendungen für die Verehrer eines Mythos? Mindestens 1,6 Mrd. Euro Steuergelder für Mythologie-Unterricht an Schulen, sowie rund 280 Mio. Euro für mythologische Lehrstühle an Universitäten? Ein mit einem Mythos gerechtfertigtes kirchliches Sonderarbeitsrecht? Über 30 Mio. Euro vom Staat für Mythos-Beratungen in der Militär-, Polizei- und Gefängnisseelsorge? Staatlich verordnete Vergnügungsverbote an mythologischen Feiertagen? Diese Fragen dürften klar verdeutlichen, was einem mythisch-symbolischen Christus-Verständnis innerhalb der Kirchen hauptsächlich entgegensteht: die Macht- und Privilegienansprüche der Kirchen, für deren Untermauerung das dogmatische, theistische Gottesbild unaufgebbare Voraussetzung ist und deshalb aufrechterhalten werden muss.
Völlig unbehelligt von diesem offensichtlichen Dilemma ist W.K. im Abschnitt "Die Kirchen und der Christus-Mythos" davon überzeugt, dass es "eine der großen Aufgabe der Kirchen" sein wird, "verständlich zu machen, dass der Wert der Mythen nicht in ihrer historischen Tatsächlichkeit liegt, sondern in der Botschaft, die sie in sich tragen." Kein Wort über den Zusammenhang von Machtanspruch und Gottesbild. Ob es sich hier um Naivität, Unvermögen einer Problemerkennung oder einfach Illusion wider besseren Wissens handelt, muss offenbleiben.
Ein Christus-Mythos widerspricht darüber hinaus auch diametral dem Selbstverständnis der Kirchen und der Mehrzahl ihrer Mitglieder. Zwar teilen immerhin rund 20 Prozent aller Christen in Deutschland die atheistische Grundposition der hier besprochenen Autoren, indem sie nicht an einen personalen Gott oder eine höhere Macht glauben (29,4 Prozent der ev., 11,7 Prozent der kath. Kirchenmitglieder), doch rund 75 Prozent der Gläubigen (dieser Anteil dürfte in anderen Regionen der Welt noch höher liegen), sehen immer noch einen personalen Gott (46 Prozent), oder eine höhere Macht (29 Prozent) als Realität an. Für atheistische Christen bleibt in den Großkirchen nur ein Leben inkognito, unter Aufsagen von Bekenntnissen und Gebeten wider der eigenen Überzeugungen (was übrigens auch auf viele Kleriker zutrifft), oder der Schritt ins Private, abseits der gewohnten Gemeinde und sakralen Kulisse.
Die Eingangsfrage nach den Folgerungen christlichen Atheismus kann aus den beiden Büchern u.a. so beantwortet werden: Christlicher Glaube mit atheistischer Grundposition stellt den Gläubigen in den Mittelpunkt und gesteht ihm eine, von Dogmen befreite, individuellen Glauben zu. Glauben heißt hier "Erfahrung des Göttlichen" ohne Rückgriff auf Übernatürliches. Allerdings bedeutet dies nicht den Verzicht auf Imaginiertes wie Vollkommenheit, Ganzheit o.ä.. Auf diese eingebildete, subjektiv konstruierte Kategorie des Vollkommenen ("Göttlichen") werden frühere theistische Denkmuster übertragen und ausgerichtet. Diese Kategorie des Vollkommenen bleibt für die Vernunft unzugänglich, wie es schon der aufgegebene personale Gott war. Auch der Christ als Atheist grenzt sich mit altbekannter Ignoranz, Fehlschlüssen und Selbstimmunisierung überall dort von der Wissenschaft ab, wo er sein religiöses Bedürfnis pflegen will.
Gegenstand dieser Religiosität ist nicht mehr Übernatürliches, sondern eine spekulativ gedachte Vollkommenheit der physischen Welt, oder soziale Beziehungen. Mit profanen Worten könnte dieser Glaube als sinnlich-künstlerische Weltbetrachtung auf der Suche nach der Schönheit beschrieben werden, die der christlich-atheistische Mystiker durch innere Versenkung weiter vertiefen will. Wie am Beispiel der Ethikbegründung W.K.s gezeigt, wird dieses zwar nicht mehr metaphysisch postulierte, sondern nur subjektivistisch imaginierte Vollkommene ("Göttliche"), aber weiterhin als Referenzpunkt für Letztbegründungen in Anspruch genommen, von dem Absolutheitsansprüche in Opposition zu vernunftmäßigen Denken und Handeln abgeleitet werden. Atheistische Kritik greift hier allerdings nicht mehr. Hier muss wie gegenüber allen Menschen der rationale Diskurs eingefordert werden. Subjektiv Imaginiertes, ganz gleich ob auf metaphysischer oder atheistischer Basis, ist zurückzuweisen, sobald daraus Verhaltensnormen für die Gesellschaft abgeleitet werden sollen.
Von diesem "Göttlichen" Aspekt ist der säkulare Christus-Mythos zu trennen. Die erdichtete, legendäre Christus-Figur steht als Symbol für die Überwindung von Leid und Niederlage und kann in erster Linie als psychologische Lebenshilfe für schwierige Lebenslagen, oder beim Engagement für eine bessere Welt verstanden werden. Der wiederum von diesem Christus zu trennende (behauptete) historische Jesus fungiert dagegen als menschlicher Verkünder der christlichen Liebesethik. Jesus-Figur und das "Göttliche", Vollkommene überschneiden sich erst in dem Moment, wenn W.K. in mystischer Schau glaubt, die christliche Ethik eines Jesus dem Vollkommenen zuordnen zu können ("Grundlage der Ethik ist die Erfahrung des Göttlichen"). In diesem Fall mag zwar sein Glaube von einer atheistischen Position ausgehen, sein Denken jedoch nicht von der Vernunft.
Werner Kaiser: "Bin ich noch Christ? Gedanken zur Situation des Christentums"; Books on Demand (10. März 2015); 180 Seiten; 9,99 Euro; ISBN–10: 3734762790
"Glauben an einen Gott, den es nicht gibt - Manifest eines atheistischen Pfarrers"; TVZ Theologischer Verlag Zürich (15. Februar 2013); 194 Seiten; 22,80 Euro; ISBN–10: 3290176630
(1) Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1803)
5 Kommentare
Kommentare
pavlovic am Permanenter Link
Ich begrüße Vorstösse den eigenen Glauben nüchtern zu relativieren. Hoffentlich bringt es die Ungezwungenheit und den Pragmatismus hervor auch die "heiligen" Texte selbst zu ändern.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Vielen Dank lieber Herr Mattheß für diese fundierte Buchbesprechung.
"Gott wirkt nicht", sagte einst ein evangelisch-methodistischer Theologe zu mir. Trotzdem glaubte er weiter an einen wie auch immer gearteten Gott. Der Erzbischof von Canterbury verkündete jüngst in einem Interview, er glaube nicht mehr an Gott, hielte sich deswegen an Jesus.
Die Gretchenfrage ist doch: Wie rechtfertigen diese Theologen, dass sie weiterhin von ihren Gemeindemitgliedern alimentiert werden? Wenn ein Gemeindevorsteher von zehn Mitgliedern jeweils 10% deren Einkommens erhielte, dann hätte er 10% mehr Einkommen als seine Schäfchen. Und ab zwölf Jüngern beginnt der Luxus. Tebartz konnte auf viel mehr Gläubige bauen!
Deshalb entsteht hier ein Erklärungsnotstand. An sich gesunde Gemeindemitglieder (und in Geiselhaft genommen die gesamte Gesellschaft) müssen für amateurhafte Lebenshilfe Teile ihres Einkommens abgeben. Wer dies für sinnvoll hält, soll es tun. Die Menschen geben teilweise für größeren Blödsinn Geld aus. Aber nicht durch Einzug der Mitgliederbeiträge mittels staatlicher Hilfe und schon gar nicht mit unfreiwilliger Unterstützung durch Nichtmitglieder.
Allerdings wissen Kirchen genau, dass eine strikte Trennung von Staat und Kirche das Ende ihrer Alimentierung bedeuten würde und sie sich sinnvolle Jobs suchen müssten. Und wer will das angenehme Leben als Geistlicher schon aufgeben?
Der Durchschnittsgläubige erwartet, dass zumindest der Pfarrer an Jesus glaubt. Die im Artikel angesprochenen Kirchenlieder, die alle Kirchgänger so gerne singen, würden andernfalls als inhaltsleer und falsch entlarvt. Gott kann nur dann "eine feste Burg" (Luther) sein, wenn es Gott gibt, der mehr ist, als ein Stimulus, sondern einer, der auch eine feste Burg sein will. Das Glaubenskonstrukt "Christentum" ist ein in sich geschlossenes Paralleluniversum, das beim Entfernen einzelner Bausteine krachend in sich zusammenstürzen würde. Ein behutsamer Rückbau, den offensichtlich die beiden vorgestellten Autoren im Sinn haben, kann nicht erfolgreich sein. Schließlich stellen die von ihnen angesprochenen Fragen das Fundament und nicht bloß einige Zinnen der "festen Burg" dar.
Und - weitergefragt - was hätte das für Konsequenzen für andere Religionen? Man stelle sich vor, der Papst würde diese pseudoatheistische Position der Autoren übernehmen und öffentlich verkünden: "Gott gibt es gar nicht, es ist ein Mythos, der uns aber im Leben helfen soll!" Dies ist der Gott Abrahams! Juden und Muslime müssten sich erheblich auf Schlips oder Kaftan getreten fühlen, wenn die Christen Nietzsches Gedankengut übernähmen und Gott für tot erklärten.
Natürlich geht es auch mit Religion auf dieser globalisierten Welt nicht weiter. Der Jude wird innerlich nie akzeptieren, dass der Christ "seinen" Messias für sich beansprucht, der Moslem wird die Gottessohnschaft Jesu nie akzeptieren und Jude und Christ werden nie akzeptieren, dass der Moslem die aktuellste Ausgabe des göttlichen Wortes für sich beansprucht. Die wechselseitige Anerkennung dieser Basics würde die eigene Position der Lächerlichkeit preisgeben und die Millionen Toten der Religionskriege noch sinnloser erscheinen lassen, als sie es sowieso sind.
Deshalb bleibt natürlich nur der radikale Schnitt, den alle menschlichen Gesellschaften eines Tages durchführen müssen, nämlich auf jegliche Form von Glauben zu verzichten. Er mag in Form privater Vereine weiterleben, aber auch dort müsste ein verantwortungsbewusster Staat sein wachsames Auge haben, um zu verhindern, dass z.B. Kinder oder auch Erwachsene innerhalb der Vereine zu Schaden kommen (z.B. durch Initialisierungsriten gegen den Wunsch der Betroffenen).
Spätestens nach zwei Generationen würde die Anziehungskraft solcher Vereine merklich nachlassen, wenn sie nicht durch staatliche Maßnahmen oder mediales Interesse künstlich aufgewertet werden. Allerdings bin ich skeptisch, dass sich Politik in absehbarer Zeit dazu durchringen kann, der Vernunft eine Chance zu geben.
David am Permanenter Link
"Eine neue oder gar revolutionäre Sichtweise?"
Ja und nein. Es scheint mir im Grunde lediglich die ausgesprochene Sichtweise zu sein, die vermutlich ein sehr großer Teil der Christen inkl. so manchem Kleriker teilen, die sie sich aber selbst nicht eingestehen wollen geschweige denn aussprechen.
Joachim Datko am Permanenter Link
Es ist einfach: Es gibt keinen Gott! Die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam haben sich eine Luftblase paniert, die ihre Gottesvorstellung ist.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"... haben sich eine Luftblase paniert ..."
Wenn das kein gesegnetes Wunder ist!