"Selbstbestimmung" und Sektenverhalten

Das Kopftuch der Lehrerin

Zudem ist die langjährige Lobbyarbeit des konservativen Islam nicht ohne Folgen geblieben: als Islam wird nur noch die orthodox-konservative Variante zur Kenntnis genommen. Zum "Kennenlernen" verschiedener Glaubensvorstellungen innerhalb des Schulunterrichts weist das Minderheitsvotum völlig zu Recht, wenn auch sehr zurückhaltend, auf eine potentiell repressive Seite hin: "Eine wirklich offene Diskussion über die Befolgung religiöser Bekleidungsregeln und –praktiken wird, wenn Lehrpersonen persönlich betroffen sind, in dem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis der Schule allenfalls begrenzt möglich sein." In der Tat, welche Schüler und Eltern wollen es sich schon dauerhaft mit einer Lehrerin verscherzen, deren Bewertungen versetzungsrelevant sind?

Wissen die Bundesverfassungsrichter überhaupt, wie es in Schulen zugeht?

Lale Akgün
Lale Akgün

Diese Frage hat nach Bekanntwerden der BVerfG-Entscheidung die liberale Muslimin Lale Akgün (SPD) gestellt. Sie hält – entgegen manch anderem Kommentar – weniger den Schulfrieden gestört; sie weist in einem Gespräch mit domradio auf eine wesentlich katastrophalere Entwicklungsmöglichkeit hin: "Die (kopftuchtragenden) Lehrerinnen werden vor allem dort eingesetzt, wo es ganz viele Migrantenkinder gibt und da wird niemand dagegen klagen, im Gegenteil: Diese Lehrerinnen sagen ja im Prinzip den Mädchen: Tragt auch ein Kopftuch! Und die werden das befolgen. Ich sehe keine Fülle von Klagen auf uns zukommen, sondern eine Verfestigung der Parallelgesellschaft. Und das finde ich sehr, sehr gefährlich." Dies sei ein schlechtes Zeichen für die Integration, denn aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts werde das Gefälle zwischen Stadtteilen verstärkt, "wo es solche Schulen gibt und Lehrerinnen mit Kopftuch arbeiten, und Schulen, wo solche Kopftuch-Lehrerinnen gar nicht erst anfangen werden, weil sie sich vorstellen können, dass das dort nicht erwünscht ist. Wollen wir eine zweigeteilte Gesellschaft – ich glaube, wir wollen sie nicht. Aber solche Urteile arbeiten genau darauf zu."

Die „offene“ Gesellschaft hat muslimische Mädchen bereits aufgegeben

Necla Kelek
Necla Kelek

Die Autorin Necla Kelek bezweifelt, dass die Bundesverfassungsrichter (Mehrheitsvotum) überhaupt die Umstände kennen, unter denen Mädchen in konservativ-muslimischer Umgebung leben – von "gated communties" spricht sie, in denen die jungen Mädchen und Frauen ihren Vätern, Brüdern, Onkeln, Cousins, Müttern und Tanten gehorchen müssen. Sie stehen unter dauernder Kontrolle und Bewachung und werden so früh wie möglich verheiratet. Kelek sagt: "Ihre Community grenzt sich von europäischen Werten wie der Gleichberechtigung der Frauen ab. All diese Mädchen wollen eine Ausbildung machen, selbständig sein, ihr eigenes Leben leben. Sie können es nicht, weil unsere ‘offene’ Gesellschaft sie aufgegeben hat, ihnen keinen Ausweg bietet, die Abgrenzung als Vielfalt feiert."

Diese Abgrenzung solle nun auch noch in die Schule einziehen, einem Ort, wo sie bislang nicht vollständig funktioniere: "Ausgerechnet in die Schule, den letzten Ort, wo sie etwas von Freiheit und Selbstbestimmung erfahren können. Der Einzug des Kopftuches in die Schule ist wie eine Bestätigung ihres bisherigen Lebens in der Familie, das dem Modell einer islamisch-geprägten Gesellschaft folgt", so Necla Kelek.

Eine Frau, die das Kopftuch ablegt, ist vom Teufel besessen

Emel Zeynelabidin
Emel Zeynelabidin

Schlimme Erfahrungen hat Emel Zeynelabidin machen müssen, als sie nach jahrzehntelangem Kopftuchtragen – bereits seit ihrer Kindheit – dann das Kopftuch ablegte: ihre Familie schickte sie zu einem Teufelsaustreiber, ihre Mutter fand ihr Verhalten "schamlos", ihr Mann war "traurig, weil er an die Strafen Gottes dachte, die auf mich warten würden." Und die meisten Menschen ihrer früheren islamischen Gemeinde brachen den Kontakt zu ihr ab. Zeynelabidins Berichte vom Ablegen des Kopftuches und dessen Folgen auf die bisherige religiöse Gemeinschaft ähneln stark Aussteigerberichten von Ex-Scientologen, Evangelikalen, Zeugen Jehovas, aus der Neuapostolischen Kirche, kurz aus Vereinigungen, denen man nachsagt "Sekte" zu sein: Verlust sozialer Kontakte, Ausgrenzung, Abwertung.

Diese Gesichtspunkte müssen, wenn es um eine Diskussion über "den Islam" in Deutschland geht, wenn über Kopftücher in der Schule diskutiert wird, endlich in die Diskussion: sollen sektenähnliche Vereinigungen mit staatlicher Hilfe unterstützt, subventioniert, und auch noch mit der Betreuung von Jugendlichen beauftragt werden? Die Gretchenfrage ist: würde die Politik ähnlich an Evangelikale herantreten?

Emel Zeynelabidin nennt die Gefahren, die vom BVerfG-Urteil ausgeht, deutlich beim Namen: "Verhüllte Lehrerinnen könnten ihren Schülern vermitteln, dass sie mit ihrer Bekleidung religiöse und moralische Werte verkörpern, die außer Frage stehen. Das aber spaltet die Gruppe der Schülerinnen in 'gute' und 'schlechte' Mädchen. Diese Werturteile setzen nicht verhüllte Mädchen unter Druck." Und sie rät: "Die Schulleiter sollten sich diejenigen, die sie einstellen, sehr genau anschauen."

Zeynelabdin weiß aufgrund langjähriger Sozialisation und religiöser Tätigkeit im Umfeld von Milli Görüs so gut wie kaum jemand anderes, wie es im Innenleben traditioneller und fundamentalistischer islamischer Gruppen aussieht. Darüber berichtet sie, dass bei konservativen Muslimen eine Frau mit Kopftuch immer noch die "bessere Gläubige" sei, dass dort ein auf Rituale und Äußerlichkeiten orientiertes Verhalten als "gottgefälliger" bewertet werde als ein empathisches Miteinander mit Menschen unterschiedlicher Auffassungen, dass das dort herrschende Religionsverständnis, das mit Sünde und Strafe, mit dem Teufel und der Hölle operiert, ein trennendes Menschenbild transportiert.

Lehrerin mit Kopftuch: "Positives Rollenmodell für Mädchen"

Nicht verwunderlich ist, dass der Vorsitzende des Islamrats für Deutschland, Ali Kizilkaya, das BVerfG-Urteil uneingeschränkt begrüßt und "eine Kopftuch tragende Lehrerin als 'positives Rollenmodell für muslimische Mädchen' bezeichnet" hat. Bisweilen lässt man dann doch einmal die Katze aus dem Sack: eine kopftuchtragende Muslimin ist positivbesetzt, ein Vorbild! Was mit denjenigen ist, die kein Kopftuch tragen, sagt der Verbandsfunktionär nicht, aber man kann es erahnen … Um diese Musliminnen, die Mehrheit, geht es dem Islamrat denn auch gar nicht. Kizilkaya will bundesweit hunderten muslimischer Frauen die Chance verschaffen, Religionslehrerinnen zu werden, jetzt, wo Kopftücher nicht mehr generell gesetzlich für Lehrerinnen verboten werden dürfen. Religionslehrerinnen für einen Religionsunterricht, der vom Islamrat und anderen konservativ-orthodoxen Islamverbänden inhaltlich bestimmt wird und dessen personelle Besetzung die Orthodox-Konservativen monopolisieren wollen (mit guten Aussichten, was die Unterstützung aus der Politik zeigt).

Dass Kizilkaya dabei nur kopftuchtragende Frauen im Blickfeld hat, versteht sich von seiner Interessenlage her durchaus. Wahrscheinlich wollen und sollen die anderen Musliminnen (die ohne Kopftuch, die nicht ideologisch auf traditioneller "Linie" sind) beim Religionsunterricht nicht mitmachen. Vermutlich werden sie mit einem Islamverbandsinternen Berufsverbot belegt, wenn sie kein Kopftuch tragen. Der Staat macht dabei mit. Im 21. Jahrhundert.

 


Das 2. Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27.01.2015 (Minderheitsvotum nach Absatz 160)

Wer von Lale Akgün und Emel Zeynelabidin mehr über deren Positionen zum Islam in Deutschland hören und darüber mit ihnen diskutieren möchte, kann dies auf einer Veranstaltung der Säkularen Grünen am 24. April 2015 in Berlin tun.