"Selbstbestimmung" und Sektenverhalten

Das Kopftuch der Lehrerin

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BERLIN. (hpd) Jüngst hat der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein generelles gesetzliches Kopftuchverbot für Lehrerinnen während des Schulunterrichts für verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt halten. Damit hat er sich in Widerspruch gesetzt zu einer Entscheidung des 2. BVerfG-Senats aus dem Jahr 2003. Offenbar hat der 1. Senat gemeint, dem vermeintlichen Zeitgeist Rechnung zu tragen, der anscheinend nach einer Kopftuchfreiheit für Lehrerinnen verlangt.

Abgehandelt wird das Thema aber stets ausschließlich als Angelegenheit des "Selbstbestimmungsrechts" muslimischer Frauen. Dabei handelt es sich bei den Kopftuchträgerinnen nur um eine Minderheit unter muslimischen Frauen, die es jedoch mit Rückendeckung der konservativ-orthodoxen Islamverbände und viel rhetorischem Trommelfeuer geschafft hat, kopftuchtragende Muslimminnen als "die" Musliminnen medial zu vermarkten. Was bei aller Berichterstattung aber fast völlig fehlt: die psychische Gewalt zu thematisieren, die in konservativen islamischen Milieus auf junge Mädchen und Frauen, mittlerweile sogar schon auf Erstklässlerinnen ausgeübt wird, um sie zum Tragen eines religiösen Kopftuches zu pressen. Mit dieser tatsächlich komplexen Problematik der Materie hat sich das höchste deutsche Gericht ganz offensichtlich nicht hinreichend befasst.

Zu beobachten ist die Durchsetzung einer traditionell-konservativen Auffassung des Islam, mithilfe der Politik, insbesondere von differenzierungsunfähigen und -unwilligen Multikulturalisten, jetzt auch mit Schützenhilfe des Bundesverfassungsgerichts: Beträume in Schulen, Freistellungen von Klassenfahrten und vom Schwimmunterricht, und immer wieder das Kopftuch. Dabei bleibt unbeachtet: Zwei Drittel der muslimischen Frauen und Mädchen in Deutschland tragen keineswegs Kopftuch. Mittlerweile drängt sich die Frage auf: werden die Nichtkopftuchträgerinnen überhaupt noch als "richtige" Musliminnen wahrgenommen? Werden sie sich bald gegenüber den konservativen Hardlinern und Sektierern, den Inquisitoren der reinen Lehre, für ihre "Freizügigkeit" rechtfertigen müssen, werden sie als Musliminnen religiös ausgegrenzt, der Häresie bezichtigt?

Seit mehreren Jahrzehnten agitiert eine kleine, aber lautstarke, zum Teil aus dem islamischen Ausland (Türkei und Saudi-Arabien) finanzierte und gesteuerte Lobby in Islam-Verbänden für eine immer stärkere Berücksichtigung ihrer (traditionellen) religiösen Rituale und Kleidungen im Alltag, darunter auch in der Schule. Der traditionell-konservative Islam – eine Minderheitserscheinung unter den MusliminInnen in Deutschland – soll "den Islam" verkörpern, mit vielen Sonderrechten, die medial wirkungsvoll reklamiert werden, für die sich zugehörig Zählenden. Sonderrechte aber bedeuten Abgrenzung von der Gesellschaft, Ausgrenzung aller Anderslebenden, und orientieren auf eine gespaltene Gesellschaft. Wo fängt es mit den Sonderrechten an, und wo soll es aufhören?

Entscheiden konservative islamische Lehrerinnen bald über Versetzung und Schulabschluss?

Bereits in dem Minderheitsvotum zweier Bundesverfassungsrichter zum aktuellen Kopftuchurteil wird deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Mehrheitsmeinung des Gerichts in der Entscheidung vom 27. Januar 2015 mehreres vernachlässigt hat: die Bedeutung des staatlichen Erziehungsauftrages (der unter Wahrung der Pflicht zur weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist), den Schutz des elterlichen Erziehungsrechts und, dieser Gesichtspunkt ist von erheblicher Bedeutung, die negative Glaubensfreiheit der Schüler. Bei dem Schüler-Lehrer-Verhältnis handele es sich, so das Minderheitsvotum, um ein spezifisches Abhängigkeitsverhältnis, dem sich die Schüler nicht entziehen könnten. Sie hätten somit keine Möglichkeit, den Lehrerinnen und deren Positionen aus dem Weg zu gehen, Weigerungen, am Unterricht mit Lehrerinnen teilzunehmen, die für jeden erkennbar anhand ihrer Kleidung ihre religiöse Gesinnung demonstrierten, könnten sogar schulrechtlich sanktioniert werden. Das besondere Abhängigkeitsverhältnis zeige sich auch darin, dass diese Lehrerinnen über Versetzung und erfolgreichen Schulabschluss mitentscheiden könnten.

Der Autor: Walter Otte (Foto: © Evelin Frerk)
Der Autor: Walter Otte (Foto: © Evelin Frerk)

Da die Lehrerinnen nicht nur Islamunterricht, sondern auch andere versetzungsrelevante Fächer unterrichten sollen, steht die begründete Befürchtung im Raum, dass in einer säkularen Gesellschaft bald religiös stockkonservative Lehrerinnen über Versetzungen und Schulabschluss mitentscheiden werden. Wie sich dies auf SchülerInnen auswirken wird, die sich an einem emanzipatorischen Frauenbild orientieren, auf einen sexuell freizügigen Umgang schon vor der Ehe, die gleichgeschlechtlich orientiert sind, die die Evolutionslehre für relevant halten und dergleichen mehr, kann man sich lebhaft ausmalen. Soll eine solche Entwicklung wirklich eingeschlagen werden? Noch wird in der Politik unter dem Deckmantel einer "Willkommenskultur" alles an Bedenklichem unter den Teppich gekehrt, Realität ausgeblendet, weggeschaut. (Nebenbei - nicht nur hinsichtlich Muslimen gilt: Kinder, die einem geistigem Erziehungsdiktat ausgesetzt sind, genießen in Deutschland keinen Schutz, sie haben keine Lobby, um sie kümmert sich niemand, sie werden nicht einmal als schützenswert wahrgenommen.)

Das Minderheitsvotum der Bundesverfassungsrichter weist darauf hin, dass das Lehrpersonal erzieherisch wirken solle, dass Lehrerinnen somit eine Vorbildfunktion zukomme und warnt, dass von religiösen Bekundungen durch das Tragen religiös konnotierter Bekleidung eine appellative, die Schüler beeinflussende, Wirkung ausgehen könne. Das Verhalten der Lehrerinnen, aber auch die Befolgung bestimmter religiöser Bekleidungsregeln trifft in der Schule auf Kinder und Jugendliche, die in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und die Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen müssen, und daher auch einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind“. Die Überlegungen des Minderheitsvotums sind eine andere, eine realitätsgerechte Betrachtungsweise, anders als das Propagandagerede aus der Politik, wonach es "nicht schaden" könne, dass „Schülerinnen und Schüler (mit kopftuchtragenden Lehrerinnen) verschiedene Lebensentwürfe und Glaubensvorstellungen kennenlernen“, wie es etwa der Bundestagsabgeordnete Volker Beck zu veröffentlichen wusste. Derartige Realitätsverweigerung ist in der Politik weit verbreitet, müsste man sonst doch die ideologischen Scheuklappen ablegen. Das ist bekanntlich nicht einfach.