Ralph Ghadban: Überlegungen zur Verteidigung der offenen Gesellschaft

Der Multikulturalismus am Ende? (1)

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BERLIN. (hpd) Die Massaker von Paris und Kopenhagen ebenso wie die Versuche rechtspopulistischer und islamophober Kreise (u.a. Le Pen in Frankreich, Wilders in den Niederlanden, Pegida in Deutschland), diese Vorgänge für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, werfen die drängende Frage nach dem richtigen, dem notwendigen Vorgehen zur Verteidigung einer offenen Gesellschaft auf.

Auf deren fundamentale Werte zielten die feigen Mordanschläge: auf die Freiheit (nicht nur der Meinungsäußerung, der Presse, der Satire) und die öffentliche kritische Auseinandersetzung. Bedroht ist die offene Gesellschaft aber auch durch die Entwicklung von Parallelgesellschaften, in denen die Werte der Aufklärung, die Menschenrechte keine oder allenfalls eine marginale, auch instrumentalisierte Bedeutung haben.

Der Berliner Politik- und Islamwissenschaftler Ralph Ghadban beschäftigt sich in einer Exklusivstellungnahme für den hpd mit dieser Problematik. Er warnt vor einer Politik des Multikulturalismus, die „universelle Wertmaßstäbe“ leugnet, die die Gleichwertigkeit verschiedener Kulturen und Lebensweise behauptet, auch wenn diese die Menschenrechte verachten und die Demokratie nicht akzeptieren. (W.O.)

(Die Zwischenüberschriften im folgenden Text stammen von der Redaktion)

 


 

Der Multikulturalismus am Ende?

"Ich verzeihe der Linken nicht, den Laizismus den Rechtsradikalen überlassen zu haben", sagte die Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter in einer Veröffentlichung der Zeitschrift Marianne, erschienen anlässlich der Terroranschläge auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt im Januar 2015 in Paris. Aus Schuldgefühlen wegen der Kolonialzeit, meinte sie weiter, haben die Sozialisten immer mehr den Kommunitarismus der Migranten anstatt einer Politik der Assimilation begünstigt. Alle kulturellen und religiösen rituellen Handlungen wurden respektabel und müssten, egal wie fundamentalistisch sie seien, respektiert werden. Wer sie kritisiert, wurde als islamophob abgestempelt. Die Akzeptanz dieses irrsinnigen Begriffs, der einen antimuslimischen Rassismus kennzeichnen soll, sprengte das Prinzip des Laizismus: Die Religionskritik wurde zu einer Straftat, viele Sozialisten wurden eingeschüchtert und hielten sich mit ihrer Kritik zurück, sie schwiegen. Der Laizist wurde zum Islamophoben. So konnte Marine Le Pen, die Anführerin des rechtsradikalen Front National, sich zur Hüterin des Laizismus aufschwingen.

Mit dem ersten Kopftuchvorfall vom 4. Oktober 1989 stand der Laizismus in Frankreich wieder einmal in der Öffentlichkeit zur Debatte, diesmal aber nicht in seiner Auseinandersetzung mit den privaten religiösen Schulen, sondern zum ersten Mal mit dem Islam. Drei muslimische Schülerinnen kamen mit Kopftuch zur Schule in Creil und wurden ausgeschlossen. Danielle Mitterand, die Frau des Staatspräsidenten, und der Bildungsminister Lionel Jospin waren gegen diese Maßnahme und Jospin erklärte im Parlament, dass die Schule zum Aufnehmen da ist und nicht zum Ausschließen. Und zum Kopftuch sagte er: "Wir werden versuchen, sie (die Musliminnen) dazu zu bringen auf die religiösen Symbole zu verzichten, wenn sie aber nicht wollen, dann werden wir sie akzeptieren."

Der von Jospin angerufene Conseil d’État, das höchste französische Gericht, hielt ein allgemeines Verbot des Kopftuches im Namen der laizistischen Trennung von Staat und Religion für unzulässig und erlaubte nur von Fall zu Fall bei der Störung des Schulfriedens ein Verbot zu verhängen. Diese juristische Auffassung vertrat übrigens auch das deutsche Bundesverfassungsgericht aber sechsundzwanzig Jahre später mit seinem Beschluss vom 27. Januar 2015. Die ausgesperrten Schülerinnen durften mit Kopftuch in den Unterricht zurück. Es folgten fünfzehn Jahre Unruhen an den Schulen, begleitet von heftigen Debatten in der Gesellschaft bis zum 13.05.2004, als unter der Präsidentschaft des bürgerlichen Jacques Chirac das Parlament ein Gesetz verabschiedete, das alle ostentativen religiösen Zeichen von der Kippa bis zum Kopftuch aus der öffentlichen Schule verbannte.

Es herrsche seitdem Frieden an der Schulfront, die Ausbreitung des Multikultilarismus ging jedoch weiter und bestimmte immer mehr die Politik der linken Parteien, insbesondere der Sozialisten. Im Jahre 2008 wurde eine der sozialistischen Partei nahstehende Think-Tank-Plattform namens „Terra Nova“ gegründet, die die ideologischen Koordinaten der linken Politik neu denken und im Einklang mit der Migration zur Zeit der Globalisierung, die eine Mutation der Identitäten herbeigeführt hat, multikulturalistisch verfassen wollte. Sie kam zu folgenden Ergebnissen: Die alte linke Ideologie, die auf die Interessen der Arbeiterklasse und ihre Werte zentriert war, muss aufgegeben werden und die Vertretung ihrer sozio-ökonomischen Forderungen muss einer Politik des kulturellen Liberalismus weichen. Die Emanzipation, die im Mai 68 begann, mündete Ende der 70er Jahre in die Akzeptanz der Unterschiede, in eine positive Haltung den Migranten, dem Islam, den Homosexuellen und allen Randgruppen gegenüber. Die Arbeiterklasse dagegen wurde immer konservativer.

Das unmittelbare Ziel von Terra Nova war die Rückeroberung der Macht 2012 durch die Linke, so heißt auch ihr Bericht von 2011. In dem Bericht wird empfohlen, mit den traditionellen Verbündeten der Linken, den Arbeitern und die Angestellten, zu brechen, weil sie immer mehr rechts wählen. Außerdem schrumpft die Gruppe der Arbeiter zahlenmäßig stetig zusammen. Man solle stattdessen auf die Minderheiten, insbesondere die Muslime, weil ihre Gruppe ständig wächst, auf die bürgerlichen gebildeten Eliten, weil sie offen und liberal sind, auf die Frauen, weil sie nach wie vor benachteiligt sind, auf die junge Generation, weil sie wenig konservativ ist, und auf die "Outsiders", die außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, setzen. Als Vorbild hatten die Verfasser des Berichts die Wahl von Barack Obama 2008 im Sinn.

Nach einem Wahlkampf, der gegen die Modernisierung der französischen Gesellschaft nach dem deutschen Vorbild geführt wurde, kamen die Sozialisten 2012 an die Macht und gaben mehrere Studien für die Neugestaltung der französischen Gesellschaft in Auftrag. Alle daraus resultierenden fünf Berichte im Jahre 2013 waren im Geiste von Terra Nova geschrieben, hatten viel mit Multikulturalismus und wenig mit Wirtschafts- und sozialen Problemen zu tun. Sie drehten sich alle um das Phänomen der Migration, das zum Kernpunkt der Reformen geworden ist.

Migration: Assimilation – Integration - Inklusion

Der Begriff Integration hat längst den Begriff Assimilation abgelöst, jetzt hat er aber ausgedient und soll durch den Begriff Inklusion ersetzt werden, der eine gesellschaftliche Ordnung, basierend auf der gegenseitigen Anerkennung gleichwertiger Kulturen, besser erfassen kann. Die Migration soll nicht als Bedrohung, sondern als Gewinn behandelt werden. Sie sei auch nicht mehr einschränkbar, weil sie nicht mehr aus der mehr oder weniger gesteuerten Anwerbung von Arbeitskräften besteht, sondern hauptsächlich von den Flüchtlingen und der Familienzusammenführung stammt. Die Einbürgerung und die Einwanderung müssen daher erleichtert werden. Eine Willkommenskultur muss auf allen staatlichen, sozialen und kulturellen Institutionen eingeordnet werden.

Wir leben, meinten die Verfasser der Berichte weiter, in einer Gesellschaft mit multiplen Identitäten und die Identitäten der Migranten und ihre Geschichte sind Bestandteil der gesamten nationalen Geschichte. Kolonialismus, Sklaverei und Migration sollen Teil des Geschichtsunterrichts an der Schule werden. "Frankreich soll der arabisch-orientalischen Dimension seiner Identität gerecht werden und seine postkoloniale Haltung aufgeben", und die arabische Sprache soll flächendeckend an allen Gymnasien unterrichtet werden.

Nach ihrem Bekanntwerden haben diese Berichte eine riesige Welle der Empörung in der Öffentlichkeit ausgelöst und verschwanden schnell in den Schubladen. Der Auftraggeber, die Regierung, ging auf Distanz oder verschwieg sie. So hatten die Sozialisten am Ende die französische Gesellschaft weder multikulturalistisch umgestaltet noch wirtschaftlich modernisiert. Sie verloren seitdem alle Wahlen und rangieren nun als dritte politische Kraft hinter dem Front National.

Multikulturalismus als politische Ideologie seit den 1980er Jahren

Nicht nur in Frankreich, sondern auch in ganz Europa breitete sich der Multikulturalismus als politische Ideologie in den 80er Jahren aus und bestimmte ab den 90er Jahren weitgehend die Politik. Die Multikulturalität war infolge der massiven Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg schon lange in den meisten europäischen Ländern eine Realität geworden. Die Politik aber rechnete einerseits mit der Rückkehr der meisten Migranten in ihre Herkunftsländer; andererseits ging sie davon aus, dass der Rest sich automatisch in der modernen überlegenen Industriegesellschaft assimilieren würde. Eine Integrationspolitik sei deswegen überflüssig. Bis heute hat z.B. Deutschland kein Einwanderungsgesetz und spricht nur von Zuwanderung.

Die Ideologie des Multikulturalismus ist in Nordamerika entstanden und gehört zur politischen Philosophie. Ihre Hauptfigur ist der Kanadier Charles Taylor. Bevor sie Europa erreichte, wurde eine ideologische Vorarbeit geleistet: Infolge eines Globalisierungsschubs, der zur Überwindung der Krise des Kapitalismus Anfang der 70er Jahre half, fand ein tiefgreifender Paradigmenwechsel statt, der die Vorstellungen eines homogenen, integrierenden Nationalstaates in Frage stellte.

Dr. Ralph Ghadban
Dr. Ralph Ghadban

Dieser Prozess wurde auch durch die Änderung des Charakters der Migration verstärkt. 1973–74 wurde in allen europäischen Ländern ein Anwerbestopp verhängt, das war offiziell das Ende der Arbeitsmigration. Die Migration endete aber nicht und ging über die Wege der Familienzusammenführung und des Asyls weiter, die die einzigen legalen Möglichkeiten für einen langen Aufenthalt in Europa bieten. So änderte die Migration ihren Charakter von einer Arbeitsmigration zu einer Siedlungsmigration. Im Jahre 2014 kamen über 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland, im Jahre 2015 werden über 300.000 erwartet.

Globalisierung und Migration bestimmten den neuen Diskurs. Alte Begriffe wie Klassenkampf, Imperialismus und Dritte Welt wurden durch Begriffe wie Ethnizität, Migration und Entwicklungsländer ersetzt. Es ging nicht mehr um soziale Emanzipation und individuelle Integration, sondern um die Anerkennung kultureller Gruppen und ihre gesellschaftliche Partizipation. Es ging nicht mehr um die Abschaffung der ausbeuterischen imperialistischen Verhältnisse, sondern um die friedliche Koexistenz der Weltkulturen. Und die Dritte Welt wurde auf sich gestellt und versank in der Korruption ihrer postkolonialen Eliten. Außerdem hatte die erste Welt durch die Migration die Dritte Welt nun zu Hause und war schwer mit ihr beschäftigt.

Kulturrelativismus und Gleichwertigkeit aller Kulturen

Gleich nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges wurde das westliche zivilisatorische Modell erst in den USA, später in Europa in Frage gestellt. Die evolutionistische Theorie, die eine fortschreitende Entwicklung zum besseren behauptet, wurde kritisiert. Der Westen verkörpere nicht die höchste Stufe der Zivilisation und des Fortschritts, die der Rest der Welt anstreben solle. Sein Wertesystem sei nicht besser als das anderer Kulturen. Der Kulturrelativismus wurde verteidigt und der europäische Ethnozentrismus bekämpft. In dieser Hinsicht lieferte Claude Lévi-Strauss mit seiner strukturalistischen Anthropologie die ideologische Rechtfertigung dafür. In seiner Arbeiten zeigte er, dass alle Kulturen eine ähnliche geistliche Struktur aufweisen, die er universeller Geist nannte.

In seinem im Auftrag der UNESCO geschriebenen Buch "Race et History" (1952) zog er aber daraus Konsequenzen, die sich gegen den Universalismus richteten. Alle Kulturen sind in ihren Bemühungen, ihre Gesellschaften zu erhalten gleich und die dafür entwickelten unterschiedlichen Wertesysteme sind gleichwertig, weil sie dieselbe Funktion erfüllen. Ein universeller Wertemaßstab existiert nicht. Deshalb muss die Integrität der Kulturen erhalten bleiben und vor der Akkulturation geschützt werden. Der Widerstand gegen die Assimilation westlicher kultureller Werte durch die Entwicklung eines antiwestlichen Ethnozentrismus sei dann legitim. Der westliche Ethnozentrismus dagegen sei zu bekämpfen. Die Weltzivilisation schließlich bestehe aus der Koexistenz einzigartiger, unterschiedlicher, aber gleichwertiger Kulturen. Damit wurde die Geschichtsphilosophie von Kant bis Marx, die die Geschichte als fortschreitende Entfaltung der menschlichen Natur in der Vernunft und in der Freiheit betrachtet, abgeschafft.

In der Ethnologie entfachte Frederik Barth Ende der 60er Jahre eine Debatte über die Ethnizität. Anstatt Ethnizität und ethnische Identität als kulturelles Phänomen, das aus der Gleichsetzung Stamm-Kultur hervorgeht, wie in der Anthropologie der Kolonialzeit zu definieren, betonte Barth, dass sie das Ergebnis der Grenzziehung im Rahmen der Interaktion mit anderen Ethnien ist und daher nur in poly-ethnischen Systemen existieren kann d.h. auch in den Industriegesellschaften. Die Ethnien organisieren ihre Beziehungen zueinander auf der Basis der kulturellen Unterschiede und in der Form der "Exklusion und Inkorporation", die eine Dichotomie von wir/ihr, eigen/fremd für die Gruppenidentifikation schafft.

Dies Verständnis der Ethnizität wurde essentialisiert und im Dienst des Widerstandes gegen die Herrschaft des weißen Mannes sowohl in den Kolonien als auch in den Metropolen eingesetzt. Mit ihm wurden der Assimilationismus und der Rassismus bekämpft und die Forderung nach Anerkennung, mit anderen Worten nach einer multikulturellen Gesellschaft gestellt.

Leitvorstellungen der Aufklärung contra kulturelle Identität

Ab Ende der 70er Jahre zeigten sich die Auswirkungen der Globalisierung und ihrer neoliberalen Politik. Die Informatikrevolution und die Rationalisierung der Produktion, der Triumph der Dienstleistungs-, Finanz- und Informationsindustrie über die traditionelle herstellende Industrie hatten die Chancenmöglichkeit der Menschen erweitert, die Umsetzungsmöglichkeit aber stark verengt. Die Arbeitslosigkeit stieg an und wurde zu einem dauerhaften Massenphänomen. Desintegrative Tendenzen machten sich breit und der Nationalstaat schien der Situation nicht mehr Herr zu werden.

Eine intellektuelle Strömung, die sich als poststrukturalistisch und postmodern betrachtete, thematisierte diese Entwicklung. Sie zweifelte an den Leitvorstellungen der Aufklärung wie Wahrheit, Vernunft, Objektivität, universaler Fortschritt und Emanzipation. Es sind, wie François Lyotard formuliert, unglaubwürdige Meta-Erzählungen im Begriff der Auflösung. Die Postmoderne betrachtet "die Welt als kontingent, als unbegründet, als vielgestaltig, unstabil, unbestimmt, als ein Nebeneinander getrennter Kulturen oder Interpretationen, die skeptisch machen gegenüber der Objektivität von Wahrheit, von Geschichte und Normen."

In der islamischen Charta des Zentralrates der Muslime in Deutschland vom 20. Februar 2002 lesen wir unter Artikel 14: "Die europäische Kultur ist vom klassisch griechisch römischen sowie jüdisch-christlich-islamischen Erbe und der Aufklärung geprägt. Sie ist ganz wesentlich von der islamischen Philosophie und Zivilisation beeinflusst. Auch im heutigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne wollen Muslime einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen leisten. Dazu zählen u.a. die Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus, die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Chauvinismus sowie die gesunde Lebensweise einer Gemeinschaft, die jede Art von Süchtigkeit ablehnt." Das war eine Mischung von Postmodernismus und Multikulturalismus.

Gesellschaftliche Integration bei Beibehaltung aller Unterschiede?

Der Multikulturalismus, wie von Charles Taylor ausgearbeitet, will auf diese Krise eine Antwort geben. Er ist eine Philosophie der Anerkennung, die eine gesellschaftliche Integration mit Beibehaltung der Unterschiede in ihrer ganzen Bandbreite beabsichtigt. Nicht die Selbsterhaltung durch Aneignung materieller und geistiger Güter stellt die treibende existenzielle Kraft beim Menschen dar, sondern die Verwirklichung der eigenen kulturellen Identität.

Die Krise der modernen Gesellschaft ist auf drei Merkmale zurückzuführen: Erstens der Individualismus, der auf den Rechten des Individuums beruht und die sinnstiftenden Fragen nach Religion, Politik und Geschichte ausklammert. Durch die "Ichbezogenheit" hat die "permissive Gesellschaft" zu einer Verflachung und Verengung des Lebens, zu einer Kultur der Trivialität und der Hemmungslosigkeit geführt. Zweitens die "instrumentelle Vernunft", die der ökonomischen Rationalität zwecks Effektivitätssteigerung, sprich Profit, den Vorrang gibt und u.a. die Umwelt zerstört. Und drittens die Einschränkung der Wahlfreiheit durch die ersten beiden Merkmale, die den eigenen Lebensstil und moralische Vorstellung weitgehend bestimmen.

Daher besteht die Emanzipation und die Selbstverwirklichung in der Rückkehr zum authentischen Selbst durch einen Austausch mit "signifikanten Anderen" wie z.B. den Eltern, um eine Identität mit moralischem Horizont zu bilden, die die sinnstiftenden Fragen beantwortet. Die Anerkennung der individuellen Identität hängt dann mit der Anerkennung der ethnischen oder religiösen Gruppe zusammen. Das ist der Kommunitarismus, in Deutschland spricht man von Parallelgesellschaften. Für seine Kritik der Moderne übernimmt Taylor ausdrücklich die Kapitalismuskritik von Karl Marx und Max Weber, ohne jedoch den Begriff Kapitalismus zu erwähnen, er spricht stattdessen von der Moderne und er formuliert die Hauptpunkte dieser Kritik neu: Der Begriff Profit als Verwertung des Kapitals weicht vor dem Begriff instrumenteller Vernunft und anstelle von Entfremdung durch Verdinglichung menschlicher Beziehungen tauchen die Begriffe Verengung, Verflachung, Bedrohung und Ohnmacht auf. So wird der Eindruck einer linken Politik erweckt.

Auf politischer Ebene hatte die Arbeiterklasse ihre Fürsprecher in den 70er Jahren verloren. Mit dem Eurokommunismus verzichteten die kommunistischen Parteien auf die Diktatur des Proletariats bzw. die proletarische Revolution und näherten sich dem reformistischen Weg der Sozialdemokratie. Nach der Implosion des Ostblocks 1989 erklärten sie sich offiziell als solche oder verschwanden.

 

Der zweite Teil dieser Abhandlung erscheint morgen im hpd.