Das Turiner Grabtuch

Der PR-Papst pilgert zu einem gefälschten Leichentuch

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Das Turiner Grabtuch, Fotografie des Gesichts, Positiv links, rechts Negativ (Kontrast etwas verstärkt)
Das Turiner Grabtuch, Fotografie des Gesichts, Positiv links, rechts Negativ (Kontrast etwas verstärkt)

STEISSLINGEN. (hpd) Nach den Passionslegenden (Mt 27, 59, Mk 15, 46; Jo 19, 40) wurde der Leichnam des Jesus von Nazaret in Tücher gehüllt und beigesetzt. Bei der Wichtigkeit dieser Herrenreliquien verwundert es nicht, dass an die 40 einzelne Grabtücher verehrt wurden, die allesamt unecht sein dürften.

An erster Stelle steht dabei ein in Turin bewahrtes elfenbeinfarbenes Tuch aus 4,36 m x 1,09 m Leinen, angeblich eines der Grabtücher, in die Joseph von Arimathäa den Leichnam des Gekreuzigten nach der Abnahme vom Kreuz einhüllte (Mt 27, 59 f.; Jo 19, 40). Das wissenschaftlich umstrittene Tuch weist Körperabdrücke eines gegeißelten Mannes (181 cm groß, 80 kg schwer, wohl Blutgruppe AB), Abdrücke der Seitenwunde sowie der Hand- und Fußwunden auf. Münzen, die dem Toten auf die Augen gelegt waren, wurden als römische Bronzemünzen identifiziert, die in den Jahren 29/30 in Jerusalem unter Pontius Pilatus geprägt wurden. Auch wurden Reste von Aloe und Myrrhe gefunden, ein Hinweis auf die jüdische Bestattungstradition. Botaniker entdeckten Blütenstaub von Pflanzen, die aus der Gegend von Jerusalem stammen. Gleichwohl sagen solche “Zeitgenossenschaften” nichts zum eigentlichen Problem: Handelt es sich um das Grabtuch Jesu von Nazaret oder um das eines anderen Gekreuzigten?

Radiokohlenstoffdatierungen von 1988 deuten auf einen Ursprung als mittelalterliches Artefakt. Eine Probe war von drei unabhängigen Instituten auf die Zeit zwischen 1260 und 1390 u. Z. datiert worden, wobei der Mittelwert 1325 u. Z. als wahrscheinlichster Wert angegeben wurde. In diese Zeit fällt die älteste gesicherte Erwähnung des Grabtuches im Jahr 1357. Auch nach Forschern der Hebräischen Universität Jerusalem stammt das Tuch aufgrund seiner komplexen Webart nicht aus der Zeit Jesu von Nazaret.

Der Glaube sieht freilich alles anders. Schon unter Kaiser Konstantin I. waren 313 erste Gerüchte über den "Abdruck" eines Leichnams aufgetaucht. Im 6. Jahrhundert wird erstmals konkret aus Edessa, in der heutigen Osttürkei, von einem Tuchbildnis erzählt, "das nicht von Menschenhand geschaffen worden". Dann verschwand die Reliquie im Verlauf der Kreuzzüge. Erst 1192 wird sie wieder in Handschriften erwähnt. 1204 wird aus Konstantinopel von einer Verehrung berichtet. Im September 1241 wird ein Grabtuch feierlich in die Sainte Chapelle (Paris) überführt. 1453 geht es an das Herzoggeschlecht der Savoyer, die es ab 1506 in Chambéry verwahren und 1578 nach Turin bringen, wo es seitdem weilt. 1983 vermachte der frühere italienische König Umberto II. von Savoyen die Reliquie dem Vatikan.

Eine Sensation hatte sich angedeutet, als am 25. Mai 1898 der Turiner Anwalt S. Pia das Tuch erstmals fotografierte. Bei der Entwicklung der Fotoplatten entdeckte er ein merkwürdiges Doppelbild eines Mannes. Seit dieser Fotografie wurde das Turiner Leichentuch zu einem der besterforschten Objekte der Wissenschaft. Kriminologen, Historiker, Chemiker, Botaniker haben das Tuch untersucht. Immer neue Sensationen und abenteuerliche Thesen - wie Spuren weiblicher Gene - wurden diskutiert. Noch Anfang des 21. Jahrhunderts fanden Kongresse von "Sindonologen" (Grabtuchforschern) statt.

Der Feuerwehrmann M. Trematore hatte in der Nacht vom 11./12. April 1997, als eine Feuersbrunst die Turiner Kathedrale heimsuchte, mit einem Vorschlaghammer immer wieder versucht, die Panzerglasscheiben einzuschlagen, hinter denen sich die Reliquie befand. Erst nach mehr als 100 Schlägen zerbrach das Panzerglas, und Trematore konnte mit blutenden Händen das Heiligtum bergen. Ganz Italien wurde Zeuge dieser glücklichen Rettung, denn das Fernsehen übertrug die Ereignisse. Millionen sahen den erschöpften Feuerwehrmann, wie er den Schrein hochhielt und rief: "Es ist ein Wunder! Gott hat mir die Kraft gegeben, den Tresor zu knacken!" Dann fiel er in Ohnmacht. Es war der dritte Brand, den das Leichentuch überstand.

1998 wurde es, zum vierten Mal seit 1900, gezeigt (darunter dem Pilger Johannes Paul II.). 750.000 Voranmeldungen von Besuchern aus aller Welt lagen vor. Die Organisatoren rechneten mit mehr als drei Millionen Besuchern. Gärten und Plätze wurden neu bepflanzt, Parkplätze geschaffen, Rotkreuz-Zelte aufgebaut, Wegweiser aufgestellt und 2.200 Helfer für die Betreuung der Pilger eingestellt. Die meisten Geschäfte waren während der zwei Monate auch an Sonn- und Feiertagen geöffnet. Viele sprachen von einem "rein kommerziellen Sindone-Festival". 2002 wurden 30 Flicken entfernt, die Nonnen nach dem Brand von 1532 auf die Brandstellen genäht hatten.

Auf Wunsch Benedikts XVI., das Grabtuch im "Jahr des Glaubens" zu zeigen, wurde es am 30. März 2013 in einem vom Fernsehen direkt übertragenen Wortgottesdienst mit einer Videobotschaft von Papst Franziskus ausgestellt. Zurzeit findet die nächste öffentliche Ausstellung statt (19. April–24. Juni 2015). Hier wird es in einer kugelsicheren schwenkbaren Vitrine gezeigt, die 2500 Kilo wiegt. Papst Franziskus, für seine medienwirksamen Auftritte und Sprüche bekannt, wird am 21./22. Juni 2015 nach Turin kommen und das Leichentuch verehren, Fälschung hin oder her.

Der Vatikan hat sowieso schon vorgesorgt: Nachdem die Fälschung nachgewiesen worden war, zeigte er sich gelassen, als hätte er bereits mit dem Ergebnis gerechnet. Man könne das Leichentuch ja noch immer als geniales Kunstwerk aus dem christlichen Mittelalter verehren…