Zum 8. Mai

8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive

Anderswo dauerten die Kampfhandlungen auch lange nach dem offiziellen Kriegsende noch an. In den baltischen Staaten, Polen, der Slowakei und der Ukraine wurden antisowjetische Widerstandsbewegungen aktiv und setzten den Krieg als eigene Befreiungskriege fort. Der Historiker Alexander Statiev hat berechnet, dass zwischen 1944 und 1946 in den westlichen Randgebieten des sowjetischen Imperiums 133000 Menschen wegen antisowjetischen Widerstands getötet und 194000 festgenommen wurden.[20] In der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland bestand der “Entnazifizierungsprozess” aus der Festnahme und Inhaftierung von 123000 Menschen, von denen 43000 in Gefangenschaft starben.[21] Wer als politische oder soziale Bedrohung der kommunistischen Zukunft galt, wurde festgenommen, deportiert oder getötet. Tausende mussten die Enteignung ihrer Grundstücke und Betriebe hinnehmen. Die Hypothek der sowjetischen Nachkriegsherrschaft wurde erst 1990 abgelegt, in dem Jahr, als eine tatsächliche Befreiung im Sinne von 1945 endlich erreicht wurde.

Deutschland: Ein Neuanfang?

Wie stellte sich all dies nun im Falle Deutschlands dar? Als britische und amerikanische Beamte und Kulturbotschafter im Mai 1945 in Deutschland eintrafen, gab es einerseits die Befürchtung, es könne eine deutsche Widerstandsbewegung geben, andererseits die Erwartung, dass viele Deutsche die Erlösung vom Krieg als befreiend empfinden und den Alliierten für den Sieg dankbar sein würden. Diese Erwartung war jedoch naiv. Die ersten Kontakte zeigten, dass Verbitterung über die Niederlage durchaus verbreitet war; die Besucher registrierten weitaus weniger Reue, als sie erwartet hatten, stattdessen sogar das starke Empfinden unter Deutschen, selbst Opfer zu sein – was für unangebracht gehalten wurde.

Stephen Spender, der beauftragt war, deutsche Professoren über die Zukunft zu befragen, traf auf viele gebildete Deutsche, die einen Krieg zwischen der Sowjetunion und dem Westen erwarteten. Sie sahen im 8. Mai eher ein Intermezzo zwischen der Gewalt, nicht deren Ende.[22] Spender fand sogar Deutsche, die hofften, die britische Zone könnte ein Herrschaftsgebiet unter dem britischen Empire werden – was 1944/45 vom Political Warfare Executive in Deutschland verbreitete Propagandabotschaften widerspiegelte, in denen die Deutschen ermuntert worden waren, durch die Anerkennung bestimmter britischer Werte und Leistungen “britischer” zu werden.[23]

Die Schwierigkeiten der Alliierten, die Einstellungen der Deutschen im Mai 1945 zu verstehen, sind zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass sie die Gesellschaft recht undifferenziert betrachteten. Die Antworten auf die Frage, was der 8. Mai symbolisiere, hing 1945 von den Lebensumständen, der politischen Einstellung und den persönlichen Erwartungen der jeweils Befragten ab; es gab in dem Sinne nicht “den Deutschen”.

Spätestens mit den gegen Kriegsende geheim mitgeschnittenen Gesprächen deutscher Kriegsgefangener hätte klar sein müssen, dass es unterschiedliche Einstellungen gab. In einer Sammlung von Transkriptionen mit dem Titel “What is the German Saying?” (“Was sagt der Deutsche?”), werden diese Unterschiede deutlich. So konstatierte ein Soldat im Gespräch mit seinen Kameraden: “Eins steht fest, wir sind immer noch die Herrenrasse.” Und ein anderer behauptete: “Es wird 30 Jahre dauern, bis wir wieder Krieg führen können.” Ein junger Unteroffizier, der an der italienischen Front gefangen genommen worden war, vertrat hingegen eine ganz andere Sichtweise: “Was haben wir wirklich vom Leben? Mitten im Krieg geboren, Kinder während der Inflation, zur Schule in der Depression, unser Leben in den letzten zehn Jahren vom Nazismus und der Armee bestimmt, und jetzt Gefangene. Was ist das für ein Leben? Ist es nicht besser, in einem freien Land zu leben, wo man eine andere Regierung wählen kann, wann immer man will? Es ist nicht Freiheit, für die wir jetzt kämpfen; es ist für eine aussichtslose Sache.”[24]

Die Meinungen zum Krieg und zur Niederlage gingen in der deutschen Bevölkerung im Mai 1945 weit auseinander, je nach Geschlecht, Region und Klasse. Millionen Deutsche, tatsächlich eine Mehrheit, hatten 1932 nicht für die NSDAP gestimmt; Millionen Deutsche, wären sie gefragt worden, wollten 1939 keinen Krieg, und auch nicht seine Ausdehnung auf die Sowjetunion 1941. Geheime Polizeiberichte konnten wenig der Begeisterung feststellen, die 1914 bei Kriegsbeginn an den Tag gelegt wurde, und Hitlers Popularität erreichte im Juli 1940 ihre Spitze, als viele hofften, dass die Niederlage Frankreichs unmittelbar bevorstehenden Frieden bedeute.

Diese Millionen wollten im Mai 1945 einen Neuanfang, denn es gab keine Alternative zum Weg nach vorn. Es ist bezeichnend, dass bald vom “Neubau” deutscher Städte gesprochen wurde, nicht vom “Wiederaufbau”, was das Verlangen nach einer Rückkehr in die Vergangenheit hätte anklingen lassen. Aus alliierter Sicht stellte diese Haltung einen vorsätzlichen Gedächtnisschwund dar, um sich vor der Verantwortung drücken zu können. Die alliierten Autoritäten waren zudem beeinflusst vom Unvermögen der Deutschen, sich durch einen Sturz des Regimes selbst zu befreien.

Diese Erwartung hatte dem eskalierenden Bombenkrieg jedoch zugrunde gelegen: Die Kriegführung gegen Deutschland basierte auf der Annahme, dass es einen Volksaufstand geben müsse, wenn die Bombardierungen enden sollten – obwohl die verfügbaren Geheimdienstinformationen zeigten, wie unwahrscheinlich dies angesichts des Terrorregimes in den letzten Kriegsjahren war. Im Februar 1945 schmuggelte eine für den britischen Geheimdienst arbeitende Agentin einen Bericht aus der Rhein-Ruhr-Region, in dem sie den naiven Glauben der Alliierten, Deutschland im Jahr 1945 sei wie Deutschland im Jahr 1918, stark kritisierte: “Aus der Erkenntnis, dass ein Umsturz von innen heraus nicht möglich ist, ist die oppositionelle Bevölkerung über die Propaganda im englischen Rundfunk, die immer wieder zum Sturz Hitlers auffordert, ungehalten, wenn nicht empört (…) Man kann nicht verstehen, dass in England solch grosse Unkenntnis über die wirkliche Lage in Deutschland herrscht.”[25]

Natürlich war es auch enthusiastischen Anhängern des Hitler-Regimes oder Tätern im Terror- und Verfolgungsapparat nach dem Krieg möglich, jegliche direkte Verantwortung zu leugnen, sich hinter der Maske vorgetäuschten Nonkonformismus zu verstecken und damit eine Bestrafung zu vermeiden. Wie gut sich diejenigen, die in irgendeiner Funktion für das Regime tätig gewesen waren, nach 1945 in beiden deutschen Staaten reintegrieren konnten, ist hinlänglich bekannt. Aber ebenso ist die Feststellung richtig, dass weder die Bundesrepublik noch die DDR auf dem Fundament der abgeschafften NS-Ordnung und ihrer diskreditierten Eliten hätte aufgebaut werden können.[26] Es gab mehr als genug Deutsche, die gewährleisteten, dass die in den 1950er Jahren entstehenden Systeme nachweislich anders waren als die Politik der Ressentiments und der Diskriminierung, die in den 1930er Jahren die nationalsozialistische Diktatur angetrieben hatte (auch wenn sich die DDR ihrerseits durch zahlreiche unerträgliche Praktiken als Diktatur erwies).

Insofern sei an den Schluss von Thomas Manns eingangs zitierten Brief an von Molo erinnert: “Man höre doch auf, vom Ende der deutschen Geschichte zu reden!”, schrieb er im September 1945. “Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt. (…) Es ist im Begriffe, eine neue Gestalt anzunehmen, in einen neuen Lebenszustand überzugehen, der vielleicht nach den ersten Schmerzen der Wandlung und des Übergangs mehr Glück und echte Würde verspricht, der eigensten Anlagen und Bedürfnissen der Nation günstiger sein mag als der alte.”[27] In diesem Sinne war der 8. Mai 1945 als Ende und Anfang in Deutschland durchaus bedeutsamer als anderswo in Europa.


Fussnoten:

  1. Briefe von Thomas Mann an Victor Reissner vom 12. Juli 1945 und an Walter von Molo vom 7. September 1945, in: Erika Mann (Hrsg.), Thomas Mann. Briefe, Bd. 2: 1937–1947, Frankfurt/M. 1963, S. 435, S. 447.
  2. Richard Bessel, Germany 1945: From War to Peace, London 2009, S. 6.
  3. Stephen Spender, Deutschland in Ruinen, übersetzt und mit einer Einleitung von Joachim Utz, Heidelberg 1995, S. 39 (engl. Originalausgabe: European Witness, London 1946, S. 23f.).
  4. A. Ruth Fry, 1945: Annus Mirabilis (private Publikation), o.O. 1945, S. 5.
  5. Vgl. The National Archives (TNA), London, WO 106/4449A, Eisenhower to Combined Chiefs of Staff, 7 May 1945; Eisenhower to British Chiefs of Staff, 7 May 1945.
  6. Vgl. TNA, WO 219/1252, Military Mission Moscow to Chiefs of Staff, 8 May 1945.
  7. Vgl. Nigel Nicolson (Hrsg.), Harold Nicolson: Diaries and Letters, 1939–1945, London 1967, S. 456f.
  8. Vgl. Ilya Ehrenburg, Men-Years-Life, Bd. 5: The War Years 1941–1945, London 1964, S. 187ff.
  9. Zit. nach: S.M. Shtemenko, The Last Six Months, New York 1977, S. 410f.
  10. Zit. nach: TNA, WO 106/4449A, British embassy, Moscow, to Foreign Office, 12 May 1945; Deutsche Übersetzung auf: http://www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/media/stalin45.pdf (11.3.2015).
  11. Zu sowjetischen Gefallenen vgl. John Erickson, Soviet War Losses: Calculations and Controversies, in: ders./David Dilks (hrsg.), Barbarossa: The Axis and the Allies, Edinburgh 1994, S. 256ff., S. 262–266.
  12. Vgl. Aleksandr Heller/Mikhail Nekrich, Utopia in Power: The History of the Soviet Union from 1917 to the Present, London 1986, S. 462f.
  13. Vgl. Alec Nove, An Economic History of the USSR, London 1987, S. 279, S. 284.
  14. Vgl. Santo Peli, Storia della Resistenza in Italia, Turin 2006, S. 169, S. 171ff.; Mirco Dondi, La lunga liberazione: Giustizia e violenza nel dopoguerra italiano, Rom 2004, S. 91f.
  15. Vgl. Guido Crainz, L’ombra della Guerra. Il 1945, l’Italia, Rom 2007, S. 9.
  16. Siehe hierzu auch den Beitrag von Ulrich Pfeil in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
  17. Zu Bombardierungen in Frankreich vgl. Claudia Baldoli/Andrew Knapp, Forgotten Blitzes: France and Italy under Allied Air Attack 1940–1945, London 2012.
  18. Vgl. Martin Thomas, Colonial Violence in Algeria and the Distorted Logic of State Retribution: The Sétif Uprising of 1945, in: Journal of Modern History, 75 (2011), S. 523–556.
  19. Vgl. Timothy Snyder, Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin, London 2010, Kapitel 10.
  20. Vgl. Alexander Statiev, The Soviet Counter-Insurgency in the Western Borderlands, Cambridge 2010, S. 110.
  21. Vgl. Achim Kilian, Einzuweisen zur völligen Isolierung. NKWD-Speziallager Mühlberg/Elbe 1945–1948, Leipzig 1993, S. 7.
  22. Vgl. S. Spender, European Witness (Anm. 3), S. 29.
  23. Vgl. TNA, FO 898/409, PWE files “Projection of Britain”.
  24. Alle Zitate aus: Library of Congress, Eaker papers, Box I: 30, Intelligence Section Mediterranean Allied Air Force, “What is the German Saying?”, o.D. (März 1945).
  25. TNA, FO 371/46747, Ronald Thornley to Geoffrey Harrison (Foreign Office), enclosing “Jutta’s trip, 18 Jan–6 Feb 1945”, S. 3.
  26. Zu diesem Prozess vgl. insbesondere Konrad H. Jarausch, After Hitler: Recivilizing Germans, 1945–1995, New York 2006; Jan Palmowski, Inventing a Socialist Nation: Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, Cambridge 2009.
  27. Thomas Mann an Walter von Molo (Anm. 1), S. 446.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Richard Overy für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de