Schon im Mai 1945 wurde im sowjetischen Oberkommando der Verdacht gehegt, dass die deutsche Kapitulation gegenüber den Westalliierten in Italien und dann in Reims eine Absicht ebenjener Mächte verschleiern könnte, sich mit Deutschland für einen antikommunistischen Kreuzzug in Osteuropa zusammenzutun. Und Churchill hatte in der Tat weitere kommunistische Landgewinne verhindern wollen: zunächst durch sein Beharren darauf, dass die Briten Triest besetzten, bevor Titos Partisanen dies tun konnten; dann durch seine Weigerung, einem Termin für eine gemeinsame Erklärung zur deutschen Niederlage zuzustimmen – in der Hoffnung, dass die amerikanische Armee die von ihr eingenommenen Gebiete in Ostdeutschland, die zur vereinbarten sowjetischen Zone gehörten, würde halten können. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang auch daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik nur zehn Jahre später zum westlichen Sicherheitssystem gehörte, das gegen die Sowjetunion errichtet wurde.
Im Zwiespalt: Italien, Frankreich, Osteuropa
Dass in Italien nicht der 8. Mai, sondern der 25. April gefeiert wird, liegt ebenfalls in der Politik der Kriegs- und Nachkriegszeit begründet. Am 25. April 1945 begann die italienische Partisanenbewegung auf Anweisung des antifaschistischen Comitato di Liberazione Nazionale (CLN, Komitee der nationalen Befreiung) eine Reihe von Aufständen in den norditalienischen Städten, die immer noch von deutschen und italienischen Faschisten kontrolliert wurden. Mailand, Genua, Turin und Bologna wurden alle kurz vor Eintreffen der Alliierten von Partisanen befreit. Diesen lag sehr daran, die Rolle der Befreier einnehmen zu können, da sie sich davon eine Beteiligung am politischen Wiederaufbau des Landes erhofften. Für viele Italiener war der Sieg über den italienischen Faschismus genauso wichtig wie der über die deutschen Besatzer, und noch Monate nach der endgültigen Kapitulation setzte sich die Gewalt gegen Mitarbeiter und Führungskräfte der Faschistischen Partei und der berüchtigten brigate nere (schwarze Brigaden) fort.[14]
Die Feiern zum alliierten Sieg im Mai waren offenkundig von gemischten Gefühlen begleitet: Die Partisanen wollten sich nicht – wie von den Alliierten vorgesehen – entwaffnen lassen, um den Bürgerkrieg gegen die Faschisten weiterführen zu können; zugleich hielten viele italienische Zivilisten den Preis für die Befreiung, nämlich die Verluste durch die großflächigen Bombardements in Mittel- und Norditalien, für zu hoch. Hunderte Dörfer und weite Gebiete der Großstädte waren durch Luftangriffe zerstört worden. Mehr als 60000 Italiener waren dabei zu Tode gekommen, während weitere Tausende dem Beschuss entlang der nach Norden rückenden Frontlinie zum Opfer gefallen waren. Die Folgen der Zerstörungen dieses Ausmaßes waren die Rückkehr von Epidemien und weitverbreiteter Hunger. Die schlechten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, gepaart mit einem Misstrauen gegenüber den Absichten der Alliierten, gaben dem Sieg einen sauren Beigeschmack – trotz der Erleichterung über das Ende der Kämpfe. Die Italiener fanden sich, mit den Worten des Historikers Guido Crainz, zwischen “einer schweren Vergangenheit und einer sehr unsicheren Zukunft” wieder.[15]
Dieselbe Ambivalenz kennzeichnete die Reaktionen auf den 8. Mai in Frankreich. Mit Ausnahme derjenigen, die mit dem Vichy-Regime und den deutschen Besatzern kollaboriert hatten, war für die französische Bevölkerung die Befreiung 1944 bedeutsamer als das Ende des Krieges am 8. Mai im Jahr darauf, was im öffentlichen französischen Gedenken auch so geblieben ist.[16] Zu den Kosten des Sieges über die deutschen Streitkräfte zählte der Tod weiterer 60000 Zivilisten durch Bombardements und die Zerstörung – teilweise sogar Auslöschung – zahlreicher Städte im Norden und Westen Frankreichs, darunter Le Havre, Brest, Lorient, Nantes und Caen. Im Januar 1945 flogen die Alliierten drei sehr große Angriffe gegen die Stadt Royan nahe Bordeaux, wo sich die deutsche Besatzung 1944 geweigert hatte, zu kapitulieren. Etwa 7000 Tonnen Bomben wurden auf eine winzige Fläche abgeworfen, 85 Prozent der Stadt wurden ausradiert. Die Folge dieser letzten Strafangriffe, als Deutschland offenkundig bereits am Rande der Niederlage stand, war eine Entfremdung der französischen Öffentlichkeit von der angloamerikanischen Kriegführung.[17] Nach der Kapitulation am 8. Mai wurden die Franzosen nur als Zeugen zur Unterzeichnungszeremonie nach Berlin eingeladen, nicht als Hauptunterzeichner (tatsächlich war dies jedoch auch der Fall beim ranghöchsten anwesenden amerikanischen Vertreter, General Carl Spaatz).
Ausgerechnet am 8. Mai griffen algerische Rebellen in Sétif die europäische Bevölkerung während ihrer Vorbereitungen für die Siegesfeiern an und töteten 28 Menschen – eine Erinnerung an Frankreichs belastete imperiale Vergangenheit und ein Vorbote einer noch schwierigeren Zukunft. In der Folge schlug die französische Kolonialmacht mit aller Härte zurück.[18] Der Wunsch, die Befreiung als einen echten Gründungsmoment anzusehen, der einen klaren Bruch mit den Appeasement-Befürwortern und den Kryptofaschisten der 1930er und der Kriegsjahre markiert, stand in Frankreich in den Jahren seit 1945 im Wettstreit mit dem Verlangen nach Ehrlichkeit im Umgang mit den schwierigen Teilen der eigenen Vergangenheit, sowohl vor als auch nach 1945. Deutschland ist nicht das einzige Land mit dem Problem der “Vergangenheitsbewältigung”; auch Frankreich hatte seine crise d’histoire.
Zwiespältige Gefühle waren auch in den von der Roten Armee befreiten ostmitteleuropäischen Ländern weitverbreitet, wo die Befreiung angesichts der drohenden sozialen und wirtschaftlichen Revolution unter sowjetischen Vorzeichen meist als ihr Gegenteil wahrgenommen wurde. Die Kosten des Krieges in diesen Gebieten, vom Historiker Timothy Snyder als “Bloodlands” bezeichnet, waren außergewöhnlich hoch, weil sie vielfach zweimal im Kampf erobert wurden: erst zu Beginn des Krieges durch die angreifenden deutschen Truppen und dann von der sowjetischen Armee in ihren letzten großen Offensiven.[19] Für die ehemaligen Achsenmächte – Ungarn, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien – war der Tag des Sieges im Mai 1945 von relativ geringer Bedeutung, obwohl drei von ihnen die Seiten gewechselt hatten.
Sogar in Jugoslawien, das von Guerillas unter kommunistischer Führung befreit worden war, wurde der Sieg als doppelbödig empfunden. Tausende jugoslawischer Frauen wurden von sowjetischen Soldaten vergewaltigt, wie auch Frauen und Mädchen in Ungarn und Polen. Tito konnte keinesfalls sicher sein, dass die Rote Armee nicht bleiben und Jugoslawien eine stalinistische Lösung aufzwingen würde. Da es nicht möglich war, die neuen sowjetischen Machthaber davonzujagen, ist der Reiz, der von der Möglichkeit ausging, zumindest die nun machtlosen noch in Ostmitteleuropa lebenden Deutschen zu vertreiben, leicht nachzuvollziehen. Geschätzte 13 Millionen wurden gezwungen, sich als Flüchtlinge auf deutsches Gebiet zu begeben.
3 Kommentare
Kommentare
Frank Linnhoff am Permanenter Link
Herzlichen Dank der Redaktion von hpd für diesen ausgezeichneten Artikel.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Hut ab vor der detaillierten Chronologie der vielen Stunden 'Null'!
Aber (gleich zu Beginn): "Die meisten Deutschen wollten nicht zu den Unbilden der Diktatur und eines desaströsen Krieges zurück." Gibt es darüber verlässliche Zahlen? Ich frage mich, wie wenige der 'meisten' Deutschen Anfang Mai 1945 tatsächlich von den 'Unbilden' der Diktatur ablassen wollten oder die Erlösung vom Krieg gar als Befreiung (denn als Niederlage) empfanden. Damals.
Entsprechend korrigiert der Autor (am Schluss seines Beitrags) den ersten hier zitierten Satz: "Diese Erwartung war jedoch naiv. [...]" - der Anfang nach dem Ende hat lange gedauert; m.E. zu lange.
Horst Groschopp am Permanenter Link
Danke, der Artikel zeigt, wie wertvoll empirische Befunde sind und wie hoch sie über Meinungen stehen. Nur zwei kleine Anmerkungen:
2. Zwei Eliten sind weder in den Westzonen, noch in der SBZ entnazifiziert worden: die Pfarrer ("Deutsche Christen"); Ärzte.
Horst Groschopp