BERLIN. (hpd) Am 8. Mai jährt sich die Kapitulation Deutschlands. Dieses Datum beendete im Jahr 1945 - also vor 70 Jahren - den 2. Weltkrieg, der mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann. Heute stellt der hpd einen Artikel vor, den der Professor für Geschichte an der Universität Exeter, Richard Overy, für die Bundeszentrale für politische Bildung verfasst hat.
Wenige Wochen nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 schrieb Thomas Mann in einem Brief aus dem kalifornischen Exil, die Deutschen sollten “sich jetzt nicht in erster Linie als Deutsche, sondern als Menschen fühlen, die es nicht zur Selbstbefreiung gebracht haben, sondern durch äußere Mächte zur Menschheit zurückgeführt werden mußten”. Er sah die Zukunft Deutschlands zwar pessimistisch, erkannte in der Niederlage aber auch die Chance für einen Neuanfang. “Deutschland treibe Dünkel und Haß aus seinem Blut”, schrieb er ein paar Monate später an den Schriftsteller Walter von Molo, “es entdeckt seine Liebe wieder, und es wird geliebt werden”.[1]
Mann sah also im Augenblick der Niederlage, der offiziell auf den 8. Mai, 23.01 Uhr festgelegt wurde, eine “Stunde Null”: sowohl ein Ende als auch einen Anfang. Dies war eine durchaus verständliche Perspektive auf die Niederlage. Die meisten Deutschen wollten nicht zu den Unbilden der Diktatur und eines desaströsen Krieges zurück. Die katastrophalen Verhältnisse im besiegten Deutschland zwangen die Menschen, das Überleben in den Mittelpunkt zu stellen und zu hoffen, dass sich die Lage nicht verschlimmern würde. Beobachtern von außen fiel die Fähigkeit der deutschen Bevölkerung auf, ständig in der Gegenwart zu leben, besessen vom “tagtäglichen Kampf um die Existenz”, wie der Historiker Richard Bessel schrieb.[2] Die Zerstörung deutscher Städte schuf das, was der englische Dichter Stephen Spender, der im Sommer 1945 nach Deutschland gesandt wurde, corpse-towns nannte – “Leichenstädte”, in denen die Bürger “auf einer Stufe niederen mechanischen Lebens” weiter existierten, verwurzelt in einem verbreiteten Nihilismus. “Hier wurde alles angehalten”, schrieb er, “jenes Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart”.[3]
Außerhalb Deutschlands war der Tag der deutschen Niederlage ein Moment des Sieges. In weiten Teilen Europas wurde das Kriegsende zudem als ein echter Bruch mit der Vergangenheit wahrgenommen, der dem Kontinent in vielerlei Hinsicht – international, politisch, sozial und kulturell – einen Neuanfang ermöglichen würde. Die Vorkriegsjahre der Diktatur, den gewaltsamen Imperialismus, die wirtschaftliche Not und den Kulturpessimismus – all das hoffte man hinter sich zu lassen. Die britische Pazifistin Ruth Fry schrieb 1945, dass Europa nun eine tabula rasa habe, auf der eine “schöne neue Welt” (brave new world) aufgebaut werden könne: “Alles ist zerschlagen. Wir stellen uns ein leeres Blatt Papier vor.”[4] Auch dies war eine verständliche Hoffnung nach sechs Jahren globalen Krieges, der auf einem größeren Gebiet und mit größerer Gewalt geführt worden war als jeder vorherige Krieg in der Geschichte. Das Vereinigte Königreich war allerdings die einzige europäische Kriegspartei, die tatsächlich am 8. Mai das Kriegsende feierte.
Verschiedene “Tage des Sieges”
Die Kapitulation wurde in den frühen Morgenstunden des 7. Mai (um 1.41 Uhr) im Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Westalliierten, Dwight D. Eisenhower, in Reims unterzeichnet; offiziell enden sollten die Kampfhandlungen aber erst am 8. Mai um 23.01 Uhr (0.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit). General Eisenhower schlug vor, dass die drei Hauptalliierten – USA, Russland und das Vereinigte Königreich – die Kapitulation am 8. Mai zeitgleich um 15 Uhr bekanntgeben sollten, mit dem 9. Mai als offiziellem Tag des Kriegsendes in Europa (VE Day, kurz für Victory in Europe). Stalin war jedoch unzufrieden, dass das Oberkommando der deutschen Wehrmacht in Frankreich nur gegenüber den Westalliierten kapituliert hatte, und forderte eine gemeinsame Zeremonie der Hauptalliierten in Berlin, die für den Abend des 8. Mai angesetzt wurde. So empfahl Eisenhower, nichts bekanntzugeben, solange die Russen nicht zufrieden wären.[5]
Am 8. Mai schlug der Chef des Operationsstabs der Roten Armee, Alexei Antonow, den Westalliierten schließlich vor, jegliche Erklärung einer Kapitulation bis zum Abend des 9. Mai zu verschieben, da es keinerlei Hinweis darauf gebe, dass deutsche Soldaten die Kampfhandlungen in Osteuropa beenden würden.[6]
Doch war es unmöglich, die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation zu unterdrücken. Graf Schwerin von Krosigk, Außenminister in der Regierung des Hitler-Nachfolgers Karl Dönitz, gab sie in einer Radiosendung am Nachmittag des 7. Mai bekannt; noch am selben Abend waren in London jubelnde, fahnenschwingende Menschen auf den Straßen.[7] Churchill entschied, die sowjetischen Befürchtungen zu ignorieren, und bestätigte am folgenden Tag inmitten von Freudenfeiern die deutsche Kapitulation. Für das Vereinigte Königreich und das britische Empire war der 8. Mai VE Day, und im öffentlichen Gedenken an das Kriegsende in Europa ist er das geblieben.
In anderen Ländern wurde das Kriegsende an anderen Tagen gefeiert. Die Nachricht der Kapitulation erreichte New York am frühen Morgen des 7. Mai, und mittags feierten etwa eine halbe Million Menschen den Sieg auf den Straßen von Manhattan. Der Tag wurde zu einer spontanen Feier des alliierten Erfolgs in Europa, gedämpft jedoch durch das Bewusstsein, dass der Krieg im Pazifik noch unvermindert anhielt. In den Vereinigten Staaten wurde der Tag der japanischen Kapitulation, der 15. August 1945, zum eigentlichen Siegestag.
Die Sowjetunion blieb bei der Entscheidung, die Kapitulation nicht vorzeitig bekanntzugeben, und der 9. Mai wurde offiziell als der Tag des Sieges verkündet, nachdem Feldmarschall Keitel – wie von Stalin gewünscht – im Namen des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht auf der Kapitulationszeremonie am Vorabend seine Unterschrift geleistet hatte. In Moskau versammelten sich geschätzte zwei Millionen Menschen, um den Sieg mit tausend Salutschüssen und einer Luftparade mit Hunderten von Flugzeugen, die den Himmel mit leuchtenden Farben überzogen, zu feiern.[8] Der 9. Mai 1945 ist seither in Russland ein eminent wichtiger Gedenk- und Feiertag geblieben.
3 Kommentare
Kommentare
Frank Linnhoff am Permanenter Link
Herzlichen Dank der Redaktion von hpd für diesen ausgezeichneten Artikel.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Hut ab vor der detaillierten Chronologie der vielen Stunden 'Null'!
Aber (gleich zu Beginn): "Die meisten Deutschen wollten nicht zu den Unbilden der Diktatur und eines desaströsen Krieges zurück." Gibt es darüber verlässliche Zahlen? Ich frage mich, wie wenige der 'meisten' Deutschen Anfang Mai 1945 tatsächlich von den 'Unbilden' der Diktatur ablassen wollten oder die Erlösung vom Krieg gar als Befreiung (denn als Niederlage) empfanden. Damals.
Entsprechend korrigiert der Autor (am Schluss seines Beitrags) den ersten hier zitierten Satz: "Diese Erwartung war jedoch naiv. [...]" - der Anfang nach dem Ende hat lange gedauert; m.E. zu lange.
Horst Groschopp am Permanenter Link
Danke, der Artikel zeigt, wie wertvoll empirische Befunde sind und wie hoch sie über Meinungen stehen. Nur zwei kleine Anmerkungen:
2. Zwei Eliten sind weder in den Westzonen, noch in der SBZ entnazifiziert worden: die Pfarrer ("Deutsche Christen"); Ärzte.
Horst Groschopp