Wenn Humanismus praktisch geworden ist

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Heiner Jestrabek (r.), Sven Schirmer und Dr. Wolfgang Proske, zwei seiner Mitvorständler und Feierredner
Heiner Jestrabek (r.), Sven Schirmer und Dr. Wolfgang Proske, zwei seiner Mitvorständler und Feierredner

HEIDENHEIM. Humanismus muss praktisch sein oder er ist nicht, heißt es immer wieder von Seiten des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD). Aber ist das nur eine wohlfeile Formel? Oder wird das "an der Basis" tatsächlich gelebt und wenn ja, wie? Diesen Fragen sollte mit einer Reise nach Heidenheim in Ostwürttemberg nachgegangen werden.

Hier, konkret in der Industriestadt Heidenheim an der Brenz (mit etwa 46.000 Einwohnern), gibt es bereits seit 1987 eine Gruppe organisierter Freidenker, entstanden auf Initiative eines zunächst einzelnen Mitgliedes Heiner Jestrabek und aufgebaut mit Hilfe der benachbarten Ulmer Freidenker: Der Deutsche Freidenker-Verband Ostwürttemberg e.V. (DFV), zunächst als Gruppe innerhalb des Deutschen Freidenkerverbandes (Sitz Dortmund), ab 1995 dann als eigenständiger Verband. Der zunehmende Dogmatismus des Dachverbandes, dessen Hinwendung zu allgemeinpolitischen Fragen bei gleichzeitiger Vernachlässigung freidenkerischer Themen führte zu einer immer autonomeren Tätigkeit der Ostwürttemberger. Doch das befriedigte nicht, denn ohne ein robustes Dach kann die praktische Verbandsarbeit nicht gedeihen. Und mit der Entwicklung der in Stuttgart ansässigen ehemaligen Freireligiösen zu "Die Humanisten Württemberg" (inzwischen Baden-Württemberg), bahnte sich langsam eine Kooperation beider Gruppen an. (Die ehemals "Freireligiösen" in Württemberg verstanden sich traditionell schon immer eher als "Freidenker").

Am 24. Januar 2014 beschlossen dann die Mitglieder des DFV Ostwürttemberg in einer Hauptversammlung einstimmig die Umbenennung in "Humanistischer Freidenker-Verband Ostwürttemberg" (HFV) und den Beitritt als Regionalverband zu den Humanisten Baden-Württembergs, K.d.ö.R. Die Humanisten ihrerseits verliehen ihrem neuen Regionalverband HFV Ostwürttemberg ebenfalls Körperschaftsrechte. Zählte der alte regionale Freidenkerverband nur etwa 50 Mitglieder, so sind es Mitte Mai 2015 durch die Eingliederung von Einzelmitgliedern der Humanisten und Neueintritte bereits 75 geworden. Nicht nur das freut den Vorsitzenden Heiner Jestrabek, denn "durch die Gemeinsamkeit sind wir auch effizienter geworden und unsere Ausstrahlung geht nun über Ostwürttemberg hinaus. Insofern kann man den Beitritt durchaus als 'Liebesehe' bezeichnen."

Wer sind nun die Mitglieder des HFV? Jestrabek: "Es sind vor allem Facharbeiter und Angestellte, aktive Gewerkschaftler, Familienmitglieder und ein paar Akademiker." Und welchen Traditionen fühlt sich HFV verpflichtet? Jestrabek: "Zum einen denen des 1881 gegründeten bürgerlich-demokratischen 'Deutschen Freidenkerbundes'. Dafür stehen die Namen der württembergischen Freidenker Albert Dulk und Jakob Stern. Und zum anderen denen des 1904 gegründeten 'Deutschen Freidenker-Verbandes' (anfänglicher Name 'Verein der Freidenker für Feuerbestattung'), für den der Name Max Sievers steht. Alle freidenkerischen und freigeistigen Strömungen sind in Baden-Würtemberg damit heute gebündelt im Humanistischen Verband Deutschlands."

Nach wie vor versteht sich der HFV deshalb als Kulturorganisation, Interessenvertretung und Weltanschauungsgemeinschaft für Konfessionsfreie und Atheisten. Und diese Selbstbezeichnung ist keinesfalls nur Anspruch, sondern in erster Linie Ausdruck eines tatsächlich praktizierten Humanismus in der Region.

Aus der Fülle der Angebote und Leistungen soll hier nur das Wichtigste vorgestellt werden: Der HFV unterhält in Heidenheim eine eigene Geschäftsstelle mit einer gutsortierten Freihand-Mediathek und einem Versammlungsraum, in dem zweimonatlich "Humanistische Freidenkertreffen" stattfinden. Hinzu kommen gemeinsame Bildungsreisen und Exkursionen.

Für Freidenker war von Anbeginn an eine weltliche Feierkultur prägend. Im Angebot sind derzeit Humanistische Hochzeits- und Partnerschaftsfeiern. Im Vorjahr gab es davon 14, in diesem Jahr haben sich bereits 18 Paare dafür angemeldet. Am meisten gefragt sind Humanistische Trauerfeiern, pro Jahr rund 50. Noch selten sind Humanistische Namensfeiern, nur ein bis zwei pro Jahr. Humanistische Jugendfeiern wurden früher alle zwei Jahre angeboten, mit je drei bis acht Teilnehmern. Seit dem Beitritt zu den Humanisten Baden-Württemberg werden diese Feiern von dort zentral und über die Jungen Humanisten (JuHus) in Stuttgart organisiert. All diese Dienstleistungen werden nicht nur für Mitglieder angeboten, sondern stehen allen Säkularen frei. Als Redner für diese Feiern stehen in Ostwürttemberg neben Heiner Jestrabek vier weitere Humanisten zur Verfügung.

Der HFV führt seit Dezember 2012 eine eigene Arbeitsgemeinschaft "Betreuungen Gegenseitige Hilfe und Kultur" (BGHK). Hier werden gesetzliche Betreuungen im Auftrag der Betreuungsgerichte geführt, gegenwärtig für 20 Personen. Hinzu kommen ehrenamtliche Beratungen für Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen, etwa 50 pro Jahr. BGHK fördert nicht nur die o.g. weltlichen Feiern und die Freihandbibliothek, sondern auch humanistische Projekte im In- und Ausland: das "Atheist Centre Vijayawada" in Indien, die Stiftung des atheistischen türkischen Schriftstellers Aziz Nesin in Çatalca bei Istanbul, Flüchtlingshilfe in Syrien-Kurdistan Rojava und Kobanê, die Humanistische Tagesstätte HUKI in Stuttgart, die Jugendarbeit der JuHus oder die "Geschichtswerkstatt Heidenheim".

Gefördert werden auch die Publikationen der informellen HFV-Arbeitsgemeinschaft edition Spinoza, die Bücher und Broschüren herausgibt. Wer hierüber mehr wissen will, kann sich die diesbezüglichen Rezensionen beim hpd.de und bei freigeist-weimar.de anschauen.

Und wie sieht es nun mit der öffentlichen Wahrnehmung dieser weitgefächerten humanistischen Arbeit aus?

Heiner Jestrabek: "Da möchte ich besonders hervorheben, dass ich als Referent Gelegenheit hatte, im Jahr 2012 im Landtag angehört zu werden, als es um die Novellierung des Bestattungsgesetzes des Bundeslandes ging. Das ist ja in ganz Deutschland noch nicht üblich und das zeigt, dass unsere Arbeit auch auf Landesebene anerkannt wird. Auch über die Lokalpresse können wir uns nicht beklagen, die hiesigen Zeitungen haben keine Berührungsängste gegenüber den ‘Heiden’ und berichten regelmäßig über unsere Aktivitäten. Leider nehmen uns die Kommunalpolitik und die örtlichen Parteien nicht zur Kenntnis, diese reden nach wie vor nur mit den Kirchen."

Dass die Resonanz in der Region bei Veranstaltungen und Angeboten nicht gerade klein ist, das liegt aber auch der Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Partnern; wie den Freidenkern Ulm-Neu-Ulm, den Seniorenakademien, den Gewerkschaftssenioren oder den Naturfreunden, gibt Jestrabek Auskunft.

Was bereitet ihm Sorgen, was wünscht er sich? Heiner Jestrabek sagt dazu ganz offen, dass er sich mehr und vor allem jüngere Mitglieder wünscht. Aber das sei wohl das Problem aller Organisationen heute. Nein, mehr treibt ihn um, dass sein Verband so langsam an seine Grenzen kommt. Denn um die Nachfrage bei den Humanistischen Feiern befriedigen zu können, bedarf es unbedingt weiterer Feierredner. Denn alle agieren bisher ehrenamtlich.

Die acht Tage in Heidenheim, welch ein treffender Name für diese Heimstatt organisierter Humanisten, Freidenker und Atheisten, waren sehr erlebnisreich. Denn es wurde nicht nur ein "Interview" mit dem Vorsitzenden geführt, sondern Gespräche auch mit anderen Aktiven. Vor allem aber konnte der Verfasser dieser Zeilen in der Geschäftsstelle miterleben, mit welchen Anliegen sich wie viele Menschen in dieser kurzen Zeit an den HFV gewendet haben. Ja, die oben genannte Formel ist keine Leerformel, sondern steht beispielgebend für gelebten Humanismus.