Verwandtschaften und Grenzkriege – Wie der Mensch das Tier erdachte

Was uns und dem Faultier gemeinsam ist

BERLIN. (hpd) Grenze oder Kontinuum, das ist hier die Frage. Lässt sich das eine überhaupt ohne das andere verstehen, wenn man Mensch und Tier denkt? Oder ist der Begriff des Kontinuums veraltet in einer Welt, in der nichts eindeutig ist und, zumal wenn es um Leben geht, nichts feststeht. Roland Borgards, Esther Köhring und Alexander Kling haben dazu Quellentexte großer Theoretiker herausgegeben.

Carl von Linné zählte unter die Hominiden, die Menschenartigen, nicht nur alle Affen, sondern auch die Faultiere, nach anderen Quellen die (ebenso kopfüber hängenden) Fledermäuse, aber an weniger offizieller Stelle auch die Engel und die Kopffüßler. Und selbstverständlich den Menschen, der sich damit erstmals unter die Affen eingemeindet fand – oder umgekehrt. Das später so oft in Anspruch genommene Alleinstellungsmerkmal des nackten Affen, die Sprache, ordnete er dem Menschen noch nicht als einzigem zu. Denn sprechen konnten seiner Auffassung nach auch die Papageien.

Das Problem ist eines der Grenzziehung: Wer gehört zu uns, wer nicht? Wie weit reicht der Bereich des Menschlichen und wie weit der des Tierischen? Gibt es Überschneidungen oder Brüche? Diese Frage geht allen Fragen nach Tierrechten und Tierethik voraus. Zur Tiertheorie hat Reclam jetzt einen Band mit Quellen aus 2000 Jahren vorgelegt: "Texte zur Tiertheorie". Von Anfang an gibt es Grauzonen. In seiner Staatstheorie ordnet Aristoteles das Tier dem Menschen unter, wie die Frau dem Mann und den Sklaven seinem Besitzer. In seiner "Geschichte der Tiere" sieht das freilich ganz anders aus. John Berger zitiert in seinem berühmten Essay "Warum sehen wir Tiere an?" eine bemerkenswerte Textstelle, in der Aristoteles seine Beobachtungen festhält: "Denn genauso wie wir auf Ähnlichkeiten in den physischen Organen hinweisen, erkennen wir in einer Reihe von Tieren Sanftmut und Wildheit, Milde und Gereiztheit, Mut und Furchtsamkeit, Angst und Vertrauen, Optimismus und gemeine List und in Hinblick auf die Intelligenz etwas Verwandtes. Einige unterscheiden sich beim Menschen nur in Quantität." Alles ist bei Aristoteles eine Frage der Entwicklung. Auch der Mensch muss erst werden, "... denn in Kindern beobachten wir Spuren und Samen dessen, was eines Tages feste psychologische Gewohnheiten sein werden, obwohl sich ein Kind psychologisch zunächst kaum vom Tier unterscheidet."

Selbst bei Descartes ist die Demarkationslinie nicht so eindeutig zu ziehen. Nach Descartes sind Tiere angeblich ausschließlich Automaten. Doch lesen wir in seinem "Discours de la Méthode", dass bei ihnen Empfindungen reflexartige Reaktionen auslösen. Die Empfindungen wiederum zählt er aber später auch zu den Vermögen des Denkens, womit eben keineswegs nur der rationale Teil des Menschen gemeint ist.

Giorgio Agamben hebt eine Zone des Lebens heraus, in der noch nicht als Menschliches und fast nicht mehr als Menschliches angesehenes und behandeltes Leben angesiedelt ist. Und überlebt als "nacktes Leben". Die Menschenaffen im Zoo, die Koma-Patienten in den Kliniken, die Demenzkranken in Pflegeheimen wäre wohl hier anzutreffen. Man weiß nicht, ob man diese Zonengrenze als eine, die einer waffenlosen Zone gleicht, oder als Todesstreifen bezeichnen soll.

Die Herausgeber des Buches lassen aus der Moderne und Gegenwart besonders die Denker zu Wort kommen, die sich zwar nicht als Autoren den Tieren und der Tierethik verschrieben haben, aber als Leuchttürme ihres Gebiets sinnstiftende Überlegungen auch zu diesem Thema angestellt haben. Hier sind vor allem die französischen Poststrukturalisten zu nennen, zuvor aber auch die Frankfurter Schule. Max Horkheimer und Theodor Adorno kritisieren zuerst die kapitalistische Massentierproduktion, die eine ganz neue Form tierischen Elends hervorbringt, und stellen sie in Zusammenhang mit einer einhergehenden Ausbeutung der Arbeiter. Sie vergleichen sie mit der Ausbeutung der Sklaven und Frauen.

Die Poststrukturalisten hingegen dekonstruieren die Hierarchien, auch die eindeutigen Zuordnungsmöglichkeiten von Individuen zu Gattungen. Gilles Deleuze und Félix Guattari streben weg von der "Summierung und Bewertung von Differenzen", durch die noch der Strukturalismus von Lévi-Strauss funktioniert. Das führt zu überraschenden Konsequenzen. Das Werden ist schließlich nicht bloß Evolution durch Imitation, gegründet auf Herkunft und Abstammung und ihre Mimesis. "Wenn Evolution wirklich Arten des Werdens umfasst, so im weiteren Bereich von Symbiosen, in denen Geschöpfe völlig unterschiedlicher Entwicklungsstufen und Tier- und Pflanzenreich zusammenkommen, ohne dass irgendeine Abstammung vorliegt. Es gibt einen Block des Werdens, der die Wespe und die Orchidee umfasst, aus dem aber keine Wespen-Orchidee hervorgehen kann." (Gemeint sind wohl die Stendelwurz-Orchideenarten, die mit ihren Blütenblättern Wespen- und Hummelleiber imitieren, um sie zur Befruchtung ihrer Blütenstempel anzulocken.) "Wenn der Neo-Evolutionismus seine Originalität unterstreichen konnte, so lag das zum Teil an solchen Phänomenen, in denen die Evolution nicht vom weniger zum höher Differenzierten geht und nicht länger eine abstammungsgeschichtlich und erbschaftsmäßige Evolution ist, sondern vielmehr kommunikativ oder ansteckend wird."

Bruno Latour erweitert die Rechtsgemeinschaft um Wälder, Ströme und Ökosysteme, sozusagen biologische Körperschaften, alles was sich transformiert und dabei Individuen modifiziert, die nun aber bei ihm keine charakteristischen Eigenschaften haben, sondern lediglich "Gewohnheiten". Eine moderne Form des "panta rei" kommt hier zum Ausdruck. Alles fließt. Alles kann sich ändern.

An Donna Haraway ist es, eine weitere Grenze einzureißen, die zwischen Individuum und Umwelt. Ich, das sind auch die Millionen Bakterien und anderen Einzeller, die in mir leben. Sie spricht von "Figurationen", an deren Rändern "Kontaktzonen" entstehen, wie sie es zweideutig nennt. Diese Figurationen seien "materiell semiotische Knoten, in denen sich verschiedene Körper und Bedeutungen gegenseitig formen". Was das heißt? Das Tier prägt auch den Menschen, die beobachteten Wesen den Forscher. Er muss ein Stück weit ihre Sprache sprechen, um die ihre beobachten zu können. So wie die Pavian-Verhaltensforscherin Barbara Smuts, die bemerkte, dass es nicht ausreicht, sich als möglichst unbeobachteter Beobachter unter die Affenhorde zu mischen. Sie musste sich in ihrer Gestik als harmlos, ansprechbares und selbst ansprechendes Wesen ausweisen, um kein Störfaktor mehr unter den Pavianen zu sein. Erst dann kommunizierten diese auch ungehindert auf ihre Weise.

Aber es geht um mehr: Nur wenn wir uns auch als Tier denken, können wir uns als Menschen verstehen, so Jacques Derrida. Und Michel de Montaigne: Wenn die Kommunikation versagt, könnte es nicht unser Versagen sein? Dieser liebenswürdige Montaigne: "Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer sagt, dass sie nicht mit mir spielt?" Nein, es bewegt nicht nur der Naturtrieb die Tiere, anders als die Menschen, die wünschen, wählen und denken können. Von gleichen Ereignissen ist auf gleiche Kräfte zu schließen " ... und folglich zuzugeben, dass eben der Verstand und eben der Weg, die unsere Werke und Wirken bestimmen, im selben Maße auch für sie bestimmend sind, wenn nicht in höherem." Aber was heißt hier höher? Was kann es heute noch heißen?
 


Roland Borgards, Esther Köhring, Alexander Kling (Hrsg.): "Texte zur Tiertheorie", Reclam Verlag Stuttgart 2015, 332 S., 12,80 Euro