Sterbewillige dürfen bei freiverantwortlichem Suizid bis zum letzten Atemzug betreut werden

Strafbarkeit der Suizidbegleitung?

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BERLIN. (hpd) Angehörige und Freunde haben häufig den Wunsch, ihre Eltern oder Partner bei der Durchführung eines Suizids zu begleiten und die letzten Lebensminuten mit dem geliebten Menschen zu verbringen. Auch wer sich zu einem Bilanzsuizid entschlossen hat, will die letzte Reise nicht alleine antreten, sondern "seine Lieben" um sich haben. Es besteht nach wie vor Verunsicherung darüber, ob der Sterbehelfer vor Eintritt der Bewusstlosigkeit des Sterbewilligen den Ort des Geschehens und den Sterbenden verlassen muss, um einer Strafbarkeit zu entgehen oder ob es heute zulässig ist, den Sterbewilligen "bis zum letzten Atemzug" zu begleiten und emotionalen Beistand zu leisten.

Beihilfe zum Suizid straffrei

Die Beihilfe zur Selbsttötung ist nach geltendem Recht straffrei. Voraussetzung hierfür ist, dass der freiverantwortlich handelnde Sterbewillige die sog. Tatherrschaft innehat und er seinen Tod selbst herbeiführt. Der Suizident muss also das tödliche Medikament selbst einnehmen oder die tödliche Spritze selbst setzen. Der Sterbewillige muss gleichsam "das Geschehen in der Hand haben". Die den Tod herbeiführende Handlung muss immer der Sterbewillige selbst vornehmen, der Sterbehelfer darf nur unterstützende Handlungen ausführen. Der Sterbehelfer darf die tödlich wirkende Spritze vorbereiten, aber nicht die Injektion vornehmen. Unter diesen Voraussetzungen ist die Sterbehilfe zunächst straffrei. Denn wer bei einem freiverantwortlichen Suizid Hilfe leistet, fördert kein Unrecht. Diese Rechtslage ist unbestritten. Warum muss sich ein Sterbebegleiter dann Gedanken machen, ob er den Sterbewilligen auf seinem letzten Weg begleiten darf ohne in die Mühlen der Strafjustiz zu geraten? Dies hat seinen Hintergrund in einer eigenwilligen Konstruktion der Rechtsprechung, die in den 1950-er Jahren entwickelt wurde.

Rettungspflicht bei Bewusstlosigkeit?

Der Bundesgerichtshof hat eine strafrechtliche Rechtspflicht konstruiert, nach der das Leben eines bewusstlos gewordenen Sterbewilligen auch gegen dessen freiverantwortlich erklärten Willen zu retten ist. Mit Eintritt der Bewusstlosigkeit tritt nach dem BGH ein sog. Tatherrschaftswechsel ein: Verliert der Sterbewillige das Bewusstsein, muss der anwesende Sterbehelfer die Rettung einleiten, also Wiederbelebungsmaßnahmen ausführen oder den Notarzt rufen. Bei einem Verstoß gegen diese Verpflichtung droht einem Garanten (behandelnder Arzt/Angehöriger) eine Bestrafung wegen Tötung durch Unterlassen (§ 212 StGB), einem Sterbehelfer ohne Garantenstellung eine Bestrafung wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB). In der sog. Peterle-Entscheidung hat der BGH selbst den behandelnden Arzt zum lebensrettenden Eingriff gegenüber einem freiverantwortlich handelnden Patienten verpflichtet, wenn dieser infolge von Bewusstlosigkeit die Tatherrschaft über das Geschehen verloren hat. Diese Rechtsprechung hat schon immer Kritik hervorgerufen, hat aber die Begleitung Sterbewilliger in den letzten Jahrzehnten geprägt und zahllose Angehörige gezwungen, Sterbewillige bei Umsetzung ihres Suizidwunschs allein zu lassen.

Unveränderte Rettungspflicht?

Besteht diese Verpflichtung einen freiverantwortlichen Suizid zu verhindern weiterhin oder ist diese über Jahrzehnte (häufig unreflektiert) vertretene Ansicht überholt? Eine gesetzliche Regelung dieser Frage ist nach wie vor nicht vorhanden. Auch der BGH hatte bisher keine Gelegenheit, sich ausdrücklich mit dieser Frage auseinander zu setzen und seine Rechtsansicht zu korrigieren: Der BGH hat aber in einer Vielzahl von Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen am Lebensende der Vorrang vor paternalistischen oder weltanschaulich geprägten Entscheidungen Dritter einzuräumen ist. Eine Analyse der Entscheidungen der Rechtsprechung führt zum Ergebnis, dass ein frei verantwortlicher Bilanzsuizid weder einen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB darstellt noch eine Handlungspflicht eines Garanten bei Eintritt der Bewusstlosigkeit hervorrufen kann.

Für den Wegfall der Pflicht, freiverantwortliche Suizide zu verhindern, spricht auch das 2009 in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz, das den rechtlichen Beurteilungsmaßstab bestimmt, wie zu verfahren ist, wenn der Patient vor Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit eine weitere ärztliche Behandlung abgelehnt hat: Das jetzt gesetzlich geregelte Verbot ärztlicher lebensrettender Interventionen gegen den Willen des Einwilligungsunfähigen gilt unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung auch dann, wenn der Patient die Erkrankung selbst verschuldet hat oder ausreichende medizinische Möglichkeiten bestehen, den Eintritt des Todes zu verhindern.

Mit dieser Entscheidung des Gesetzgebers ist es nicht mehr zu vereinbaren, einen erkennbar freiverantwortlichen Suizid als einen jedermann zur Hilfeleistung verpflichtenden Unglücksfall anzusehen mit der Folge, dass jeder mit Strafe bedroht wäre, der den vom Gesetzgeber für maßgeblich erklärten Patientenwillen beachtet und dem freiverantwortlich in Gang gesetzten Suizidversuch seinen Lauf lässt. Eine Rettungspflicht steht in einem eklatanten Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht am Lebensende. Es ist im Gesetz ausdrücklich klargestellt, dass keine Pflicht zur medizinisch möglichen Lebensverlängerung besteht, wenn der Patient diese nicht mehr will – unabhängig davon, ob eine zum Tode führende Krankheit vorliegt oder nicht, einerlei ob medizinische Behandlungsmöglichkeiten bestehen oder nicht. Diese Regelungen gelten sinngemäß auch beim freiverantwortlichen Suizid.

Änderung der Rechtspraxis

Mittlerweile sind erste Entscheidungen der Justiz nachweisbar, die dieser geänderten Rechtlage Rechnung tragen. Soweit die Rechtsprechung bisher die Garanten (z.B. nahestehende Personen/behandelnder Arzt) auch gegenüber einem frei verantwortlich handelnden Suizidenten zu lebensrettenden Maßnahmen verpflichtet sah, sobald der Sterbewillige infolge Bewusstlosigkeit die Tatherrschaft über das Geschehen verloren hatte, folgt die aktuelle Rechtsprechung dieser rigiden, widersprüchlichen und kaum zu begründenden Konstruktion nicht mehr: Mehrere Staatsanwaltschaften haben Ermittlungsverfahren gegen die Familienangehörigen wegen Tötung durch Unterlassen eingestellt, da das Selbstbestimmungsrecht des freiverantwortlichen Suizidenten auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit zu beachten ist und nicht gegenstandslos wird.

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft München und des Landgerichts Deggendorf läuft diese Sichtweise dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten zuwider und ist spätestens seit Inkrafttreten des § 1901 a Abs. 2 und 3 BGB gesetzlich überholt. Zweck dieser Vorschrift sei es, jede freiverantwortliche Entscheidung des Betroffenen – unabhängig von Art und Stadium seiner Erkrankung – zu achten: Auch wenn diese Regelung sich vornehmlich auf den Behandlungsabbruch bezieht, strahlt diese Vorschrift aus dem Betreuungsrecht auch auf die im Strafrecht vorzunehmenden Wertungen – auch hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechtes eines Suizidenten – aus.

Was muss beachtet werden?

Auch wenn die Justiz mittlerweile den richtigen Weg für die Handhabung der Sterbebegleitung freiverantwortlicher Suizidenten gefunden hat, wird in vergleichbaren Fällen u. U. die Kriminalpolizei ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einleiten: Wenn ein freiverantwortlicher Bilanzsuizid vorliegt, muss dieses Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden. Dass ein solches Ermittlungsverfahren für den Sterbebegleiter eine Belastung darstellt, ist nachvollziehbar – auf der anderen Seite kann es nicht grundsätzlich beanstandet werden, dass die Behörden Todesfälle untersuchen (müssen): In Fällen des Bilanzsuizids ist es mehr eine Frage des „Wie“, weniger des „Ob“ einer behördlichen Untersuchung.

Um dem Gebot des sichersten Weges Genüge zu tun, sollte der Sterbewillige nicht nur eine Patientenverfügung, sondern auch eine Freitodverfügung hinterlassen und gleichzeitig die Sterbebegleiter schriftlich von den Garantenpflichten befreien. Ob man sich vom Hausarzt zusätzlich eine Bestätigung über die Einsichtsfähigkeit und Selbstbestimmtheit des Suizidwunschs erteilen lässt, ist eine Frage des Einzelfalls. Das Vorhandensein dieser Erklärungen wird einen zügigen Abschluss möglicher polizeilicher Ermittlungen ermöglichen, soweit solche überhaupt veranlasst sind.

Ausblick

Die Diskussion um ein strafrechtliches Verbot kommerzieller Sterbehilfe hält unverändert an. Die hieraus resultierenden Gesetzentwürfe dürfen nicht dazu führen, dass gleichsam durch die Hintertür die Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe gestellt wird und nur noch in Ausnahmefällen die Sterbebegleitung durch Ärzte straffrei bleibt. Einen Rückfall in die 1950-er Jahre kann niemand gutheißen. Nahestehende Personen und Ärzte müssen auch künftig frei verantwortliche und selbst bestimmte Suizidenten bis zu deren letzten Atemzug begleiten dürfen. Dies ist nicht nur rechtlich geboten, sondern auch eine Frage der Mitmenschlichkeit.


Dieser Artikel erschien zuerst im aktuellen Heft der DGHS-Zeitschrift "Humanes Leben Humanes Sterben"