Podiumsdiskussion in Berlin

Steht der Paragraph 217 StGB auf der Kippe?

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Das Podium: Dr. Wieland Schinnenburg, Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher, Katja Keul, Dr. Michael Schmidt-Salomon, Dr. Petra Sitte, Prof. Robert Roßbruch und Dr. Edgar Franke (v.l.n.r.)
Das Podium

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Erst am Montag sendete die ARD eine Reportage über verhinderte Sterbehilfe in Deutschland und das unsägliche Leid der Betroffenen. Insbesondere auch der offene Rechtsbruch, den Gesundheitsminister Spahn mit seiner Anordnung an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beging, die Anträge Schwerstkranker entgegen höchstrichterlichem Beschluss, den Kauf von Natrium-Pentobarbital (NaP) in "extremen Notlagen" zu verwehren, erregt die Menschen.

Die Redaktion des hpd erreichten in den Tagen seit Montag einige Mails, in denen Menschen um Rat fragten. Und auch – sichtlich erregte – Zuhörer der Podiumsdiskussion am Mittwoch wollten wissen, weshalb es für den Gesundheitsminister keinerlei Konsequenzen habe, sich diktatorisch klar gegen einen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig zu verhalten. Eine die Fragenden befriedigende Antwort konnte keiner der auf dem Podium sitzenden Politiker liefern.

Das waren zu diesem Zeitpunkt Dr. Petra Sitte (Die Linke), Dr. Edgar Franke (SPD) und Dr. Wieland Schinnenburg (FPD). Katja Keul (B90/Die Grünen) musste die Veranstaltung wegen eines anderen Termins leider etwas früher verlassen. Mit auf dem Podium saßen zudem Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher (Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, DGHS) und der Rechtsanwalt Prof. Robert Roßbruch (Vizepräsident der DGHS), der unter anderem auch in dem jüngst Aufmerksamkeit erregenden Fall vor dem Verwaltungsgericht Köln beteiligt war. Die Diskussion leitete der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Dr. Michael Schmidt-Salomon.

Das interessierte und – wie sich später an den Fragen zeigte – auch informierte Publikum im gut besuchten, aber nicht ganz vollen Saal des Berliner Kinos Babylon konnte leider kein echtes Streitgespräch auf dem Podium erwarten. Der in der Einladung noch angekündigte Vertreter der AfD durfte an der Podiumsdiskussion nicht teilnehmen: Das Kino Babylon drohte, die gesamte Veranstaltung abzusetzen, wenn ein Vertreter der AfD auf dem Podium Platz nehmen würde. Dies wurde vom Publikum mehrheitlich kritisch gesehen. So waren sich alle Anwesenden grundsätzlich einig, dass der Paragraph 217 vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. Allerdings gingen die Meinungen darin auseinander, ob der Paragraph komplett als verfassungswidrig erklärt wird oder ob das BVerfG dem Gesetzgeber nur eine Veränderung der Regelungen anheimstellen wird.

So sagte Prof. Roßbruch in einem ersten Statement, dass die erste Frage, die sich einem Juristen stellt, die ist, ob die Regelung der Sterbehilfe überhaupt in das Strafgesetzbuch gehört. Dies sei die "schärfste Waffe, die dem Rechtsstaat zur Verfügung" stehe. Das wäre auch bei der Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht diskutiert worden. "Wir sind aufgrund der sehr gezielten Fragen [des Bundesverfassungsgerichts] an die Gegenseite sehr optimistisch, dass dieser Paragraph 217 in dieser Form keinen Bestand haben wird." Prof Roßbruch geht davon aus, dass "das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgeben wird, eine gesetzliche Alternative zu entwickeln."

Dr. Franke von der SPD, der sich – wie alle Politiker auf dem Podium – im Jahr 2015 gegen die Kriminalisierung der Sterbehilfe aussprach, bekannte, dass er "sich schwer getan" habe bei der Entscheidung und ebenfalls meinte, dass "ein Geschäft mit dem Tod ethisch nicht zu vertreten" sei. Auch er sei sich Anfang der Debatte noch unsicher gewesen, ob nicht mit der Freigabe eine "Tür aufgestoßen" werde und es dazu kommen könnte, dass die Gesellschaft oder das familiäre Umfeld Druck auf Schwerstkranke ausüben würden. Doch für ihn wären letztlich die Argumente überzeugender gewesen, die auf eine Selbstbestimmung – auch die des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient – abzielen. Das Strafrecht sei auch für ihn das falsche Mittel, um die Sterbehilfe zu regeln. "Ich glaube, man könnte ein Gesetz machen, dass die Voraussetzungen, die das Bundesverwaltungsgericht aufgestellt hat, normiert und dabei Bezug auf das Strafrecht nimmt." Dr. Franke stellte weiter fest, dass es schon immer problematisch war und sich durch den Paragraphen 217 noch weiter verschärfte, wenn zum Beispiel Palliativärzte "terminale Sedierungen" durchführen, die ja das Sterben verkürzen. Hier wird es schwer sein, die Grenzen zur Straftat nach Paragraph 217 zu ziehen. Es gibt daher auch Ärzte, "die das als Eingriff in ihre Berufsfreiheit sehen". Er schloss mit dem Worten: "Der 217 schadet mehr als er nützt."

Katja Keul (B90/Die Grünen) hat seinerzeit ebenfalls einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der den Status quo erhalten sollte. "Alle anderen vier Gruppen [von Antragstellern] hatten Gesetzesänderungen eingebracht, von denen meines Erachtens keine funktionierte." Niemand jedoch verteidige die bestehende Rechtslage und so habe sie den fünften Gruppenantrag initiiert, "einfach kein Gesetz zu machen", da sie davon ausgehe, dass der Paragraph 217 verfassungswidrig sei. Für sie sei durch die mündliche Verhandlung deutlich geworden, dass das auch das BVerfG so sehe: "So deutlich hat sich das Bundesverfassungsgericht noch nie aus dem Fenster gelehnt." Wenn das Gericht den Paragraphen tatsächlich dann für verfassungswidrig hält, wäre das eine ganz besondere Entscheidung, "das wäre das erste Mal, dass das Verfassungsgericht eine Strafnorm streicht, weil das Unrecht, das dort geahndet werden soll, einfach keinen strafrechtlichen Gehalt hat."

Katja Keul und Michael Schmidt-Salomon, Foto: © Frank Nicolai
Katja Keul und Michael Schmidt-Salomon, Foto: © Frank Nicolai

Dr. Wieland Schinnenburg (FPD) hielt sich zurück, was das Urteil des Bundesverfassungsgerichts angeht. Er praktiziere selbst als Anwalt und wisse, dass man immer wieder mit Überraschungen bei Urteilen rechnen muss. Doch er selbst hoffe, "dass der Paragraph aufgehoben wird." Er halte diese Regelung "für mindest verunglückt", könne aber verstehen, weshalb der Gesetzgeber eine Regelung vorsehen würde. Er rief den Sterbehilfeverein des Herrn Kusch aus Hamburg in den Sinn, von dem er gehört habe, dass dieser "schlimme Dinge macht". Dem müsse ein Riegel vorgeschoben werden. Dann allerdings nicht mit dem Strafrecht und schon gar nicht mit diesem Paragraphen. Für ihn wäre klar, dass das ebenso gut im Zivilrecht oder im Standesrecht der Ärzte geregelt werden könne. "Ich kann mir bei 99,9 Prozent der Ärzte nicht denken, dass sie sich leuchtfertig an Sterbehilfe beteiligen würden." Die FDP habe im Bundestag schon in der Voraussicht, dass der Paragraph vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wird, einen Antrag eingereicht, ein neues Gesetz zu schaffen, das die Selbstbestimmung der Patienten – zusammen mit den Ärzten – gewährleistet." Er zitierte abschließend den Richter Voßkuhle, der betonte, dass der Staat das Leben der Menschen schützen müsse. "Er darf aber nichts tun – und schon gar nicht strafbewehrt –, das die freie Entscheidung für den Selbsttod behindert."

Bei der Entscheidung des Bundestages, den Paragraphen 217 in das Strafgesetzbuch zu übernehmen, hat Dr. Petra Sitte von den Linken deutlich widersprochen. Deshalb fragte Michael Schmidt-Salomon, ob sie sich von der Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht bestätigt fühle. "Wir haben schon damals davon gesprochen, dass es sich um einen Verbotsparagaphen handle." Sie und Renate Künast (B90/Die Grünen) wollten damals vor allem ein Gegengewicht in der Diskussion setzen, "nachdem wochenlang wirklich nur über Verbote geredet wurde". Und das entsprach weder dem Abbild der Gesellschaft noch dem der Notwendigkeiten. Ursprünglich wollten sie "das alles so bleibt wie es ist: Also seit 1948 […]. Nie hat irgendjemand, einschließlich der Väter und Mütter des Grundgesetzes, es für notwendig gehalten, an dieser Stelle irgendwelche Regelungen zu treffen." Und wegen eines einzigen Sterbehilfevereins in Hamburg "springt der Bundestag auf wie ein Haufen Hühner" und macht deshalb eine gravierende Änderung im Strafrecht. Für sie waren es insbesondere die vernachlässigten Interessen der Betroffenen und deren Angehörigen, die sie zu ihrem Antrag brachte.

Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher, Foto: © Frank Nicolai
Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher, Foto: © Frank Nicolai

Als letzter auf dem Podium sprach der Präsident der DGHS,Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher. Gefragt nach seiner Einschätzung, antwortete er: "Aus rechts-ethischer Sicht halte ich den Paragraphen 217 mit den Grundwerten unserer Gesellschaft für nicht vereinbar." Angefangen damit, dass die Rechtsnorm zu unbestimmt sei. "Schon allein das Verfügenstellen eines Raumes, in dem jemand Suizid ausüben kann, wäre von diesem Gesetz betroffen." Das würde viele Ärzte in eine Grauzone bringen, die keinesfalls gewollt sein kann. "Ich denke dabei auch an das immer stärker nachgefragte Verfahren des Sterbefastens, […] das […] ein Problem in vielen palliativmedizinischen Einrichtungen ist." Die Menschen würden nach Auswegen suchen, weil sie durch das Gesetz den Ausweg einer (attestierten) Selbsttötung nicht mehr haben. Und die Ärzteschaft ist sich erstaunlich einig darin, das Sterbefasten zu legitimieren. Allerdings ist der Paragraph 217 hier ein Hindernis, bringt er doch Ärzte in die Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden, da das als eine Beratung zur Selbsttötung gelten könnte. "In der am Montag ausgestrahlten Sendung in der ARD hat der Gesundheitsminister behauptet, die Zahl der Suizide würde steigen in Folge des 'Nichtverbots' der Sterbehilfe." Das widerspricht allen bisherigen Forschungsergebnissen. "In der Schweiz werden jetzt Statistiken gemacht, die die Fälle von Sterbehilfe und attestiertem Suizid sorgfältig unterscheidet von der Suizidstatistik und da zeigt sich, dass die restlichen Suizide nicht steigen." Sondern im Gegenteil zurück gegangen sind. Es wird also bewusst gelogen, um – wie Prof. Birnbacher vermutet – weltanschauliche Ansichten zu überdecken. "Das ist eine Auffassung, die vor die Aufklärung zurückweist und die unserem Staat, der ja auf den Fundamenten der Aufklärung fußt und nicht auf christlichem Dogma" nicht gut zu Gesicht stehe. Für ihn sei das "ein Zurückgehen in mittelalterliche Zeiten."

… und wie geht es weiter?

Was wird passieren, wenn das Bundesverfassungsgericht den Paragraphen 217 einkassiert? Das sei – so Schmidt-Salomon – doch "die denkbar schlimmsten Klatsche für einen Politiker, wenn man ein verfassungswidriges Gesetz beschlossen" habe.

In der anschließenden Diskussion sagte Dr. Franke (SPD), dass er sich für den (oben erwähnten) Gesetzesentwurf der FDP im Bundestag ausgesprochen habe. Er gehe davon aus, dass nicht nur er, sondern viele Bundestagsabgeordnete nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts "ins Grübeln gekommen" sind. Fraktionsübergreifend sind sich Bundestagsabgeordnete einig, dass die Reglungen überarbeitet werden müssen. Er sei entsetzt gewesen, als Frank Montgomery, der damals noch Chef der Bundesärztekammer gewesen sei, im Gesundheitsausschuss sagte, er würde das Urteil des Gerichts nicht umsetzen. Auch das Verhalten des Bundesgesundheitsministers kritisierte Dr. Franke scharf: Dass dieser "eine oberste Bundesbehörde anweist, ein höchstrichterliches Urteil nicht umzusetzen" sei einer Demokratie unwürdig.

Michael Schmidt-Salomon und Dr. Petra Sitte, Foto: © Frank Nicolai
Michael Schmidt-Salomon und Dr. Petra Sitte, Foto: © Frank Nicolai

Die Bundestagsabgeordnete Dr. Petra Sitte (Die Linke) stellte noch einmal klar, dass die damaligen Anträge Gruppenanträge waren und es eben keine Fraktionen waren, die diese stellten. "In einer solch gravierenden Frage gilt der Fraktionszwang nicht." In allen Fraktionen gibt es Menschen mit völlig unterschiedlichen Wertekonzepten. Deshalb gehe es in allen ethischen Fragen nicht um die persönliche Meinung, "für mich und alle anderen gilt allein das Grundgesetz. Ich habe als Politikerin im Bundestag nur das zu beschließen, was Menschen in diesem Land ermöglicht, ihre Wertekonzepte zu leben", ohne die Freiheit anderer zu beschneiden.

Man müsse auch dringend über Suizidprävention reden, fuhr Sitte fort. Das sei in der Debatte völlig untergegangen.

Schmidt-Salomon erinnerte an den Brief der damaligen Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckert, in dem sie damals die Fraktion aufforderte, der Kriminalisierung der Sterbehilfe zuzustimmen. Ob das noch heute möglich wäre, fragte er Katja Keul (B90/Die Grünen). "Es gibt keine Fraktionsposition!", antwortete diese. Deshalb sei die Frage falsch gestellt. Sie könne nur sagen, dass nicht nur sie sehe, dass es einen Widerspruch zwischen dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts und dem Paragraphen 217 gibt. Und auch wenn sie das Verhalten des Bundesgesundheitsministers in dieser Sache für unzulässig hält, gehe sie davon aus, dass "im Moment nichts passiert, weil alle auf das Urteil des Verfassungsgerichts warten." Aber dieser Widerspruch müsse aufgelöst werden; darin sind sich alle einig. Es bedarf dringend einer Regelung im Arzneimittelgesetz. "Man wird sich Gedanken machen müssen – gerade dann, wenn der 217 fällt – wie und unter welchen Umständen" kann die Abgabe "eines todbringenden Medikaments" erfolgen.

Prof. Roßbruch ging noch einmal auf Einzelheiten der Verweigerung der Gesundheitsminister Röhe und Spahn ein. Er nennte das eine rechtsstaatliche Katastrophe: Da "fordert […] das Bundesgesundheitsministerium […] eine Behörde auf, generell Anträge abzuweisen, obwohl eine Behörde verpflichtet ist, jeden Antrag individuell zu prüfen." Er bezeichnete das Verhalten der beiden Gesundheitsminister als menschenverachtend und zynisch. Insofern sei die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln ein deutlicher Hinweis an alle Abgeordneten und Politiker, etwas zu tun.

Dr. Wieland Schinnenburg, Foto: © Frank Nicolai
Dr. Wieland Schinnenburg, Foto: © Frank Nicolai

Dr. Wieland Schinnenburg (FPD) stellte den Fall noch einmal dar, der in Köln verhandelt wurde. Er wies vor allem noch einmal darauf hin, dass der Fall seit 2003 verhandelt wird und erst durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurden deutsche Gerichte 2012 damit beauftragt, den Fall zu verhandeln. Die Gerichte hatten das abgelehnt, da die Betroffene in der Schweiz Sterbehilfe bekam. Und erst 13 Jahre nach dem Tod der Betroffenen urteilte das Oberverwaltungsgericht. "Das allein ist schon schlimm genug." In solchen Verfahren, "wo man als Betroffener vielleicht Wochen warten kann oder Monate" sei das ein unerträglicher Zustand.

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