Interview mit Bettina Jarasch (Bundesvorstand Bündnis 90/Die Grünen)

Säkulare, Humanisten und liberale Muslime finden mehr Gehör

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Bettina Jarasch, Landesvorsitzende von B90/Die Grünen
Bettina Jarasch

BERLIN. (hpd) Seit mehr als einem Jahr arbeitet im Auftrag des Bundesvorstandes der Grünen eine Kommission zur hochaktuellen Thematik "Weltanschauung, Religionsgemeinschaften und Staat". Die Kommission, auch als "Religionskommission" bezeichnet, soll ein Grundsatzpapier für eine vertiefte Diskussion innerhalb der Partei liefern.

Ursprünglich sollte bereits vor zwei Monaten ein Abschlussbericht vorgelegt werden. Das ist jetzt auf November verschoben worden, denn erst Ende Oktober wird dann die wohl vorläufig letzte Kommissionssitzung stattfinden. Dem Vernehmen nach gab es erheblichen Diskussionsbedarf zu einem Positionspapier zu "Pluralität".

Der hpd sprach mit der Kommissionsleiterin Bettina Jarasch (Mitglied des Bundesvorstands Bündnis 90/Die Grünen und Berliner Landesvorsitzende).
 

hpd: Frau Jarasch wie beurteilen Sie die Arbeit der Kommission jetzt kurz vor dem Abschlussbericht? Hat sich der Aufwand gelohnt?

Bettina Jarasch: Auf jeden Fall. Die Leitung der Kommission gehört zu den spannendsten Aufgaben, die ich je hatte: Wir haben in der Kommission einen Ort für Debatten geschaffen, die dringend gesamtgesellschaftlich auf die Agenda gehören, für die es aber anderswo kaum Orte gibt. Dabei ging es oft hoch her und wir haben hart miteinander gerungen, aber wir haben es geschafft, gemeinsame Linien zu entwickeln.

Unser Ziel ist ein Umgang mit Religion und Weltanschauung in unserem säkularen Staat, der den Veränderungen der Gesellschaft gerecht wird und Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Gleichbehandlung und Pluralität gewährleistet. Wir schlagen eine Reihe von Gesetzesänderungen vor, und das war ein hartes Stück Arbeit.
 

Ist Ihnen bekannt, ob es vergleichbare Diskussionen zu diesem Themengebiet auch in anderen Parteien gibt?

Nein, nicht dass ich wüsste. SPD und CDU haben schon in ihrem Koalitionsvertrag in diesen Fragen ausschließlich auf Bewahrung des status quo gesetzt – und auch in anderen Parteien gibt es entweder keinen Bedarf an Diskussion oder sie wird nicht gewünscht. Dabei gibt es diesen Bedarf in der Gesellschaft umso mehr. Viele Menschen sind uns ausdrücklich dankbar dafür, dass wir diese Debatte führen und Anstöße geben – übrigens gerade auch in kirchlichen Kreisen.
 

Es ist von Verzögerungen beim Thema "Pluralität" zu hören. Für wann ist denn mit dem Abschlussbericht zu rechnen?

Der Umgang mit Pluralität ist tatsächlich ein sehr weites Feld, dabei geht es nicht nur um gesetzlichen Änderungsbedarf, sondern um gesellschaftspolitische Fragen. Wir wollen beispielsweise schaffen, dass in öffentlichen Gremien wie den Rundfunkräten, bei öffentlichen Debatten oder Gedenkveranstaltungen wie jüngst der Trauerfeier nach dem Germanwings-Absturz nicht immer nur die üblichen Repräsentanten von Religionsgemeinschaften einbezogen werden.

Intensiv diskutiert haben wir aber auch unsere Haltung gegenüber den muslimischen Verbänden, die den Status als Religionsgemeinschaft und dann auch als Körperschaft öffentlichen Rechts anstreben. Und wir haben unsere Vorschläge nochmals vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise überprüft, denn uns ist bewusst, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen, die ja großteils aus muslimisch geprägten Ländern kommen, uns auch religionspolitisch vor neue Aufgaben stellt.
 

Und wie soll es jetzt weitergehen?

Unser Abschlussbericht wird hoffentlich noch vor dem Bundesparteitag im November veröffentlicht. Wir wollen das nächste Jahr nutzen, um die Debatte in die Partei und in die Öffentlichkeit zu tragen. Dazu planen wir eigene Veranstaltungen – sind aber auch gerne bereit, mit Verbänden, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die uns zum Gespräch einladen, über unsere Vorschläge zu diskutieren. Beim Parteitag im Herbst 2016 wird der Bundesvorstand dann auf der Grundlage des Abschlussberichts der Kommission einen Leitantrag vorlegen. Ich freue mich jetzt schon auf die Diskussionen und Gespräche in den nächsten Monaten.
 

Bei Konfessionsfreien, Atheisten, Humanisten usw. ist der Eindruck entstanden, dass ihre Belange bei den Grünen nicht hinreichend beachtet werden, oder anders, dass die Grünen zu nah bei den beiden großen christlichen Kirchen sind. Was meinen Sie dazu?

Das ist zum Teil eine Frage der Repräsentanz: Viele Kirchenungebundene und Konfessionslose sind sehr individualistisch und gehören daher keiner Organisation an, die sie vertreten könnte. Auch in unserer Partei gibt es erst seit kurzem einen Zusammenschluss der Säkularen Grünen, während es beispielsweise schon seit vielen Jahren einen Zusammenschluss der ChristInnen bei den Grünen gibt.

Aber hier hat die Kommission – in der Grüne mit und ohne Konfessionszugehörigkeit gleichermaßen vertreten sind – schon Wirkung gezeigt: der Bundesvorstand plant derzeit nach den Spitzengesprächen mit dem Zentralrat der Juden, mit katholischer und evangelischer Kirche sowie mit muslimischen Verbänden auch ein Spitzengespräch mit säkularen Weltanschauungsgemeinschaften, die im Koordinierungsrat der säkularen Organisationen (KORSO) zusammengeschlossen sind – und übrigens auch ein weiteres, zu dem wir gezielt VertreterInnen liberaler muslimischer Verbände einladen. Ich denke, wir sind da auf einem guten Weg.
 

Sowohl beim Thema "Knabenbeschneidung" als auch beim Thema "Sterbehilfe" ist der Eindruck entstanden, dass Bündnis 90/Die Grünen politisch umstrittene, heikle Themen gar nicht erst in der Partei diskutiert, sondern dass die Bundestagsfraktion gewissermaßen macht, was sie will. Wurde auch hierüber in der Kommission gesprochen?
Aus Kommissionskreisen ist zu hören, dass noch eine Positionsbestimmung zum Thema "Umgang mit ethischen Debatten" stattfinden soll. Können Sie uns zu diesem Thema etwas verraten?

Alle politischen Fragen haben auch eine ethische Dimension. Dennoch gibt es einige wenige Themen, die so eng mit fundamentalen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen verbunden sind, dass Abgeordnete unter echten Gewissensdruck geraten, wenn sie sich in ihrem Abstimmungsverhalten durch Mehrheitsbeschlüsse auf Parteitagen gebunden fühlen. Das hat dazu geführt, dass wir beispielsweise beim Thema Beschneidungen, aber auch in der Frage der organisierten Sterbehilfe auf Parteitagen beschlossen haben, auf eine Abstimmung zu verzichten.

Umso wichtiger ist es allerdings, dass wir einen Weg finden, die Debatte über solche ethisch relevanten Themen dennoch zu führen. Schließlich ist es als Partei unser Auftrag, zur Meinungsbildung in der Bevölkerung beizutragen. Ich glaube, dass wir dafür eine neue Kultur brauchen, die müssen wir allerdings erst gemeinsam entwickeln, die kann man nicht verordnen. Der Kommission liegen dafür Vorschläge vor.
 

Ich möchte noch einmal ganz konkret am Beispiel "Knabenbeschneidung" nachfragen. Dazu wurde vom früheren Bundesvorstand eine Parteidebatte zugesagt, dann die Diskussion in die Kommission verschoben. Zu hören ist, dass dort aber wohl außer den Säkularen Grünen niemand an das Thema heran will. Also: Thema erledigt?

Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass der Bundestag diese Frage neu geregelt und damit auch eine Debatte vorerst beendet hat, in der leider immer wieder auch antisemitische und antimuslimische Stimmen zu hören waren. Die Kommission wird das Gesetz nicht in Frage stellen, es gibt allerdings den Vorschlag, das Gesetz in einigen Jahren zu evaluieren um zu prüfen, ob es die erhofften Verbesserungen in der Praxis wirklich erbracht hat.
 

Die Säkularen Grünen haben erst kürzlich wieder für die Eröffnung einer Debatte mit von Beschneidung betroffenen Männern, Kinderschutzorganisation usw. plädiert, in die auch die jüdischen und muslimischen Communities eingebunden werden. Dort scheint die Zahl der Beschneidungsgegner oder zumindest der Beschneidungsskeptischen gegenüber 2012 gestiegen zu sein. Wäre es nicht attraktiv für die Grünen in dieser Angelegenheit einen gesellschaftlichen Dialog anzustoßen?

Ich begrüße es, wenn es eine solche Debatte innerhalb der jüdischen und muslimischen Community gibt. Und natürlich kann es auch aus der Partei heraus einen Beitrag zu einer solchen Debatte geben. Ich habe als Berliner Landesvorsitzende bereits im Vorfeld der Bundestagsentscheidung eine solche Veranstaltung organisiert. Voraussetzung ist für mich, dass die Debatte Beschneidungsbefürworter und –gegner gleichermaßen zu Wort kommen lässt, sensibel geführt wird und dass die jüdische und muslimische Community eingebunden wird. An einer solchen Veranstaltung beteilige ich mich gerne, erste Vorgespräche gab es bereits.
 

Eine letzte Frage noch: zu den Säkularen Grünen. Der Bundesweite Arbeitskreis Säkulare Grüne existiert jetzt zweieinhalb Jahren und ist mittlerweile in sieben Landesverbänden organisiert. Es heißt, dass jetzt die Bildung einer Bundesarbeitsgemeinschaft angestrebt wird. Wie ist Ihre Position hierzu und geben Sie eine Prognose, ob bzw. wann die Säkularen Grünen "Bundesarbeitsgemeinschaft" sein werden?

Bundesarbeitsgemeinschaften (BAG) sind so etwas wie die Think Tanks der Partei, sie können eigenverantwortlich Veranstaltungen machen und haben auch einen gemeinsamen Finanztopf, sprich die Partei stellt aus ihrem Haushalt Geld zur Verfügung. Im Gegenzug wird erwartet, dass eine BAG mindestens in sechs Landesverbänden vertreten und in der Lage ist, Beiträge zur programmatischen Weiterentwicklung von Bündnis 90/Die Grünen zu leisten. Die Säkularen Grünen haben sich in wichtige Debatten der letzten Zeit mit eigenen Beiträgen eingebracht, ich wüsste nicht, was dagegen spricht, dass sie auch Bundesarbeitsgemeinschaft werden.
 

Frau Jarasch, vielen Dank für das Interview.
 

Das Interview führte Karl Albert für den hpd.

Informationen zur grünen Kommission "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat": bettina-jarasch.de/religionskommission