Eine Art Biografie

Joseph Ratzinger – Der Großideologe aus Bayern

Der Panzerkardinal und spätere Papst Benedikt XVI. verteidigte auf fanatische Weise und mit vielen sprachlichen Floskeln das römische Reichschristentum als einzige Form der Wahrheit. Für ihn ist die höchste göttliche Wahrheit nur in der Kirche der Päpste und Bischöfe zu finden. Alle Laienchristen müssen diese Lehren der Wahrheit mit Demut annehmen, denn sie sind nur die "hörende Kirche". Da sie im kindhaften Glauben der kirchlichen Autorität folgen, tragen sie für ihre Handlungen gar keine persönliche Verantwortung. Diese Form des Glaubens nannte der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas den "infantilen Gehorsamsglauben", der im 20. Jh. die beiden Weltkriege und den Holocaust möglich gemacht habe. Doch jetzt müssten die Christen endlich erwachsen werden und einen Glauben der persönlichen Verantwortung leben. [22]

Doch von diesen Einsichten bleibt der bayerische Theologe meilenweit entfernt, er vertritt weiterhin mit grimmiger Überzeugung ein infantiles Gehorsamschristentum. Die Laienchristen sollen den Lehren der Bischöfe und Kleriker blind folgen. Als der polnische Papst im März 2000 in Rom im Dom zu St. Peter ein öffentliches Schuldbekenntnis für die Fehler und Verbrechen der Kirchenleitung ablegte, erklärte der Panzerkardinal aus Traunstein, das Schuldbekenntnis sei nur vor Gott abgelegt worden, aber nicht vor den Menschen und der Weltöffentlichkeit. Denn nur Gott sehe in die Herzen der Menschen und nur er könne Sünde und Schuld vergeben. Genauso hatte es der Bischof Alois Hudal über die NS-Verbrecher auch gesagt, diese hätten nur aufgrund von Befehlen gehandelt. Ihr einziger Richter sei Gott im Himmel. [23]

Wir sehen hier die sozial und politisch gefährlichen Lehren, für die Joseph Ratzinger konsequent eintritt. Für ihn dürfen die ewigen Wahrheiten der Kirchenleitung nicht in Frage gestellt werden, denn der "Relativismus" im Denken und im Glauben bedrohe heute die ganze Kultur. Gewiss vertritt der Kardinal und Papst diese abstrusen Lehren mit vielen weichen Worten und mit blumigen Gedanken. Denn er hat seit langem gelernt, diese archaischen Lehren mit der Maske der Freundlichkeit und der Menschlichkeit vorzutragen. Selbst als er die Befreiungstheologie verbot und den Dialog der Religionen auf gleicher Ebene untersagte, predigte er Güte und Barmherzigkeit zu den Armen und Notleidenden. Für ihn darf es innerhalb der Kirche keine allgemeinen Menschenrechte geben, keine Gleichwertigkeit der Frauen und Männer, keine Annäherung an die Protestanten, keine Ehescheidung und Wiederverheiratung, keine Ehe für Priester und Ordensleute, keine Kondome für AIDS-Kranke, keine demokratischen Prozesse. [24]

Der Großideologe als Papst

Im April 2005 wurde Joseph Ratzinger als Dekan des Kardinalkollegiums von den Kardinälen zum Papst Benedikt XVI. gewählt. Denn er hatte bei zwei Predigten und im Konklave vor dem gefährlichen "Relativismus" gewarnt, der die Kirche und die westliche Kultur bedrohe. Die Mehrheit der Kardinäle glaubte, dass dieser Theologe aus Bayern diese Gefahr bannen könne. Als Papst setzte er sofort Zeichen der päpstlichen Hoheit und Macht, denn er verteidigte mit allen Mitteln das alte Reichschristentum. Den Protestanten hatte er schon vorher geschrieben, dass sie gar keine wahre Kirche seien. Als Kardinal hatte er an alle Bischofskonferenzen der Welt geschrieben, dass sie die Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Kleriker und Ordensleute nicht den staatlichen Behörden melden dürfen. Denn die Kleriker hätten eine eigene Rechtsordnung, die nicht dem staatlichen Recht unterstehe. Als Papst musste er diese Position aber ändern, fortan sollen alle Fälle von sexuellem Missbrauch an die staatlichen Behörden gemeldet werden.

Die Verbände der Missbrauchsopfer in den USA und in England hatten gegen den Kardinal gerichtliche Klagen eingebracht. Als Papst und Staatsoberhaupt des Vatikans war er vor diesen Klagen geschützt, seit seinem Rücktritt als Papst im Februar 2013 ist er es nicht mehr. Jetzt darf er rechtlich gesehen den Vatikan gar nicht verlassen, denn dann droht ihm die gerichtliche Strafverfolgung. [25]

Bei seiner Rede in Regensburg (2006) hatte der Papst weltweit die Moslems beleidigt, weil er den Text eines byzantinischen Kaisers vortrug, in dem dieser beklagte, die Moslems hätten nur Kriege und Leiden über die Welt gebracht. Später musste er sich bei den islamischen Autoritäten dafür entschuldigen. Als er die alte lateinische Liturgie in der Kirche wieder einführte, wurde am Karfreitag wieder für die "treulosen Juden" gebetet, dass sie den Weg zum Christentum fänden. Auch diese Gebete mussten nach weltweiten Protesten korrigiert werden. Und als er die Pius-Brüder wieder in die katholische Kirche aufnahm, wurde bekannt, dass ein Bischof dieser Vereinigung den Holocaust leugnete. Der Papst wollte davon nichts gewusst haben.

Bei einer Pastoralreise nach Lateinamerika sagte der Papst, die Völker des Kontinents hätten sich schon nach der Christianisierung gesehnt, ohne zu erwähnen, dass die Christen viele Millionen der Ureinwohner getötet hatten. Und in Afrika verbot er die Verteilung von Kondomen an AIDS-Kranke mit der Begründung, sie sollten sexuell enthaltsam leben. [26] Auf seiner letzten Reise nach Deutschland im Herbst 2012 predigte er im Dom zu Freiburg, die Kirche solle sich "entweltlichen" und sich von der bösen Welt distanzieren. So lebte dieser Papst in einer anderen Welt, in der Ideenwelt Platons und in der Welt der ewigen Wahrheiten. Seine Kritiker sahen seinen Rücktritt als Papst im Februar 2013 als seine größte Leistung an. Denn er hatte die Lehren des Traditionalismus und des Fundamentalismus öffentlich gezeigt und vertreten. Natürlich tat er dies immer mit sprachlichen Verkleidungen, er sprach von Demut und Bescheidenheit, von Niedrigkeit und Barmherzigkeit. In Wirklichkeit ging es ihm aber immer um Herrschaft und Dominanz der Kleriker über die Laienchristen. Vom Schreibtisch und vom Betschemel aus hat er die Befreiungstheologie in Lateinamerika niedergerungen, ohne dort die sozialen Verhältnisse real zu kennen. [27]

Er sprach stereotyp vom "Relativismus" der Werte, von der "Diktatur" des freien Denkens, von der Dekadenz der Kultur. Dabei hat er nie gesehen, dass weltweit noch nie so viele christliche Werte verwirklicht worden sind, wie in den letzten 70 Jahren in allen westlichen Kulturen. Doch was ist die Alternative zu diesem traditionalistischen Herrschaftschristentum? Es ist das freie Christentum der ersten 350 Jahre seiner Entstehung (von 30 bis 380 n.Chr.). In dieser Zeit wurde der christliche Glaube in großer Vielfalt gelebt, es gab kein einheitliches Christentum. Die Christen hatten keine staatlichen Privilegien, sie verbreiteten ihren Glauben an Jesus Christus durch freie Überzeugungsarbeit. Und sie waren gezwungen, verschiedene Lehren des Glaubens zu tolerieren. Verfolgt wurden sie im Römischen Reich nie flächendeckend, sie mussten nur zu bestimmten Zeiten (Decius, Aurelian, Diokletian) das Kaiseropfer darbringen. Es war ein Christentum der sozialen Tat und der persönlichen Verantwortung, gewiss kein infantiles Glaubenschristentum. [28]

Kulturgeschichtlich gesehen vertritt Joseph Ratzinger im Kontext der postmodernen Kultur die neuplatonischen Lehren des Reichstheologen Aurelius Augustinus. Er ist nicht bereit, sich vom alten Reichs- und Herrschaftschristentum zu verabschieden. Die Erkenntnisse der modernen Philosophie (Analytische Philosophie, Kritischer Rationalismus, Pragmatische Philosophie, Denken der Postmoderne) berühren ihn gar nicht. Er zeigt mit seinen vielen Schriften, auf welch niedrigem Niveau sich die deutsche Schultheologie an den Universitäten bewegt. Aber er demonstriert auch, wie heute eine Großideologie im Kontext einer religiösen Institution funktioniert und am Leben gehalten wird. Als Papst und Kardinal hat er den Auszug vieler Laienchristen, Kulturchristen und Randchristen aus den kirchlichen Institutionen beschleunigt. Dafür sind ihm viele Atheisten, Agnostiker und Religionslose sehr dankbar. [29]

Anmerkungen:

[1] K. Salamun/E. Topitsch, Ideologie. Herrschaft des Vorurteils. Tübingen 1986, S. 34–55.

[2] K. Salamun/E. Topitsch, Ideologie, S. 67–89.

[3] K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. I-II. Bern 1947/1948, passim.

[4] J. de Maistre, Über den Papst. Paris 1817, S. 34ff. B. Cappelari, Der Triumph des Heiligen Stuhles der Kirche. Paris 1799, passim. Dazu N. Brieskorn, Joseph de Maistre. In: LThK VI, Freiburg 2007, S. 1214f.

[5] H. Schwedt, Traditionalismus. In: LThK VII, Freiburg 2007, 159. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse der kirchlichen Entscheidungen. Freiburg 1991, S. 758–767.

[6] M. Greschat, Protestantismus in Europa. München 2009, S. 104–112. A. Encreve, Das protestantische Denken. In: J.Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI. Freiburg 1997, S. 41–66.

[7] E. Troeltsch, Deutscher Glaube und Deutsche Sittlichkeit in unserem großen Krieg. Berlin 2014, S. 11–15.

[8] E. Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa. Tübingen 1925, S. 33–39.

[9] J. Mausbach, Vom gerechten Krieg und seinen Wirkungen. In: Hochland 12(1914) , S. 5–12.

[10] J. Ratzinger, Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche im 21. Jahrhundert. München 1996, S. 174–181.

[11] M. Schmaus, Begegnungen zwischen katholischem Christentum und nationalsozialistischer Weltanschauung. Münster 1933, S. 5–10.

[12] M. Schmaus, Begegnungen, S. 20–31.

[13] M. Schmaus, Begegnungen, S. 30–43.

[14] A. Grabner-Haider/P. Strasser, Hitlers mythische Religion. Wien 2007, S. 177–191.

[15] J. Ratzinger, Salz der Erde, S.35–60. 16 J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 48–61. 17 J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 62–75. 18 J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 80–92.

[19] J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 102–112.

[20] J. Allen, Joseph Ratzinger. Düsseldorf 2002, S. 167–197.

[21] A. Grabner-Haider/J. Maier, Kulturgeschichte des frühen Christentums. Göttingen 2010, S. 138–162. 22 E. Levinas, Vier Talmud Lesungen. Frankfurt 1993, S. 75–89. Ders., Schwierige Freiheit. Frankfurt 1992, 128–143. Ders., Ethik und Unendliches. Graz 1986, S. 67–82. Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt. Freiburg 1999, S. 139–152.

[23] A. Hudal, Römische Tagebücher. Lebensbeichte eines alten Bischofs. Graz/Stuttgart 1976, S. 121ff. J. Allen, Joseph Ratzinger, S. 83–103.

[24] J. Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltlage. Freiburg 2003, S. 60–70, 82–87, 198–206.

[25] M. Politi, Krise eines Pontifikats. Berlin 2012, S. 6–18.

[26] M. Politi, Krise eines Pontifikats, S. 50–77.

[27] M. Politi, Krise eines Pontifikats, S. 87–109.

[28] G. Theißen, Die ersten Christen. Gütersloh 2000, S. 36–67.

[29] H.W. Kubitza, Der Dogmenwahn. Marburg 2015, S. 13–17. In den liberalen Theologen sah er seine Gegner und Feinde, denn sie zerstörten den Glauben, er nannte sie "schräge Gesellen". Sie wollten aus Jesus einen Revolutionär machen und das Christentum mit dem Marxismus verbinden. (Anm. 18)

Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift "Aufklärung & Kritik" 4/2015.