Das Buch von Rudolf Burger "Wozu Geschichte? Eine Warnung zur rechten Zeit" ist die Neuauflage einer Ausgabe von 2013 und wurde durch ein Vorwort "zur rechten Zeit" aktualisiert. Es sammelt also Ideen und Zeitdiagnosen "aus rechter Sicht" und verpackt sie in den Mantel der Philosophie. Schließlich ist der Autor ein verbeamteter Schulphilosoph.
Er schreibt im Geist der Pyrrhonischen Skepsis, doch dabei müsste er bedenken, dass dann alle seine Aussagen und Behauptungen nur einen Wahrheitswert von 50 Prozent, also Beliebigkeit erreichen. Zur Platonischen Skepsis konnte er sich nicht durchringen, denn dann würden seine Aussagen höhere oder niedrigere Wahrscheinlichkeit erreichen.
Die zentrale Behauptung lautet, wir sollten die "Geschichte" vergessen, weil wir gar nichts aus ihr lernen können. Im Sinne von Friedrich Nietzsche und Carl Schmitt wird argumentiert, dass wir aus vergangenen Ereignissen gar nichts für die Gegenwart erkennen können. Dass die Geschichte der Menschen keinen letzten Sinn hat, dass es in ihr keine ewige Wahrheit und innere Logik gibt und dass keine Objektivität in der Geschichtsschreibung möglich ist; das gilt nicht erst seit Karl R. Popper in der gesamten Kulturwissenschaft als Binsenweisheit.
Der Autor folgert, dass jede Geschichtsdeutung relativ ist (was stimmt) und dass sie immer von politischen Machtverhältnissen bestimmt werde. Aber was ist mit der internationalen Geschichtswissenschaft in demokratischen Staaten, die nachweislich völlig frei ist von politischen Einflüssen? Damit greift der weise Philosoph die gesamte Geschichtswissenschaft an, die global optimale Arbeit leistet. Was würde der Autor sagen, wenn ihm die Historiker völlige Beliebigkeit unterstellten?
Rudolf Burger fordert auch, die Memoria-Kultur und Auschwitz-Pädagogik an den Schulen und in der Gesellschaft zu beenden. Die ganze Gedenkkultur und die Aufarbeitung von Schuld, die Trauerarbeit der Psychologen sei völlig sinnlos. Damit entwertet er die umfassende Arbeit der Psychologen und Pädagogen in allen demokratischen Ländern. Mit seiner Behauptung, dass "die Menschen" nichts aus der Geschichte lernen, verhöhnt er die 80 bis 85 Prozent der Gesellschaft, die nach eigener Überzeugung seit 60 Jahren viel aus der Geschichte der beiden Weltkriege gelernt haben.
Nach Karl R. Popper, aber auch nach den Erkenntnissen der Biologie (Franz Wuketits) lernen wir Menschen mehrheitlich ständig durch "trial and error". Darauf basiert die biologische und die kulturelle Evolution. Nur eine kleine Minderheit will nichts aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, aber sie kann nur überleben im Schutz der lernbereiten Mehrheit.
Der Autor legte diese Minderheit auf die ganze Gesellschaft um, das sei große Philosophie. Damit hat er sich von der kritischen Philosophie des Sokrates, Aristoteles, Kant und Popper völlig verabschiedet. Was die "rechte Zeit" angeht, sollte er einmal genau hinsehen, was die politische "Rechte" in der Französischen Nationalversammlung von 1789 wirklich angestrebt hat. Aber laut Pyrrhon kommen seine Behauptungen über den Wahrheitswert von 50 Prozent nicht hinaus. Für einen Skeptiker wäre eine geistvollere Provokation möglich gewesen.
Rudolf Burger: Wozu Geschichte? Eine Warnung zur rechten Zeit, Verlag Molden/Styria, Wien 2018, ISBN 978 3233 150272, 20,00 Euro (AT)
9 Kommentare
Kommentare
G.B. am Permanenter Link
Die 20 Euro spar ich mir für wichtigeres!
A.S. am Permanenter Link
Ich sehe das Buch als Baustein in einer allgemeinen Verblödungsstrategie. Wozu was lernen? Glauben reicht doch! (Das war ironisch gemeint.)
Klaus D. Lubjuhn am Permanenter Link
Natürlich ist es UN-Sinn, dass aus der Geschichte nicht gelernt werden könnte. "Nach Karl R.
Es fehlt aber in der Reihe: trial and error das abschließende "SUCCESS!. Hier ist dann wirklich zu fragen, ob die "Memoria-Kultur und Auschwitz-Pädagogik an den Schulen" nicht in ihrer Ambivalenz betrachtet werden muss. Bei den 2.0 - Generationen, denen Geschichte nur noch im thematischen Rundumschlag serviert wird, könnten sich leicht einfache historische Narrative als Täter/Opfer - Muster einstellen, die unverdaut, aber politisch-manipulativ abrufbar, kontraproduktiv sein können .
Roland Fakler am Permanenter Link
Anstatt auf Bücher hinzuweisen, die die zweifelhafte „Weisheit“ verbreiten, dass wir nichts aus der Geschichte lernen können, würde ich ihnen mal empfehlen auf mein Buch: „Von Verfolgern und Verfolgten, Lehren aus der
http://rolandfakler.de/verfolger/
Wir können aus der Geschichte lernen, wir haben aus der Geschichte gelernt und wir müssen aus der Geschichte lernen, wenn wir hier nicht ewig dieselben dummen Fehler machen wollen. Von Echnaton, ägyptischer Pharao um 1350 vor unserer Zeit, bis Erdogan, von den Königen von Gottes Gnaden, über Adolf bis zu den heutigen Herrschern Saudi-Arabiens und Irans könnten wir z.B. lernen, dass Herrscher immer versuchen, ein Fantasiemännchen namens Gott für die Legitimation ihrer Herrschaft zu benutzen. Auch Gesetze werden nicht besser, wenn man behauptet, dass sie direkt vom Himmel herunterkamen. Ein nicht-existierendes Wesen kann keine Legitimation für Herrschaft und Gesetze sein. Das ist gefährliche Anmaßung und Volksverdummung. Wir könnten lernen, dass „heilige Schriften“ zum Auserwähltheitswahn der einen Gruppe und zur Verfolgung der anderen geführt haben, weil man ihre Dummheiten nicht kritisieren darf. Wir könnten lernen, dass Diktatur noch nie eine Lösung war, sondern die Aufteilung der Bevölkerung in Rechtgläubige Anhänger des Diktators, die alle Privilegien genießen, und in Verfolgte Kritiker führen wird. Die Türken und die Ägypter hätten aus der deutschen Geschichte und dem Ermächtigungsgesetz lernen können, dass man einem Herrscher nicht unbegrenzte Macht geben darf, sondern dass Macht immer beschränkt und kontrolliert werden muss, um die Freiheit und die Menschenrechte aller Staatsbürger zu sichern. Dazu hätten sie eben etwas über Geschichte wissen müssen. Aus den jahrhundertelangen Religionskriegen in Europa könnte man lernen, dass Staat und Religion getrennt werden müssen, dass der Staat neutral sein muss, damit die „rechtgläubigen“ Machthaber ihre Macht nicht immer dazu nutzen, die „Falschgläubigen“ zu verfolgen….
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Für wen schreibt der Philosoph?
Für die, die etwas aus seiner „Geschichtsinterpretation“ lernen und seine These somit lügen strafen, oder für die, die eh nichts aus seinen Betrachtungen lernen können, also für niemanden?
Wenn alle Welt zu „doof“ ist, brauche ich niemanden mehr zu belehren, und wenn sie nicht zu „doof“ sind, dann stimmt die Ausgangsthese nicht. Keine Macht den Doofen, bitte!
Stefan P. am Permanenter Link
Das hab ich mich auch gefragt, was die Motivation ist, eine so offenkundig hanebüchene These, mit dem beträchtlichen Aufwand eines Buches unters Volk bringen zu wollen.
Man kann immer darüber streiten, in welcher Form man sich im jeweiligen Fall der Geschichte nähert, aber diese Verallgemeinerung widerspricht, wie hier vielfach ausgeführt, den Prinzipien menschlicher Entwicklung.
Ich möchte bei alledem auch den Gedanken nicht ganz ausschließen, dass es dem Autor letztlich gar nicht um solch eine Allgemeingültigkeit seiner These geht, sondern dass die Verallgemeinerung nur verdecken soll, dass es bestimmte Teile der Geschichte sind, die die Menschen nach seinem Willen nicht mehr betrachten sollen. Nach dem Motto: Wenn ich selbst nichts aus der Geschichte lernen will, erhebe ich die Unfähigkeit dazu zum Naturgesetz.
Stefan P. am Permanenter Link
Der Hinweis auf „Trial and Error“ trifft es genau: Warum zum Teufel (oder zu wem auch immer) sollen Menschen grundsätzlich nicht im Großen aus Fehlern lernen können, wo sie es doch im Kleinen permanent tun, ja, wo ihr
Ich sehe einen ausgesprochen beliebten und verbreiteten Denkfehler darin, eine einzelne (scheinbare oder tatsächliche) Erkenntnis zu verallgemeinern und zum Allheilmittel (ja quasi zum Götzen!) zu erklären, das blind auf ALLES angewendet wird, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, oder diese Erkenntnis zur Antwort auf alle Fragen zu erklären:
Seien es „Privatisierung ist das Allheilmittel für alle Gesellschaftsprobleme“, „Der Markt regelt automatisch alles zum Besten aller“, „Die gesamte Geschichte ist ein einiger Klassenkampf“, „Aderlass ist DAS Allheilmittel“, „wir brauchen zur Produktivitätssteigerung ÜBERALL Großraumbüros“ (das Gegenteil ist längst bewiesen!), „Digitalisierung (um ihrer selbst willen) vor Bedenken“, usw.
Für diese Form von Aberglauben hat wohl jeder seine Beispiele … Sicherlich wird dieses Verhalten auch durch den Zeitgeist und durch die multimediale Vernetzung mit ihrer allgegenwärtigen Konkurrenz um Aufmerksamkeit noch verstärkt, die Vereinfachung und auch lautes Schreien belohnen ...
streminger am Permanenter Link
Warum kann man beispielsweise aus dem Erdbeben von Lissabon nichts lernen?
Etwa die schreckliche Wirkung eines Wasserbebens, die Brandgefahren, die Möglichkeit eines Tsunami, das destruktive Verhalten von Menschen in einer völlig rechtlosen Situation, die Schwierigkeiten der Gläubigen, das alles mit der Existenz eines gütigen Gottes in Einklang zu bringen.
Die Kirchen sind am Allerheiligentrag eingestürzt und haben tausende Gläubige unter sich begraben, aber die Freudenhäuser blieben verschont. Was sagt uns das aus über die Weisheit Gottes?
Das Erdbeben von Lissabon aus dem Jahre 1755 ist wahrscheinlich die Hauptwurzel des europäischen Realismus und Pessimismus und Säkularismus, ein echter Knick in unserer Geschichte.
Offensichtlich kann man aus der Historie doch einiges, noch dazu Klugmachendes lernen.
streminger am Permanenter Link
Besser formuliert:
Während am Allerheiligentag in den einstürzenden Kirchen beim Gottesdienst Tausende den Tod fanden, wurden die Freudenhäuser vom Erdbeben verschont und boten weiterhin Freudvolles.
Was will der allwissende Gott uns damit sagen?