Eine Art Biografie

Joseph Ratzinger – Der Großideologe aus Bayern

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Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. in München (2006)
Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI.

GRAZ. (hpd) Der Theologe Joseph Ratzinger (von 2005 bis 2013 Papst Benedikt XVI.) ist einer der einflussreichsten Theologen und Kirchenmänner des 20. und 21. Jh. Mit seinen globalen Netzwerken reicht sein Wirkungsfeld weit in die Politik und in die Wissenschaft auf allen Kontinenten hinein. Da er als stark ideologisch geprägter Denker agiert, darf er mit Recht als Großideologe bezeichnet werden, denn sein Wirkungsfeld sind immerhin 1,2 Milliarden Katholiken weltweit. Hier sollen kurz die Grundlinien seiner Ideologie des Glaubens, der Moral und der Politik nachgezeichnet werden.

Unter einer Ideologie verstehen wir in der kritischen Philosophie und in der Weltanschauungsforschung ein Denkmodell, das in sich abgeschlossen ist, das einen Monopolanspruch auf Wahrheit und Geltung erhebt, das die Welt und die Gesellschaft dualistisch bzw. dichotom (gut/böse) deutet, das stereotype Feindbilder pflegt und das Herrschaftsansprüche erhebt. Eine Ideologie fordert von ihren Anhängern blinden Gehorsam und strikte Unterwefung, denn sie bezieht sich ständig auf ein Geheimwissen. Alle diese Kennzeichen treffen auf das Denken von Joseph Ratzinger ganz offensichtlich zu. [1]

Das Modell für dieses autoritäre und totalitäre Denken und Handeln war in der westlichen Kultur das politische Reichschristentum, das im Römischen Imperium ab 381 n.Chr. mit Gewalt durchgesetzt wurde. Es wurde verbunden mit dem autoritären Staatsmodell des griechischen Philosophen Plato. Dieses monopolhafte Herrschafts- und Reichschristentum war bis ins 20. Jh. politisch wirksam. Aus ihm abgeleitet wurden im 19. Jh. die großen Ideologien des Traditionalismus, des Nationalismus, des Antisemitismus, der Rassenlehre, des Imperialismus, des Militarismus, des Marxismus, des Kommunismus, im 20. Jh. der Faschismus und zuletzt die NS-Ideologie. [2]

Das Gegenmodell zur religiösen und politischen Ideologie ist das offene, demokratische und kritikfähige Denken, das von den griechischen Sophisten (Alkidamas, Antiphon) angeregt wurde und in der europäischen Aufklärung zum Tragen kam. Diese Denker und Politiker verzichten auf Monopolansprüche der Weltdeutung, sie deuten die Welt pluriform, nicht dichotom, sie benötigen keine starren Feindbilder, denn sie akzeptieren die Relativität und Veränderbarkeit ihres Denkens. Deswegen verhalten sie sich tolerant zu anderen Denkmodellen, sie suchen den Austausch mit ihnen, sie verzichten auf Geheimwissen und auf Ansprüche der Absolutheit, sie üben das kritische und selbstbestimmte Denken (I. Kant). Sie suchen den Dialog der verschiedenen religiösen und politischen "Sprachspiele". [3]

Der politische Traditionalismus

Diese Großideologie entstand in Europa zu Beginn des 19. Jh. als Gegenbewegung zur rationalen Aufklärung und zur Französischen Revolution. Ihre Vordenker waren Edmund Burke, Joseph de Maistre und Bartolomeo Cappelari, sie wollten die aristokratische Ordnung der Staaten unbedingt aufrechterhalten. Für sie gab es keine Egalität der Menschen und keine allgemeinen Menschenrechte, alle republikanischen und demokratischen Strebungen wurden als Feinde gesehen. Die Menschen bräuchten wegen der "Erbsünde" feste Normen im Leben und ewige Wahrheiten im Denken und Glauben. Der Liberalismus im Denken und Glauben führe in den Nihilismus der Lebensdeutung und in die Selbstzerstörung des Daseins. Die höchste Autorität der menschlichen Kultur müsse der Papst in Rom sein. [4]

Andere Vordenker des politischen Traditionalismus im 19. Jh. waren Rene de Chateaubriand, Louis de Bonald und Vincenzo Gioberti, sie glaubten an ewige und göttliche Ordnungen, die von Menschen nicht verändert werden dürfen. Diese Lehren wurden von allen Päpsten im 19. Jh. vertreten (Gregor XVI., Pius IX., Leo XIII.), sie kämpften gegen die Zielwerte der rationalen Aufklärung, gegen das freie Denken und Glauben, gegen den Relativismus im Denken und in der Moral, gegen die allgemeinen Menschenrechte und alle Formen der Demokratie. Die Freiheit des Gewissens, der Wissenschaft und der Vernunft dürfe es nicht geben, alle Menschen müssten sich an die alten Traditionen der Weltdeutung halten. Diese Position vertrat im 20. Jh. auch der Philosoph Martin Heidegger. [5]

Aber auch die große Mehrheit der protestantischen Theologen wollte bei den alten Traditionen der Theologie Martin Luthers bleiben. Daher kämpfte sie gegen das freie Denken in der Religion, der Moral und der Politik. Es durfte keine rationale Aufklärung, keine freie Vernunft und keine autonome Moral geben. Die konservativen Altlutheraner wollten die Bibel wörtlich auslegen, auch die Erweckungsbewegungen folgten dem traditionalistischen Denken. Die Vernunft und die Wissenschaft sollten sich der Religion unterordnen, denn sie bezog sich auf göttliche Offenbarungen und absolute Wahrheiten. [6]

Zu Beginn des 20. Jh. hatten sich in England und Frankreich bereits viele Theologen dem Denken der rationalen Aufklärung angenähert. Sie rezipierten den Liberalismus im Denken und in der Politik, sie erkannten den Wert der Demokratie und der allgemeinen Menschenrechte. Doch die große Mehrheit der deutschen Theologen hielt am Traditionalismus fest, sie sahen darin zum einen den Auftrag Martin Luthers, zum andern das Erbe des Deutschen Idealismus. Damit waren sie überzeugt, dass ihre Theologie der Gipfel der Religion für alle Menschen sei. Mit diesem Denkmodell entwarfen sie 1914 die großen Kriegslehren der Deutschen gegen die religiöse und moralische Dekadenz der Engländer und der Franzosen. Sie sprachen von einem "Kulturkrieg" gegen die Lehren der Französischen Revolution. [7] So schrieb der protestantische Theologe Ernst Troeltsch, der Krieg der Deutschen richte sich gegen die verweichlichte Humanität der Engländer und gegen die moralische Dekadenz der Franzosen. Die Deutschen hätten einen göttlichen Auftrag bekommen, die alten Werte des Glaubens und der Politik zu verteidigen. Der deutsche Geist werde nun über die Ziele der Französischen Revolution siegen, die deutsche Freiheit bestehe aber in Gehorsam und Unterordnung. [8]

Der katholische Theologe Joseph Mausbach schrieb zu Kriegsbeginn 1914, der große Krieg sei ein göttliches Gericht über die Völker Europas. Die Feinde der Deutschen müssten besiegt werden, damit sie wieder die Gottesfurcht und die Gerechtigkeit lernen. Im Krieg sei das Tötungsverbot aufgehoben, jetzt gelte eine Moral im höheren Licht. Den Soldaten sei alles erlaubt, was ihnen einen Vorteil bringt (N. Machiavelli). Denn sie kämpfen mit reinem Herzen und erfüllen einen göttlichen Auftrag. Damit werden die deutschen Heere siegen, denn sie kämpfen im Auftrag der göttlichen Vorsehung gegen die moralische Dekadenz ihrer Feinde. [9]

Der deutsche Sonderweg

Der Theologe Joseph Ratzinger steht noch heute in der Denklinie des Traditionalismus, denn er kämpft vehement gegen den Relativismus in der Moral und im Denken. Er fordert die "Entweltlichung" der Kirche, um nicht von der bösen Welt befleckt zu werden. Damit folgt er dem platonischen und neuplatonischen Denkmodell, vor allem im Anschluss an Aurelius Augustinus. Auch er kämpft fanatisch gegen das autonome und kritische Denken der rationalen Aufklärung, damit folgt er bis heute dem "Sonderweg" der deutschen Kultur. Sein Kampf richtet sich gegen den Utilitarismus in der Moral, gegen den Relativismus im Denken, gegen den Positivismus in der Erkenntnis, gegen demokratische Prozesse in der Kirche. Er sieht das wahre Christentum in den Lehren der Päpste und der Dogmen vorgezeichnet.[10]

Der Kardinal und Papst Joseph Ratzinger ist stark von seinen Lehrern (M. Schmaus, G. Söhngen, Th. Steinbüchel) geprägt, sein Vorbild ist der Bischof und Kardinal Michael von Faulhaber, der ihn zum Priester geweiht hat. Alle diese Lehrer waren strikte Gegner der rationalen Aufklärung, und sie waren "Brückendenker" zur NS- Ideologie. So schrieb M. Schmaus schon im Sommer 1933, mit der neuen Politik ende die Epoche des Liberalismus, die Willkür der Vernunft höre jetzt auf. Die Ideen der Französischen Revolution und das wirklichkeitsfremde Denken Immanuel Kants müssten überwunden werden. Denn der Liberalismus im Denken führe in den Nihilismus und zur Entwurzelung der Menschen. Die Wissenschaft und das Denken müssten sich voll der neuen nationalen Politik unterordnen. [11]

Genauso hatte es Martin Heidegger in seiner Rektoratsrede in Freiburg formuliert. Michael Schmaus fährt fort, die Enkel des geistigen Liberalismus seien der Sozialismus und der Klassenkampf. Doch die NS- Ideologie kämpfe wie die Kirche gegen den "Ungeist" des 19. Jh., das mechanistische Weltbild müsste durch eine organische Weltdeutung ersetzt werden. Das Opfer gehöre zum Ideenschatz der Kirche und der NS-Bewegung, die beide tief mit einander verwandt seien. Der Wille des Volkes zeige sich im starken Führer, das sei auch in der katholischen Kirche so. [12] Die göttliche Vorsehung habe dem deutschen Volk die größten Aufgaben zugedacht, das neue Reich entstehe auf dem Boden eines germanischen Christentums. Die neue Zeit erfordere Opferwillen und Bekennermut, der religiöse Glaube müsse immer beim Volk, bei Blut und Boden ansetzen. Daher müssen die Katholiken das neue Reich mit voller Überzeugung mittragen. [13] Ähnlich schrieben und lehrten zu dieser Zeit viele Theologen, sie sahen in der NS- Bewegung die große Kämpferin gegen die rationale Aufklärung und das liberale Denken.

Nach 1945 distanzierten sich nur wenige Theologen und Philosophen von der Ideologie des NS-Bewegung, aber sie gaben zu, dass in der Politik Vieles schief gelaufen sei. Andere (A. Hudal, M. Heidegger) glaubten, der wahre Nationalsozialismus werde erst noch kommen. Die meisten Theologen behielten ihre Lehrstühle an den Universitäten, aber ein Umdenken war von ihnen nicht zu erwarten. Daher blieben sie mehrheitlich auch beim traditionalistischen Denken, sie argumentierten weiterhin gegen die freie Vernunft, gegen die rationale Aufklärung und die allgemeinen Menschenrechte. In diesem geistigen Umfeld studierte Joseph Ratzinger Theologie in München und Freising. [14]

Professor der Theologie

Joseph Ratzinger wurde 1927 in Niederbayern geboren und streng katholisch erzogen. Die Familie war stolz auf den Großonkel Georg Ratzinger, der um 1890 als Politiker und katholischer Priester wirkte. Er war ein kämpferischer Antisemit und setzte sich für die Kleinbauern ein. Er sagte voraus, dass die Juden sehr bald schon die Weltherrschaft ergreifen würden. [15] In Traunstein besuchte Joseph Ratzinger ein kirchliches Internat und das Gymnasium, mit 14 kam er zur Hitlerjugend, dann wurde er zur Fliegerabwehr und zur Grenzsicherung eingezogen. 1945 kam er kurzzeitig in amerikanische Gefangenschaft in Ulm, aus der er am 19. Juni entlassen wurde. [16] Nach dem Studium der Theologie wurde er 1951 zum Priester geweiht. Er hatte sich früh für Platon und Aurelius Augustinus begeistert, starke Angst hatte er vor dem freien und kritischen Denken. Daher schrieb er, der von Gott geoffenbarte Glaube dürfe sich niemals dem "Zeitgeist" anpassen. Diese ewigen Wahrheiten faszinierten den jungen Theologen, sie dürfen nicht der "Diktatur der Beliebigkeit" anheimgestellt werden. Seit 1955 unterrichtete er Fundamentaltheologie, fortan verbrachte er sein Leben hauptsächlich an Schreibtischen und Bibliotheken, auf Predigtkanzeln und in Hörsälen. Er verstand sich fortan als Vermittler absoluter göttlicher Wahrheiten. [17]

Als Kardinal und Papst sagte er von sich, dass er nie ein liberaler Denker gewesen sei, er hatte immer Angst vor dem freien und kritischen Denken. Die ewigen Wahrheiten dürften gar nicht diskutiert werden, sie müssten blind geglaubt werden. Für ihn waren alle liberalen Theologen fortan Gegner und Feinde, er nannte sie "schräge Gesellen" und "krumme Hunde", denn sie verfälschten den wahren Glauben. Sie wollten aus Jesus einen Revolutionär machen und verbänden die Religion mit dem Marxismus. Die US-Medien nannten ihn nun bald den deutschen "Panzerkardinal", denn alle kritischen Einwände prallten an ihm ab. [18]

Im Jahr 1981 kam er nach Rom und leitete fortan das Heilige Offizium, die Glaubenskongregation, die frühere Inquisitionsbehörde im Vatikan. Von nun an bezeichnete er sich selbst als "Kettenhund des Papstes", der alle liberalen Theologen und Kleriker gnadenlos verfolgen wollte. Er wollte alle Vertreter der "Befreiungstheologie" in Lateinamerika und in Afrika mundtot machen, den Dialog mit anderen Religionen auf der gleichen Ebene verweigerte er. So kritisierte er den Papst, weil dieser 1986 in Assisi mit Vertretern anderer Weltreligionen auf einer Ebene gestanden war und gebetet hatte. Er vertrat die alte Reichstheologie der Aurelius Augustinus, von den Klerikern und Theologen verlangte er Zeichen der Hoheit und der Herrschaft. [19]

Der deutsche Panzerkardinal

Wie baut sich nun die Großideologie dieses Theologen und Papstes aus Bayern näher auf? Er geht mit dem Reichstheologen Aurelius Augustinus fest davon aus, dass die Menschheit und die Welt mehrheitlich böse und in der "Erbsünde" verstrickt sind. Die Erlösung von der Macht des Bösen sei nur und allein in Jesus Christus zu uns Menschen gekommen. Daraus folge die Absolutheit und monopolhafte Gültigkeit aller katholischen Lehren, denn außerhalb dieser Kirche sei für die Menschen kein Seelenheil zu finden. Doch was ist der Inhalt dieser kirchlichen Erlösungslehre? Sie besteht in der Gesamtheit aller kirchlichen Dogmen, welche die Bischöfe im Lauf der Jahrhunderte auf ihren Konzilien formuliert haben. Von diesen Dogmen dürfen Theologen keine Abstriche machen, ja sogar die viel ältere Bibel soll von diesen späteren Dogmen her ausgelegt werden (kanonische Exegese). Als Wissenschaftler hätte dieser Theologe einmal fragen müssen, wie denn diese Dogmen entstanden sind, welches Weltbild sie ausdrücken, wie sie durchgesetzt wurden. [20]

Doch solche Fragen stellt sich ein Großideologe prinzipiell nicht. Damit erweist sich der Panzerkardinal als ein Dogmenfundamentalist und als extremer Verteidiger des spätantiken Reichschristentums. Denn die Konzile der Bischöfe wurden seit 325 n.Chr. von römischen und byzantinischen Kaisern einberufen, um ein einheitliches Christentum zu gewinnen. Erst ab 1139 wurden sie von den römischen Päpsten einberufen. Damit drücken alle Dogmen der Kirche eine doppelte Herrschaft aus, nämlich die Oberhoheit der Bischöfe und Kleriker, sowie die Herrschaft der Fürsten und Könige. Allein an den beiden letzten Konzilien (1870 und 1962–1965) haben keine Fürsten mehr teilgenommen. Folglich sind Dogmen das Ergebnis eines politischen Ringens um einheitliche Herrschaft mittels der Religion. [21]

Der Panzerkardinal und spätere Papst Benedikt XVI. verteidigte auf fanatische Weise und mit vielen sprachlichen Floskeln das römische Reichschristentum als einzige Form der Wahrheit. Für ihn ist die höchste göttliche Wahrheit nur in der Kirche der Päpste und Bischöfe zu finden. Alle Laienchristen müssen diese Lehren der Wahrheit mit Demut annehmen, denn sie sind nur die "hörende Kirche". Da sie im kindhaften Glauben der kirchlichen Autorität folgen, tragen sie für ihre Handlungen gar keine persönliche Verantwortung. Diese Form des Glaubens nannte der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas den "infantilen Gehorsamsglauben", der im 20. Jh. die beiden Weltkriege und den Holocaust möglich gemacht habe. Doch jetzt müssten die Christen endlich erwachsen werden und einen Glauben der persönlichen Verantwortung leben. [22]

Doch von diesen Einsichten bleibt der bayerische Theologe meilenweit entfernt, er vertritt weiterhin mit grimmiger Überzeugung ein infantiles Gehorsamschristentum. Die Laienchristen sollen den Lehren der Bischöfe und Kleriker blind folgen. Als der polnische Papst im März 2000 in Rom im Dom zu St. Peter ein öffentliches Schuldbekenntnis für die Fehler und Verbrechen der Kirchenleitung ablegte, erklärte der Panzerkardinal aus Traunstein, das Schuldbekenntnis sei nur vor Gott abgelegt worden, aber nicht vor den Menschen und der Weltöffentlichkeit. Denn nur Gott sehe in die Herzen der Menschen und nur er könne Sünde und Schuld vergeben. Genauso hatte es der Bischof Alois Hudal über die NS-Verbrecher auch gesagt, diese hätten nur aufgrund von Befehlen gehandelt. Ihr einziger Richter sei Gott im Himmel. [23]

Wir sehen hier die sozial und politisch gefährlichen Lehren, für die Joseph Ratzinger konsequent eintritt. Für ihn dürfen die ewigen Wahrheiten der Kirchenleitung nicht in Frage gestellt werden, denn der "Relativismus" im Denken und im Glauben bedrohe heute die ganze Kultur. Gewiss vertritt der Kardinal und Papst diese abstrusen Lehren mit vielen weichen Worten und mit blumigen Gedanken. Denn er hat seit langem gelernt, diese archaischen Lehren mit der Maske der Freundlichkeit und der Menschlichkeit vorzutragen. Selbst als er die Befreiungstheologie verbot und den Dialog der Religionen auf gleicher Ebene untersagte, predigte er Güte und Barmherzigkeit zu den Armen und Notleidenden. Für ihn darf es innerhalb der Kirche keine allgemeinen Menschenrechte geben, keine Gleichwertigkeit der Frauen und Männer, keine Annäherung an die Protestanten, keine Ehescheidung und Wiederverheiratung, keine Ehe für Priester und Ordensleute, keine Kondome für AIDS-Kranke, keine demokratischen Prozesse. [24]

Der Großideologe als Papst

Im April 2005 wurde Joseph Ratzinger als Dekan des Kardinalkollegiums von den Kardinälen zum Papst Benedikt XVI. gewählt. Denn er hatte bei zwei Predigten und im Konklave vor dem gefährlichen "Relativismus" gewarnt, der die Kirche und die westliche Kultur bedrohe. Die Mehrheit der Kardinäle glaubte, dass dieser Theologe aus Bayern diese Gefahr bannen könne. Als Papst setzte er sofort Zeichen der päpstlichen Hoheit und Macht, denn er verteidigte mit allen Mitteln das alte Reichschristentum. Den Protestanten hatte er schon vorher geschrieben, dass sie gar keine wahre Kirche seien. Als Kardinal hatte er an alle Bischofskonferenzen der Welt geschrieben, dass sie die Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Kleriker und Ordensleute nicht den staatlichen Behörden melden dürfen. Denn die Kleriker hätten eine eigene Rechtsordnung, die nicht dem staatlichen Recht unterstehe. Als Papst musste er diese Position aber ändern, fortan sollen alle Fälle von sexuellem Missbrauch an die staatlichen Behörden gemeldet werden.

Die Verbände der Missbrauchsopfer in den USA und in England hatten gegen den Kardinal gerichtliche Klagen eingebracht. Als Papst und Staatsoberhaupt des Vatikans war er vor diesen Klagen geschützt, seit seinem Rücktritt als Papst im Februar 2013 ist er es nicht mehr. Jetzt darf er rechtlich gesehen den Vatikan gar nicht verlassen, denn dann droht ihm die gerichtliche Strafverfolgung. [25]

Bei seiner Rede in Regensburg (2006) hatte der Papst weltweit die Moslems beleidigt, weil er den Text eines byzantinischen Kaisers vortrug, in dem dieser beklagte, die Moslems hätten nur Kriege und Leiden über die Welt gebracht. Später musste er sich bei den islamischen Autoritäten dafür entschuldigen. Als er die alte lateinische Liturgie in der Kirche wieder einführte, wurde am Karfreitag wieder für die "treulosen Juden" gebetet, dass sie den Weg zum Christentum fänden. Auch diese Gebete mussten nach weltweiten Protesten korrigiert werden. Und als er die Pius-Brüder wieder in die katholische Kirche aufnahm, wurde bekannt, dass ein Bischof dieser Vereinigung den Holocaust leugnete. Der Papst wollte davon nichts gewusst haben.

Bei einer Pastoralreise nach Lateinamerika sagte der Papst, die Völker des Kontinents hätten sich schon nach der Christianisierung gesehnt, ohne zu erwähnen, dass die Christen viele Millionen der Ureinwohner getötet hatten. Und in Afrika verbot er die Verteilung von Kondomen an AIDS-Kranke mit der Begründung, sie sollten sexuell enthaltsam leben. [26] Auf seiner letzten Reise nach Deutschland im Herbst 2012 predigte er im Dom zu Freiburg, die Kirche solle sich "entweltlichen" und sich von der bösen Welt distanzieren. So lebte dieser Papst in einer anderen Welt, in der Ideenwelt Platons und in der Welt der ewigen Wahrheiten. Seine Kritiker sahen seinen Rücktritt als Papst im Februar 2013 als seine größte Leistung an. Denn er hatte die Lehren des Traditionalismus und des Fundamentalismus öffentlich gezeigt und vertreten. Natürlich tat er dies immer mit sprachlichen Verkleidungen, er sprach von Demut und Bescheidenheit, von Niedrigkeit und Barmherzigkeit. In Wirklichkeit ging es ihm aber immer um Herrschaft und Dominanz der Kleriker über die Laienchristen. Vom Schreibtisch und vom Betschemel aus hat er die Befreiungstheologie in Lateinamerika niedergerungen, ohne dort die sozialen Verhältnisse real zu kennen. [27]

Er sprach stereotyp vom "Relativismus" der Werte, von der "Diktatur" des freien Denkens, von der Dekadenz der Kultur. Dabei hat er nie gesehen, dass weltweit noch nie so viele christliche Werte verwirklicht worden sind, wie in den letzten 70 Jahren in allen westlichen Kulturen. Doch was ist die Alternative zu diesem traditionalistischen Herrschaftschristentum? Es ist das freie Christentum der ersten 350 Jahre seiner Entstehung (von 30 bis 380 n.Chr.). In dieser Zeit wurde der christliche Glaube in großer Vielfalt gelebt, es gab kein einheitliches Christentum. Die Christen hatten keine staatlichen Privilegien, sie verbreiteten ihren Glauben an Jesus Christus durch freie Überzeugungsarbeit. Und sie waren gezwungen, verschiedene Lehren des Glaubens zu tolerieren. Verfolgt wurden sie im Römischen Reich nie flächendeckend, sie mussten nur zu bestimmten Zeiten (Decius, Aurelian, Diokletian) das Kaiseropfer darbringen. Es war ein Christentum der sozialen Tat und der persönlichen Verantwortung, gewiss kein infantiles Glaubenschristentum. [28]

Kulturgeschichtlich gesehen vertritt Joseph Ratzinger im Kontext der postmodernen Kultur die neuplatonischen Lehren des Reichstheologen Aurelius Augustinus. Er ist nicht bereit, sich vom alten Reichs- und Herrschaftschristentum zu verabschieden. Die Erkenntnisse der modernen Philosophie (Analytische Philosophie, Kritischer Rationalismus, Pragmatische Philosophie, Denken der Postmoderne) berühren ihn gar nicht. Er zeigt mit seinen vielen Schriften, auf welch niedrigem Niveau sich die deutsche Schultheologie an den Universitäten bewegt. Aber er demonstriert auch, wie heute eine Großideologie im Kontext einer religiösen Institution funktioniert und am Leben gehalten wird. Als Papst und Kardinal hat er den Auszug vieler Laienchristen, Kulturchristen und Randchristen aus den kirchlichen Institutionen beschleunigt. Dafür sind ihm viele Atheisten, Agnostiker und Religionslose sehr dankbar. [29]

Anmerkungen:

[1] K. Salamun/E. Topitsch, Ideologie. Herrschaft des Vorurteils. Tübingen 1986, S. 34–55.

[2] K. Salamun/E. Topitsch, Ideologie, S. 67–89.

[3] K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. I-II. Bern 1947/1948, passim.

[4] J. de Maistre, Über den Papst. Paris 1817, S. 34ff. B. Cappelari, Der Triumph des Heiligen Stuhles der Kirche. Paris 1799, passim. Dazu N. Brieskorn, Joseph de Maistre. In: LThK VI, Freiburg 2007, S. 1214f.

[5] H. Schwedt, Traditionalismus. In: LThK VII, Freiburg 2007, 159. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse der kirchlichen Entscheidungen. Freiburg 1991, S. 758–767.

[6] M. Greschat, Protestantismus in Europa. München 2009, S. 104–112. A. Encreve, Das protestantische Denken. In: J.Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI. Freiburg 1997, S. 41–66.

[7] E. Troeltsch, Deutscher Glaube und Deutsche Sittlichkeit in unserem großen Krieg. Berlin 2014, S. 11–15.

[8] E. Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa. Tübingen 1925, S. 33–39.

[9] J. Mausbach, Vom gerechten Krieg und seinen Wirkungen. In: Hochland 12(1914) , S. 5–12.

[10] J. Ratzinger, Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche im 21. Jahrhundert. München 1996, S. 174–181.

[11] M. Schmaus, Begegnungen zwischen katholischem Christentum und nationalsozialistischer Weltanschauung. Münster 1933, S. 5–10.

[12] M. Schmaus, Begegnungen, S. 20–31.

[13] M. Schmaus, Begegnungen, S. 30–43.

[14] A. Grabner-Haider/P. Strasser, Hitlers mythische Religion. Wien 2007, S. 177–191.

[15] J. Ratzinger, Salz der Erde, S.35–60. 16 J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 48–61. 17 J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 62–75. 18 J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 80–92.

[19] J. Ratzinger, Salz der Erde, S. 102–112.

[20] J. Allen, Joseph Ratzinger. Düsseldorf 2002, S. 167–197.

[21] A. Grabner-Haider/J. Maier, Kulturgeschichte des frühen Christentums. Göttingen 2010, S. 138–162. 22 E. Levinas, Vier Talmud Lesungen. Frankfurt 1993, S. 75–89. Ders., Schwierige Freiheit. Frankfurt 1992, 128–143. Ders., Ethik und Unendliches. Graz 1986, S. 67–82. Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt. Freiburg 1999, S. 139–152.

[23] A. Hudal, Römische Tagebücher. Lebensbeichte eines alten Bischofs. Graz/Stuttgart 1976, S. 121ff. J. Allen, Joseph Ratzinger, S. 83–103.

[24] J. Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltlage. Freiburg 2003, S. 60–70, 82–87, 198–206.

[25] M. Politi, Krise eines Pontifikats. Berlin 2012, S. 6–18.

[26] M. Politi, Krise eines Pontifikats, S. 50–77.

[27] M. Politi, Krise eines Pontifikats, S. 87–109.

[28] G. Theißen, Die ersten Christen. Gütersloh 2000, S. 36–67.

[29] H.W. Kubitza, Der Dogmenwahn. Marburg 2015, S. 13–17. In den liberalen Theologen sah er seine Gegner und Feinde, denn sie zerstörten den Glauben, er nannte sie "schräge Gesellen". Sie wollten aus Jesus einen Revolutionär machen und das Christentum mit dem Marxismus verbinden. (Anm. 18)

Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift "Aufklärung & Kritik" 4/2015.