BONN. (hpd) Der von den Politikwissenschaftlern Frank Schale und Ellen Thümmler herausgegebene Band “Den totalitären Staat denken” enthält 13 Beiträge, welche die Deutung totalitärer Herrschaft durch klassische Ansätze von Philosophen und Sozialwissenschaftlern thematisieren. Die einzelnen Beiträge stammen von guten Kennern der Materie, die auch neue Blick auf bekannte und weniger bekannte Klassiker der Diktaturanalyse von Hannah Arendt über John Maynard Keynes und Karl R. Popper bis zu Luigi Sturzo werfen.
Mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus kamen im 20. Jahrhundert politische Systeme auf, welche im Ausmaß ihres Herrschaftsanspruchs und ihrer Herrschaftspraxis so noch keine historischen Vorläufer hatten. Dafür entstand die Rede vom “totalitären Staat” bzw. vom “Totalitarismus”, ging es ihnen doch um die ganzheitliche und vollständige Inbesitznahme und Kontrolle der Gesellschaft. Fortan löste diese Deutung in Forschung und Öffentlichkeit – mitunter mehr politisch, denn wissenschaftlich motiviert – heftige Kontroversen aus. Hierbei kam es nicht selten zur Verwechslung von Gleichsetzung und Vergleich. Darum geht es den Autoren des Sammelbandes “Den totalitären Staat denken” indessen nicht. Nach der Aussage der beiden Herausgeber, der Politikwissenschaftler Frank Schale und Ellen Thümmler, steht “das Narrativ vom ‘total(itär)en Staat’” (S. 10) im Zentrum. Denn in den 13 Beiträgen des Bandes findet man Fallstudien zu den Deutungen einzelner philosophischer und sozialwissenschaftlicher Protagonisten von Totalitarismustheorien.
Am Beginn steht ein Blick auf die Klassiker: Uwe Backes erinnert an Luigi Sturzo als eigentlichen Begründer des Totalitarismuskonzepts. Julia Schulze-Wessel macht auf die Unterschiede in den Ansätzen von Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich aufmerksam. Mike Schmeitzner betont die Komponente „totalitäre Revolution“ im Konzept von Richard Löwenthal. Und Oliver W. Lembcke und Lisa Peyer widmen sich Martin Draths Betonung der Umwertung aller Werte durch den totalitären Staat. Danach geht es um die Einstellungen französischer Linker zur Totalitarismustheorie: Patrick Kilian erörtert Georges Batailles Sicht auf die Psychologie des totalen Staates, Arndt Küppers behandelt den Ansatz von Raymond Aron, und Martin Oppelt und Paul Sörensen gehen vergleichend den Deutungen von Cornelisus Castoriadis und Claude Lefort nach. Und Michael Schott Christofferson thematisiet Francois Furets Interpretationen der Französischen Revolution im Lichte einer vergleichenden Einschätzung von Bolschewismus und Jakobinismus.
Bezogen auf die philosophischen Deutungen findet man nur zwei Aufsätze: Robert Chr. van Ooyen betrachtet Karl R. Poppers Beiträge zur Totalitarismustheorie in “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde”, und Matthias Hörr thematisiert mit Norbert Wiener und Valentin Turchin zwei Ansätze zur Deutung des Totalitarismus als Teil einer argumentativen Feedback-Schleife von zwei Vertretern der Kybernetik. Und schließlich gibt es noch Abhandlungen zu ökonomischen Aspekten im Kontext der Totalitarismustheorien: Patrick Stellbrink behandelt Harald J. Laskis Ansatz zur Deutung des faschistisch-totalitären Staates mit Hilfe der marxistisch inspirierten Bonapartismustheorie. Thomas Biebricher fragt nach den Auffassungen von Friedrich August Hayek in seinem Buch “Wege zur Knechtschaft” zu einer ökonomischen Theorie des Totalitarismus. Und Alexander Gallus analysiert die totalitarismusbezogenen Deutungen von John Maynard Keynes bei seinen Stellungnahmen jeweils zum System und zur Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten.
Die Herausgeber haben den Autoren des Sammelbandes ein “Forschungsprogramm” (S. 15) mit auf den Weg gegeben. Dazu skizzierten sie “analytische Leitlinien” (S. 17), die zwar nicht konsequent in den Beiträgen eingehalten, aber dann doch mit zu einem höheren Maß an Stringenz geführt haben. Gleichwohl ist auch dieser Sammelband so fragmentarisch wie fast jeder Sammelband. Man findet darin Ausführungen zu bekannten Deutungen, aber auch zu ungewöhnlichen Perspektiven. Für den erstgenannten Aspekt steht etwa die vergleichende Betrachtung von Arendt und Friedrich, wobei die Differenzen der häufig als weitgehend identisch fehlgedeuteten Ansätze gut herausgearbeitet werden. Den ökonomischen Aspekten der Totalitarismustheorien kommt auch größere Bedeutung zu. Hier wird etwa zutreffend die “dunkle Seite von Hayeks Totalitarismustheorie” (S. 282) in Form des Plädoyers für den Autoritarismus angesprochen. Insofern regen die Blicke auf viele bekanntere und weniger bekanntere Klassiker die Debatte über Totalitarismusdeutungen weiter an.
Frank Schale/Ellen Thümmler (Hrsg.), Den totalitären Staat denken, Baden-Baden 2015 (Nomos-Verlag), 314 S., ISBN 978–3–8487–1640–1, 49,00 Euro