Abergläubisch sind immer die anderen

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Der Begriff des Aberglaubens hat eine lange Geschichte und wurde dem Zeitgeist und der religiösen Entwicklung entsprechend mehrfach umgedeutet. Wurde er in früheren Zeiten relativ neutral interpretiert und wertfrei verwendet, haftet ihm seit mehreren Jahrzehnten eine negative Konnotation an.

Der Missionsdrang und der Kampf der religiösen Kulturen hat dem Begriff des Aberglaubens einen anrüchigen Anstrich gegeben: Um die konkurrierenden Religionen oder Glaubensgemeinschaften abzuwerten, werden sie des Aberglaubens bezichtigt.

Die Religionen wurden früher in ihren angestammten Regionen kaum hinterfragt oder angezweifelt. Mit der Aufklärung, dem wachsenden Wissenschaftsverständnis und der Säkularisierung gerieten aber auch sie zunehmend in den Ruch, wenigstens teilweise abergläubische Aspekte aufzuweisen. Mit der Ausbreitung des Atheismus ist die öffentliche Kritik auch an den Weltreligionen kein Tabu mehr. Für Atheisten und für viele Agnostiker tragen alle Religionen den Keim des Aberglaubens in sich.

Ein Buch voller Geschichten

Aber auch für geistig unabhängige Zeitgenossen, die sich nicht als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben Buchreligionen (Judentum, Islam und christliche Heilslehre) abergläubische Elemente. Kritische Geister verbannen viele biblische Geschichten ins Reich der Mythen und Legenden.

Ein paar Beispiele:

  • Die Teilung des Meeres bei der Flucht der Urchristen aus Ägypten.
  • Die Sintflut mit der Arche Noah, die das Überleben der Menschheit und aller Tierarten gesichert haben soll.
  • Die Himmelfahrt von Maria.
  • Die Heilung von Blinden und Erweckung von Toten durch Jesus, seine Auferstehung und so weiter.

Für strenggläubige Christen aus dem freikirchlichen Umfeld ist die Bibel – das Alte wie das Neue Testament – das authentische Wort Gottes. Und somit gültig bis in alle Ewigkeit. In diesem Absolutheitsanspruch steckt für Skeptiker schon der Aberglaube.

Auch esoterische Konzepte und Ideen sind reich an abergläubischen Elementen:

  • Jenseitskontakte
  • Tarotkarten
  • Lichtnahrung (Esoteriker glauben, sich vom kosmischen oder spirituellen Licht ernähren zu können und keine feste Nahrung mehr zu benötigen)
  • Channeling (erleuchtete Wesen können angeblich mit den göttlichen Hierarchien kommunizieren und himmlische Botschaften empfangen)
  • Lichtwesen bauen ein Metallgitter um die Erde, um die spirituellen Schwingungen zu erhöhen und die geistige Entwicklung zu beschleunigen. Und vieles mehr.

Aber auch verschiedene alternativmedizinische Disziplinen gehören für aufgeklärte Menschen ins Reich des Aberglaubens. Dazu zählen sie die Homöopathie, weil Globuli keine Wirksubstanzen enthalten und lediglich aus Zucker bestehen, Fernheilung, Geistheilung, Schüsslersalze, Heilsteine, Astrologie usw.

Abergläubische Aspekte überall

Zunehmend grassieren auch in weltanschaulichen und politischen Konzepten abergläubische Aspekte. Dazu gehören verschiedene Verschwörungsideen (die Erde ist eine Scheibe, der Planet ist hohl und in ihm leben Reptilienwesen, die aus dem All stammen und die Menschheit versklaven wollen), Chemtrails (Düsenflugzeuge versprühen Gifte, die Frauen unfruchtbar machen oder Krebs verursachen) oder eine geheime Weltregierung, die die Geschicke der Menschheit steuert und die weltweite Macht anstrebt.

Außerdem hängen seit der Coronapandemie viele Maßnahmenkritiker und Coronaleugner Verschwörungsmythen an. Auch links- und rechtsradikale Kreise, für die ihre politischen Ideen und Konzepte eine Ersatzreligion darstellen, sind nicht frei von Aberglauben.

Wenn verrückte Eingebung für wahr erklärt wird

Aus heutiger Perspektive kann man den Aberglauben relativ leicht definieren. Dazu gehören religiöse, spirituelle oder weltanschauliche Ideen, Konzepte oder Lehren, die wissenschaftlich nicht nachweisbar, empirisch fragwürdig, mit der gängigen Lebenserfahrung inkompatibel und/oder völlig unplausibel sind.

Gläubige und Anhänger einer abergläubischen Idee oder Gemeinschaft kontern, die rationale Weltsicht klammere viele Phänomene zwischen Himmel und Erde aus, die zwar (noch) nicht nachweisbar seien, aber trotzdem existieren würden und intuitiv erfahrbar seien. Das mag etwas für sich haben.

Aber solang sie nicht nachweisbar sind und allen Lebenserfahrungen radikal widersprechen, bleiben sie Spekulationen mit einem abergläubischen Grundrauschen. Denn jeder und jede kann eine verrückte Eingebung für wahr erklären und damit in Menschen eine Sehnsucht erzeugen, sie ängstigen und manipulieren.

Eindrückliche Beispiele bieten Sekten, die mit unrealistischen Heilsversprechen Leute ködern, verführen und in die Abhängigkeit ziehen.

Grundsätzlich gilt: Abergläubisch sind immer die anderen. Das ergibt sich aus dem Absolutheitsanspruch aller Glaubensgemeinschaften und Sekten. Wer die Wahrheit für sich beansprucht, ist überzeugt, frei von abergläubischen Elementen zu sein.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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