Der Sozialwissenschaftler Daniel Lock legt mit "Anarchismus zur Einführung" eine Monographie zum Thema vor. Differenziert behandelt er das gemeinte heterogene Lager und konzentriert sich dabei auf die Diskurse und Vordenker, weniger auf die Bewegungen und Lebensformen.
Anarchismus hat in Deutschland nur eine geringe Rolle gespielt. Gustav Landauer und Erich Mühsam, die sicherlich hierzulande bekanntesten Repräsentanten der damit gemeinten Strömung, kennt kaum noch jemand. Anders sah es in Italien oder Spanien aus, wo Anarchisten in der Gewerkschaftsbewegung eine gewisse Wirkung entfalten konnten.
Einschlägige Bewegungen spielten in der Gegenwart ausgerechnet eine Rolle in den USA. Insbesondere in den Kontexten der Occupy-Bewegung kam ihnen größere Relevanz zu. Auch ist kaum bekannt, dass Noam Chomsky, eine internationale Leitfigur der globalisierungskritischen Bewegung, bekennender Anarcho-Syndikalist ist. Insofern steht der Anarchismus auch für ein aktuelles Thema unserer Zeit. Dies gilt auch und gerade für die artikulierte Grundsatzkritik an Staatlichkeit, bedarf doch die Demokratie ebenfalls der ständigen Legitimation. Dazu nötigt die Auseinandersetzung mit dem Anarchismus, unabhängig davon, wie man zu ihm steht.
Eine Einführung zu ihm legte Daniel Loick vor.
Der Autor, der sich mit Gesellschaftstheorie als Hochschullehrer beschäftigt, stellt seiner Darstellung die Definition von Pierre-Joseph Proudhon voran: "Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft" (S. 9). Und er meint selbst weiter dazu: "Das A und das O des Anarchismus widersprechen einander … nicht, sondern sind miteinander verschränkt: Eine anarchistische Politik betreibt einerseits eine Kritik und Überwindung jeglicher Form von Herrschaft, zum anderen aber auch die Konstruktion horizontaler sozialer Organisationsformen" (S. 10).
Aus der Gesamtschau macht Loick danach deutlich, dass Anarchismus keineswegs ein homogenes Phänomen ist. Er differenziert zunächst drei Erscheinungsebenen: den philosophischen Diskurs, die politische Praxis und die konkrete Lebensform. Das Gemeinte wird danach näher vorgestellt: Es geht um Ansätze von Denkern von William Godwin bis zu Peter Kropotkin, um Praktiken von der Pariser Kommune bis zu Occupy Wallstreet und um Experimente von Arbeiterkooperativen bis zu Stadtkommunen.
Der Autor konzentriert sich aber auf die Ansätze und Diskurse. Bezogen auf den erstgenannten Aspekt differenziert er individualistische wie z. B. William Godwin oder Max Stirner und kollektivistische Strömungen wie z.B. Michail Bakunin oder Peter Kropotkin. Ob Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau als Anarchisten der erstgenannten Gruppe gelten müssen, kann man sicherlich auch anders sehen. Der Anarchismus nach 1968 kommt anschließend nur kurz vor. Dem folgen ausführliche Betrachtungen zu den Diskursen und Motiven. Es geht um die Einstellungen zu Freiheit und Staat, Kapitalismus und Geschlechterverhältnissen, Rassismus und Ökologie, die Organisationsformen und die Transformationstheorie. Da es an Alternativmodellen in theoretischer Form mangelt, schreibt der Autor: "Statt eine andere Gesellschaft und den Weg, der zu ihr führt am Reißbrett zu entwerfen, ermöglicht die Praxisorientierung des Anarchismus plurale, ergebnisoffene und daher antiautoritäre Transformationsexperimente …" (S. 220).
Loick erweist sich als guter Kenner der Materie. Er macht auch auf die Differenzen in den Richtungen aufmerksam und schafft Ordnung über eine Typologie. Bezogen auf die drei Erscheinungsformen des Anarchismus konzentriert der Autor sich nicht auf die Bewegung und Lebensformen, sondern auf die Philosophie. Dafür gibt es gute Gründe: Denn in den erstgenannten Bereichen lässt sich wenig über die Anarchisten sagen, was die unterschiedlichen Philosophien und Theorien angeht schon. Daher hätte noch mehr die Frage gestellt werden können, warum die Ideen in der Praxis doch immer wieder scheiterten. Der Autor nennt auch Kritik und setzt sich damit inhaltlich auseinander. Er blendet dabei aber bedeutende Probleme eher aus. Dazu gehört etwa die Frage nach der Konfliktregelung in einer anarchistischen Sozialordnung. Bedauerlich ist außerdem, dass die anregende und informative Darstellung leider nichts Näheres zu den "Anarcho-Kapitalisten" und den "Autonomen" der Gegenwart sagt.
Daniel Loick, Anarchismus zur Einführung, Hamburg 2017 (Junius-Verlag), 256 S., ISBN 978-3-88506-768-9, 15,90 Euro
3 Kommentare
Kommentare
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Das Lieblingsbuch meiner Jugend war das leider kaum bekannte "Buch Merlin" von T.H. White.
Merlin selbst spricht darin den Satz:"Ich bin Anarchist, wie jeder vernünftige Mensch." Das hat mich damals sehr beeindruckt.
Wie den Autor obiger Rezension habe ich aber auch festgestellt, dass "die Ideen in der Praxis doch immer wieder scheiterten". Das führte mich zu meinem bis heute bevorzugten Modell: Von der praktischen Monarchie zur utopischen Anarchie.
Ich bin überzeugt davon, dass die Anarchie der Natur des geistig gesunden und kultivierten Menschen am ehesten entspricht.
Leider ist die Anarchie die Gesellschaftsform, die am verwundbarsten für Störungen durch geistig nicht gesunde oder unkultivierte Menschen ist.
Kay Krause am Permanenter Link
Ich denke, dass letztlich jede gutgemeinte Art von Herrschaft (dazu zähle ich auch den Kommunismus oder Sozialismus!) scheitern muß und scheitert, und zwar nicht an der Ideologie, am System an sich, sondern am Mensche
ich am Permanenter Link
"Bedauerlich ist außerdem, dass die anregende und informative Darstellung leider nichts Näheres zu den "Anarcho-Kapitalisten" und den "Autonomen" der Gegenwart sagt."
Also die sogenannten Anarcho-Kapitalisten haben mit dem Anarchismus einfach nichts zu tun. Sie schmücken sich mit dem Namen, aber werden von der anarchistischen Bewegung völlig zu recht nicht anerkannt und bekämpft. Anarchismus richtet sich immer gegen Kapitalismus.
Bei den Autonomen wäre es sicherlich interessant gewesen sie darzustellen, aber diese Gruppe ist noch heterogener als die Anarchisten es schon sind. Und außerdem sind die Autonomen ein noch kleineres Phänomen als die Anarchisten.