Der gewaltfreie Anarchist Leo Tolstoi

(hpd) Dass der weltberühmte Schriftsteller Leo Tolstoi ein überzeugter Anarchist war, belegen die Aufsätze in dem kleinen Sammelband “Die Sklaverei unserer Zeit”. Sie lassen einen gewaltfreien Gegner der Institution “Staat” erkennen, welcher aber sehr stark moralisierend und weniger analysierend seine auch heute noch beachtenswerte Gesellschaftskritik formuliert.

Fragt man nach den bekanntesten Repräsentanten des Anarchismus in Gegenwart und Vergangenheit, so dürften für beide Phasen “hauptberuflich” ganz anders bekannte Personen genannt werden: aktuell der Linguist Noam Chomsky, der sich als Anarchosyndikalist definiert, und historisch der Schriftsteller Leo Tolstoi, der sich als christlicher Anarchist verstand. Wer die politischen Positionen des weltberühmten Autors von “Anna Karenina” und “Krieg und Frieden” kennen lernen will, der kann zu dem kleinen Sammelband “Die Sklaverei unserer Zeit” greifen. Er enthält neben einem Nachdruck des titelgebenden Aufsatzes noch die Texte “Patriotismus und Regierung” und “Aufruf an die Menschheit”, die alle 1900 erstmals erschienen. Umrahmt werden sie von einer kurzen Einführung des Herausgebers Ulrich Klemm zu Tolstois Anarchismus der Gewaltfreiheit und dem Nachdruck eines Kommentars von Erich Mühsam anlässlich Tolstois 100. Geburtstag sowie kurzen Angaben zu dem Leben und Werk des Schriftstellers von Siegbert Wolff.

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Der ausführlichste Text “Die Sklaverei unserer Zeit” geht von der Fortsetzung der Sklaverei auch nach dessen formaler Abschaffung durch die Arbeit im Industriekapitalismus aus. Dort heißt es: “Das Elend der Lage des Fabrik- und überhaupt des Stadtarbeiters besteht nicht darin, dass er lange arbeitet und wenig verdient, sondern darin, dass er der natürlichen Lebensbedingungen inmitten der Natur, seiner Freiheit verlustig geht und zu einer unfreiwilligen, fremden und einförmigen Arbeit gezwungen wird” (S. 28). Und weiter heißt es: “Die Ursache der elenden Lage der Arbeiter ist die Sklaverei. Die Ursache der Sklaverei sind die Gesetze. Die Gesetze aber basieren auf dem organisierten Vergewaltigungssystem. Und daher ist eine Besserung der Lage der Menschen nur durch die Vernichtung des organisierten Vergewaltigungssystems erreichbar” (S. 54). Gemeint war damit die Institution des Staates, der durch Gesetze etwa zu Steuerzahlungen derartige Bedingungen garantiere und durch eine gewaltfreie Haltung der Verweigerung überwunden werden sollte.

In eine ähnliche Richtung gehen auch die beiden anderen, kürzeren Texte Tolstois: “Patriotismus und Regierung” kritisiert die aus seiner Sicht schändliche Wirkung des Nationalismus, der die Menschen gegeneinander aufbringe statt sie solidarisch zu einen. Scharf formulierte der Schriftsteller: “Zu der Vernichtung der Regierungen ist nur eines nötig: Die Menschen müssen begreifen, dass jenes Gefühl des Patriotismus, welches allein dieses Werkzeug der Vergewaltigung stützt, ein rohes, schädliches, schimpfliches und schlechtes Gefühl ist, vor allem aber ein unmoralisches” (S. 84). Und in eine ähnliche Richtung ging der “Aufruf an die Menschheit”, der in bildhafter Sprache die sozialen Ungerechtigkeiten seiner Zeit benannte. Es heißt etwa: “Der Fabrikant stiehlt offen auf diese Weise jahrein, jahraus von dem Arbeiter mehr als die Hälfte seines Verdienstes und eignet sich denselben an” (S. 100). Tolstoi kritisiert hier aber auch die Kirche, welche dem Volk ein falsches Christentum zur Akzeptanz und Erduldung derartiger Gegebenheiten eingeimpft habe.

Mitunter ist man bei der Lektüre erstaunt über die Radikalität in den Worten Tolstois, der nicht eine bestimmte Form des Staates, sondern die Institution an sich ablehnte. Ganz offen trat er für deren Überwindung ein, indessen in Form der Gewaltfreiheit einer Weigerung. Dabei argumentiert der Schriftsteller – wie Herausgeber Klemm in seiner Einleitung mit kritischem Unterton zurecht anmerkt – häufig in moralisierender Weise. Er artikuliert sich auch mehr als individueller Gesellschaftskritiker und weniger als politischer Theoretiker. Seine Kapitalismuskritik hat indessen mit Ausführungen, die heute mit dem Begriff der “Entfremdungstheorien” erfasst werden, einen durchaus modernen Einschlag. Indessen verkennt seine pauschale Negierung der Institution Staat, dass es auch Formen von Staaten geben kann, welche wie die Wohlfahrtstaaten die von ihm beklagten gesellschaftlichen Zustände tendenziell aufheben konnten. Eine konkrete Alternative zu ihnen benannte Tolstoi nicht. Indessen verdient seine Kritik eine konstruktive Auseinandersetzung.

 


Leo N. Tolstoi, Die Sklaverei unserer Zeit. Ausgewählte Texte. Herausgegeben von Ulrich Klemm, Frankfurt/M. 2007 (Trotzdem-Verlagsgenossenschaft), 121 S.

 

Das Buch ist auch beim Alibri-Verlag erhältlich.