Der studierte Historiker und Philosoph Philippe Kellermann gibt mit "Anarchismus und russische Revolution" einen Sammelband zur Einstellung von Anarchisten gegenüber der Oktoberrevolution heraus. Dabei handelt es sich um meist direkt aus den historischen Quellen herausgearbeitete Fallstudien, die in der Regel von Sympathie gegenüber den Anarchisten geprägt sind.
2017 jährt sich die Oktoberrevolution in Russland zum hundertsten Mal. Damit einher ging nach 1917 die Etablierung eines ersten sozialistischen Staates, der dann aber binnen kurzer Zeit in einem diktatorischen System zunächst autoritärer und später totalitärer Dimension mündete. Diese Entwicklung war durchaus schon früh vorhergesehen worden und zwar nicht von reaktionären Gegnern der Revolution. Gerade Anhänger des Anarchismus sahen die Gefahr, dass es nicht zu einer "Diktatur des Proletariats", sondern zu einer "Diktatur über das Proletariat" kommen würde. Dabei standen sie aber vor einem Dilemma: Einerseits begrüßten Anarchisten den Sturz des Zarenreichs und die Forderung nach Macht für die Sowjets, andererseits erkannten sie die erwähnte Gefahr für die Freiheit durch die bolschewistische Diktatur. Was das bezogen auf deren Einstellungen und Handlungen für Konsequenzen hatte, machen die Autoren des Sammelbandes "Anarchismus und Russische Revolution" deutlich. Der studierte Historiker und Philosoph Philippe Kellermann gab ihn heraus.
Er enthält elf Aufsätze zu unterschiedlichen Gesichtspunkten des Themas: Dmitri Rublew geht auf die politischen Positionen der Anarchisten in der russischen Revolution 1917- 1918 ein. Er bemerkt auch: "Die ‚sowjetischen Anarchisten‘ sahen in der bolschewistischen Diktatur im Vergleich zum Sieg der Weißgardisten das ‚kleinere Übel‘, erkannten die Notwendigkeit der Arbeit in den Staatsorganen an und gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, diese würden sich zu Selbstverwaltungsorganen entwickeln" (S. 54). Die damals bedeutsame Machno-Bewegung und deren Verhältnis zum Anarchismus werden von Alexander Schubin thematisiert. Lutz Häfner geht den Auffassungen und Handlungen der "Sozialisten-Revolutionäre (Maximalisten)" und "Linken Sozialisten-Revolutionäre" in der russischen Revolution nach. Mitchell Abidor untersucht das Verhältnis des damals einflussreichen Intellektuellen Victor Serge zum Anarchismus, und Reiner Tosstorff fragt nach der Einstellung der Syndikalisten zur Oktoberrevolution.
Wie diese von italienischen Anarchisten wahrgenommen wurde ist danach das Thema von Franco Bertolucci und wie der spanische Anarchosyndikalist Angel Pestana die Ereignisse kommentierte das Thema von Martin Baxmeyer. Dieser referiert auch Beobachtungen zu den besonderen Tricks der Bolschewiki zur Machtstabilisierung: "So wurden, um nur ein Beispiel zu nennen, ausländische Delegierte, die den Bolschewiki nichtgenehme Ansichten vertraten, überraschend zu dem bewussten Bootsausflug auf der Wolga eingeladen" (S. 277). Anschließend geht es bei Werner Portmann um die Wirkung der Oktoberrevolution auf den Anarchismus in der Schweiz und bei Philippe Kellermann um die Stellungnahmen deutscher Anarchisten und Anarchosyndikalisten zur Russischen Revolution 1919. Die Differenzen zu deren Einschätzung bei den anarchistischen Intellektuellen Erich Mühsam und Pierre Ramus werden danach von Siegbert Wolf untersucht. Und schließlich beschreibt Vadim Damier das Berliner Zentrum der russischen anarchistischen Emigranten in den 1920er Jahren.
In der Gesamtschau fällt zunächst auf, dass die Beiträge nur durch das Thema "Anarchismus und russische Revolution" miteinander verbunden sind. Es gibt demnach keine darüber hinausgehende besondere Fragestellung, die sich als Erkenntnisinteresse durch die Texte zieht. Diese sind in Form und Inhalt wie folgt geprägt: Meist handelt es sich um historische Beschreibungen, die aber direkt aus den Quellen abgeleitet wurden. Insbesondere die russischen Autoren bereichern hier das Wissen zum Thema. Aber auch die Beiträge der deutschsprachigen Verfasser betreten mitunter Neuland. Dies gilt etwa für die Abhandlung über die eher probolschewistische Neigung von Erich Mühsam und die eher bolschewismuskritische Orientierung von Pierre Ramus. Inhaltlich fällt auf, dass die meisten Autoren dem Anarchismus größere Sympathien entgegen bringen. Gleichwohl machen sie differenziert auch auf die Brüche in der gemeinten Bewegung aufmerksam. Insgesamt handelt es sich um viele Detailstudien, die wohl nur besonders Interessierte ansprechen.
Philippe Kellermann (Hrsg.), Anarchismus und russische Revolution, Berlin 2017 (Karl Dietz-Verlag), 415 S.
4 Kommentare
Kommentare
Martin Mair am Permanenter Link
Was soll diese implizit ausgedrückte Abwertung des Anarchismus? Warum soll mensch keine Sympathie für "Anarchismus" haben, zumal der "Anarchismus" durchaus dem "Humanismus" nahe steht?
Mike am Permanenter Link
OMFG was hat das Geschlecht jetzt schon wieder damit zu tun? Muss eigentlich alles sexistisch aufgeladen werden?
Kay Krause am Permanenter Link
Egal ob Ab- oder Aufwertung, Herr Mair: Anarchismus ist - ebenso wie der Kommunismus - eine wunderbare Idee (Ideologie), aber leider nicht durchführbar. Hier scheitert der Mensch an sich selbst.
Und da diese Erkenntnis kein "Glaube", sondern beweisbares "Wissen" ist, kann man zwar ruhigen Gewissens Sympathie haben für den Anarchismus, sollte sich aber praktischerweise besser befassen mit der Verbesserung unserer gelebten Demokratie.
Mike am Permanenter Link
der Mensch besitzt sowohl "gute" wie auch "schlechte" Elemente. Wie diese sich auf sein Verhalten auswirken liegt oft begründet in den Umständen in denen er lebt.
Ist Demokratie demnach auch nicht erstrebenswert?