Interview zum Terroranschlag in Halle

"Antisemiten trauen sich wieder mehr, Antisemiten zu sein"

Der Terroranschlag von Halle wurde von einem rechtsextremen Einzeltäter verübt. Nach Ansicht des Soziologen und Politikwissenschaftlers Armin Pfahl-Traughber ist künftig häufiger mit Terroranschlägen durch Einzeltäter zu rechnen. 

hpd: Herr Pfahl-Traughber, nach dem Vorbild des Attentäters von Christchurch hat vergangene Woche ein junger Mann aus Sachsen-Anhalt versucht, in Halle an der Saale eine Synagoge zu stürmen und dort ein Blutbad unter den anwesenden Juden anzurichten. Was weiß man über den Täter von Halle und seine Motive? Gehörte er rechten Netzwerken an?

Pfahl-Traughber: Die Frage hat eine persönliche, politische und technische Dimension. Fangen wir mal mit der persönlichen Dimension an: Der gemeinte Stephan B. ist 27 Jahre alt. Ein Chemie-Studium brach er aus gesundheitlichen Gründen ab. B. war arbeitslos. Freunde hatte er kaum. Eine Beziehung führte B. wohl nicht. Die Nachbarn schildern ihn als sozial isoliert und unauffällig. Das sind übrigens alles Merkmale, die auf die meisten rechten Lone-Wolf-Terroristen zutreffen.

Was die politische Dimension angeht: B. gehörte offenbar keiner politischen Gruppe an. Den Sicherheitsbehörden war er nicht bekannt. Ideologisiert und politisiert hat B. sich wohl über das Internet. Mit den erwähnten persönlichen Einstellungen wurde er dort mit für ihn attraktiven Hassbotschaften konfrontiert. Das von B. hinterlassene "Manifest" enthält indessen keine genaueren Erläuterungen zu den gemeinten Feinden. Diese waren für B. primär die Juden, aber auch Linke und Muslime.

Was die technische Dimension angeht, da lässt sich zunächst sagen, dass er sich die meisten seiner Waffen selbst zusammenbastelte. Die dabei von B. gemachten Fehler erklären wohl mit, dass er nicht so viele Menschen töten konnte, wie eigentlich beabsichtigt war. In dem erwähnten "Manifest" widmet er übrigens der Präsentation seiner Waffen große Aufmerksamkeit. Die politische Dimension geht demgegenüber unter. Gleichwohl wird in aller Deutlichkeit dazu aufgerufen, dass man alle Juden töten solle.

In seinen bisher bekannt gewordenen Mitteilungen hat der Täter von Halle sehr deutlich antisemitische Einstellungen als Motiv für seine Tat genannt und wollte gezielt Juden töten. Der Täter von Christchurch hatte sich Muslime als Opfer ausgesucht. Bedeutet das, dass beide Täter in ihrer politischen Ausrichtung doch grundsätzliche Unterschiede aufweisen?

Nein, das kann man so nicht sagen. B. bekannte ja in seinem "Manifest", dass er ursprüngliche eine Moschee oder ein linkes Kultur-Zentrum angreifen wollte. Davon hatte er dann Abstand genommen und sich für die Synagoge in Halle entschieden. Dafür nannte B. indessen keine ideologischen, sondern logistische Gründe. Es finden sich auch gar keine Bekundungen in seinem Text, welche die inhaltliche Auswahl seiner Zielobjekte nachvollziehbar machen. Zwar fällt das Kürzel ZOG, was für "Zionist Occupied Government", also "Zionistisch beherrschte Regierung" steht, und den Glauben an eine "jüdische Verschwörung" nahelegt. Ansonsten leugnete B. noch bevor er loszog den Holocaust. Aber ansonsten spielt diese Auffassung inhaltlich keine Rolle.

Der Christchurch-Täter stellte indessen mehr auf den "Großen Austausch" ab, wobei es sich eigentlich auch um eine Konspirationsvorstellung handelt. Denn danach soll die einheimische durch eine migrantische Bevölkerung ersetzt werden. Wer aber nun genau die Akteure dieser Verschwörung sein sollen, lassen die Anhänger dieser Vorstellung indessen meist im Unklaren. Es können auch immer die Juden als Verschwörer gelten. In der Gesamtschau gehören die beiden Gemeinten schon zum gleichen Typ.

Ist der Antisemitismus in Deutschland auf dem Vormarsch? Falls ja: Woran liegt das? Falls nein: Wie entsteht der Eindruck, dass es so ist?

Antisemitismus ist hinsichtlich Ausdrucksform und -inhalt ein komplexes Phänomen. Insofern kann man die Frage seriös nicht pauschal beantworten. Fangen wir mal mit den antisemitischen Einstellungen an: Sie sind bezogen auf rassistische und religiöse Ausrichtungen eher zurückgegangen, hinsichtlich der sozialen und verschwörungsideologischen Komponente eher stabil geblieben und hinsichtlich der Israelfeindlichkeit und Schuldabwehr eher angestiegen.

Bei den Gewalthandlungen und Straftaten lässt sich indessen ein klarer Anstieg beobachten. Folgt man den vom Bundeskriminalamt ermittelten Daten, die aber weder eindeutig noch vollständig sein müssen – wir haben aber aktuell keine besseren Informationen – dann gab es  2018 1.799 antisemitische Straftaten, also ein Anstieg von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Darunter fanden sich auch 69 Gewalttaten. Weit über 90 Prozent dieser Taten werden der "PMK-rechts" zugeschrieben, gelten also als politisch rechts motiviert. Indessen gibt es an dieser Einteilung auch Kritik, was aber ein anderes Thema wäre.

Ganz allgemein muss hier noch konstatiert werden, dass die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung in den letzten Jahrzehnten immer wieder von einem antisemitischen Einstellungspotential von um die 20 Prozent in der Bevölkerung ausgingen. Es gab auch für recht eindeutige Items wie etwa "Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns" mit 9,1 Prozent hohe Zustimmung.

Aber noch zurück zur Frage nach den Gründen: Meiner Auffassung nach hat sich das antisemitische Einstellungspotential nicht quantitativ erhöht. Aus einer früher eher latenten Aversion ist indessen eher eine manifeste Bekundung geworden. Anders formuliert: Antisemiten trauen sich wieder mehr, Antisemiten zu sein, was eben mit einer Änderung von gesellschaftlichen Stimmungen zu tun hat. Der anti-antisemitische Konsens prägt die öffentliche Wahrnehmung, im Alltagsleben sieht es für nicht wenige Juden anders aus.

Es war in den letzten Tagen oft zu hören, dass die AfD eine Mitschuld an den Ereignissen trage, weil sie rechtes Gedankengut wieder hoffähig gemacht habe. Doch die AfD-Führungsspitze hat sich nach Halle in den sozialen Medien deutlich von Antisemitismus distanziert. Wie passt das zusammen? Und sehen Sie tatsächlich eine Mitschuld der AfD?

Eine solche Aussage wäre mir zu pauschal. Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass für die AfD der Antisemitismus kein primäres Agitationsthema ist und sie auch nicht zu Gewalt gegen Juden aufgerufen hat. Dies macht die Partei indessen in diesem Kontext nicht zu einem unproblematischen Akteur. Das wird bereits darin deutlich, dass sie sich zwar einerseits als offiziell pro-jüdisch gibt, andererseits aber von den Bundestagsparteien eben jene Partei mit dem größten Antisemitismus-Problem ist.

Die letztgenannte Aussage meint folgendes: Aus regelmäßigen Umfragen ist bekannt, dass der Anstieg von judenfeindlichen Einstellungen mit der politischen Orientierung nach rechts steigt. Insofern ist auch nicht verwunderlich, wenn hier die AfD-Wähler vorn liegen. Gleiches darf mit guten Gründen für die Parteimitglieder vermutet werden. Darüber hinaus gab und gibt es immer wieder einschlägige Skandale. Ein Wolfgang Gedeon, der an die Echtheit der antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion" glaubt, ist immer noch  nicht aus der Partei ausgeschlossen.

Warum gibt man sich offiziell als pro-jüdisch? Dies hat einen sehr einfachen Grund: So kann man sich umso einfacher muslimenfeindlich geben. Denn der Antisemitismus wird von der AfD nicht als ein Problem der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern als das der Muslime angesehen. Dort gibt es tatsächlich hohe Einstellungspotentiale von Judenfeindschaft. Indessen will die AfD auch so vom Antisemitismus im eigenen Lager ablenken und sich offiziell als gemäßigt geben. Die jüdischen Organisationen sind indessen nicht auf diese Selbstdarstellung der Partei hereingefallen.

Nach dem Mordfall Lübke sind mit der Tat von Halle in Deutschland bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate Menschen von rechtsextremen Tätern ermordet worden. Muss man jetzt häufiger mit solchen Taten rechnen?

Ja, so lautete auch meine Prognose von 2016. Seinerzeit hatte ich eine länderübergreifende Analyse von rechtsterroristischen Lone-Wolf-Fällen vorgenommen und daraus abgeleitet, dass es perspektivisch zu einem Anstieg von Einzeltäter- oder Lone Actor-Terrorismus kommen würde. Ganz allgemein sieht man bei der Entwicklung auch in anderen Ideologiebereichen wie dem Islamismus, dass terroristische Gewalt zunehmend von Einzeltätern und Kleingruppen ausgeht. Das ist übrigens eine Tendenz, die schon Ende der 1990er Jahre absehbar war, also noch vor den ersten NSU-Morden.

Gibt es Schätzungen, wie viele potentiell gefährliche Menschen derzeit dem rechten Milieu in Deutschland zuzurechnen sind?

Die Verfassungsschutzbehörden haben für 2018 24.100 Personen dem mehr oder minder organisierten Rechtsextremismus zugeordnet, wobei hier die AfD mit der Gesamtsumme ihrer Mitglieder nicht eingerechnet ist. Ohnehin gilt sie gegenwärtig noch als Prüffall. Von dem genannten Personenpotential werden 12.700 als gewaltorientiert eingeschätzt. Dabei handelt es sich insbesondere um die Anhänger der Neonazi-Szene und ein weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotential.

Die Gemeinten huldigen nicht nur dem historischen Nationalsozialismus, sie bewegen sich auch in einem hochgradig gewaltaffinen Milieu. Hier können latente Einstellungen schnell zu manifesten Gewalttaten werden. Wer deren Songtexte, Sprüche und Witze kennt, nimmt auch die darin enthaltenen Einstellungen und Mentalitäten wahr. Darüber hinaus ist in den genannten Bereichen der Kampfsport groß im Kommen, man bereitet sich auf unterschiedlichen Ebenen für eine gewaltorientiertere Vorgehensweise vor. Es kann aber auch Gewalt von anderen Personen ausgehen. Stephan B. gehörte nach aktuellem Kenntnisstand nicht einer neonazistischen Organisation an und radikalisierte sich eigenständig über einen besonderen Internetkonsum. Damit ist und war er nicht der einzige Lone Wolf-Terrorist.

Das Interview für den hpd führte Daniela Wakonigg.


Die von Armin Pfahl-Traughber gemeinte Analyse hat folgende bibliographische Daten: Die Besonderheiten des "Lone-Wolf"-Phänomens im Rechtsterrorismus. Eine vergleichende Betrachtung von Fallbeispielen zur Typologisierung, in: Jahrbuch für Extremismus-und Terrorismusforschung 2015/2016 (II), Brühl 2016, S. 230-263.