Schwerpunkt "Arthur Schopenhauer"

Aufklärung und Kritik 2/2016 erschienen

NÜRNBERG. (hpd/gkpn) Das aktuelle Heft von "Aufklärung und Kritik", der umfangreichen Vierteljahreszeitschrift der Gesellschaft für Kritische Philosophie Nürnberg, ist erschienen. Die Redaktion hat dem hpd wieder das Vorwort zu Verfügung gestellt.

Arthur Schopenhauer ist im In- und Ausland einer der meistgelesenen deutschen Philosophen. Seine Willensmetaphysik schlägt in der europäischen Philosophie einen ganz neuen Ton an. Anders als fast die gesamte philosophische Tradition sieht Schopenhauer Wesen und Grund der Wirklichkeit nicht mehr in einem vernünftigen Prinzip oder einem göttlichen Geist, sondern in einem blinden, unvernünftigen Lebenswillen. Aber auch Schopenhauers Qualitäten als Stilist haben seine Rezeption weit über die akademische Welt hinaus erheblich gefördert. Wie jedoch sein komplexes Werk in seinem Grundanliegen richtig zu verstehen und philosophiegeschichtlich zu verorten ist, ist eine durchaus offene Frage. Üblich ist es, Schopenhauer als Vorläufer Nietzsches und als Wegbereiter der Lebensphilosophie zu verstehen. Auch seine Rolle als Entdecker des Unbewussten und als Vorreiter der Psychoanalyse wird häufig ebenso hervorgehoben wie seine Verdienste um die Aufnahme und Vermittlung der indischen Philosophie. Doch gerade wegen dieser Wirkung wird Schopenhauer nicht selten eine Abkehr vom rationalistischen Weltbild und vom Rationalismus überhaupt bescheinigt und sein Werk in die Tradition des philosophischen Irrationalismus eingereiht.

Vernachlässigt wird jedoch häufig die enge Beziehung, die Schopenhauers Denken zur Aufklärung hat. Schopenhauer schreibt die klare, pointierte, satirisch bissige Prosa des 18. Jahrhunderts, und er hat – in Gegnerschaft zu den Philosophen des Deutschen Idealismus – der lange vorherrschenden theologisch inspirierten Metaphysik endgültig den Garaus gemacht. Er sah sich als Erbe Voltaires, Humes und Kants. Es ist deshalb eines der Anliegen des vorliegenden Sonderbandes, auch den oftmals verdeckten Spuren nachzugehen, die Schopenhauer mit dem kritischen Impuls der Aufklärung verbinden, wie sie u.a. in seiner rationalen philosophischen Grundhaltung, in seiner Kritik der Religion und traditionellen Metaphysik, in seinen engen Bezügen zum Materialismus, in seiner sozial und ökologisch orientierten Ethik und in seinen Ansätzen zu einer rationalen Klugheitslehre sichtbar werden. Schopenhauer mag sich vom rationalistischen Weltbild, wie es zur Zeit der Aufklärung noch weit verbreitet war, abgewandt haben. Er tat dies allerdings in einer rationalen und kritischen Art und Weise, die ihn gerade in die Tradition aufklärerischen Denkens stellt. Eine wiederkehrende These der folgenden Beiträge besteht denn auch darin, dass Schopenhauer, im Gegensatz zu seinem verbreiteten Image, kein Gegner der Aufklärung und einer kritisch-rationalen Grundhaltung war, sondern ein der Aufklärung verpflichteter "Rationalist des Irrationalen", der sich um die Offenlegung der unbewussten, triebhaften und negativen Kräfte und Tendenzen in Natur und Geschichte bemüht hat.

In seinem autobiographisch gehaltenen Beitrag erläutert der Ehrenvorsitzende der Gesellschaft für kritische Philosophie, Hans Albert, wie er Schopenhauers Werk kennengelernt und welche Rolle es in seinem Denken gespielt hat. Positiv würdigt er Schopenhauers Erkenntnistheorie und Religionskritik, doch distanziert er sich von dessen Apriorismus und Pessimismus. Von besonderem Interesse ist das freimütige Bekenntnis, dass der Terminus "Münchhausen-Trilemma", den Albert für die Begründungsproblematik geprägt hat, sich einer unbewussten Reminiszenz an seine Schopenhauer-Lektüre verdankt.

In seinem einleitenden, biographisch und geistesgeschichtlich orientierten Beitrag weist Robert Zimmer auf die vielfältigen aufklärerischen Wurzeln in Schopenhauers Denken hin. Verdeutlicht wird, wie durch seine Herkunft aus einem republikanisch-aufklärerischen Elternhaus sowohl die Grundlagen für seine spätere kosmopolitische Haltung als auch für seine lebenslange Vorliebe für die Literatur der Aufklärung und ihre englischen, französischen und deutschen Hauptvertreter gelegt wurde. Der Philosoph Schopenhauer erscheint dabei nicht nur in seiner radikalen Religions- und Metaphysik-Kritik als Fortsetzer des kritischen Programms der Aufklärung. Gezeigt wird, dass auch seine Willensmetaphysik, die die irrationalen Seiten der Welt und des Menschen herausarbeitet, eine aufklärerische Funktion hat. Ein weiterer, bisher wenig beachteter Anknüpfungspunkt an die Aufklärung wird nach Zimmer in den Aphorismen zur Lebensweisheit sichtbar, die in der Tradition der aufklärerischen Popularphilosophie stehen.

Auch im Beitrag von Matthias Koßler wird deutlich, dass sich bereits beim jungen Schopenhauer eine Rückwendung von der Romantik zur Aufklärung feststellen lässt. Thematisiert wird dazu der philosophische Begriff der Besonnenheit, auf den der junge Schopenhauer die Möglichkeit einer Befreiung vom Willen stützt. Der Autor verfolgt, wie der Begriff der Besonnenheit von Schopenhauer zunächst als Gegensatz zur Vernunft und schließlich als Wesensmerkmal der Vernunft gedacht wird. Außerdem wird die These untermauert, dass Schopenhauers Denken, trotz seiner strikten Ablehnung des Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, gerade durch die Aufdeckung der irrationalen Bedingungen und der instrumentellen Rolle der Vernunft (als Werkzeug des triebhaften Willens) einen genuin aufklärerischen Zug hat.

Ludger Lütkehaus deutet in seiner philosophischen Porträtskizze Schopenhauers Auffassung vom Willen als dem triebhaft-unbewussten Wesen der Welt als negative Ontologie, die eine radikal pessimistische Antwort auf die Frage nach dem Wert des Daseins enthält. Da Schopenhauer den Seinsgrund als das Böse und die Welt daher gewissermaßen als verfehlte Schöpfung verstehe, sei das Streben nach Glück illusorisch und Erlösung liege allein in Askese und Weltüberwindung. Doch die Antwort auf die Frage, ob Schopenhauer ein "Buddha des Westens" war, muss nach Lütkehaus zwiespältig ausfallen. Schopenhauer habe nicht nur die sozialphilosophischen Folgen seiner Lehre ignoriert, sondern sei auch selbst keineswegs ein Asket gewesen, der die Antriebe des egoistischen Willens überwunden hätte. Mit seiner am Ende seines Lebens entstandenen "aphoristischen Lebensweisheit" habe er sogar Ansätze einer Glückslehre formuliert.

Mit Schopenhauers These vom Menschen als animal metaphysicum befasst sich Martin Morgenstern. Erläutert wird Schopenhauers Auffassung, dass das Todesbewusstsein den Menschen zum Metaphysiker macht, der ursprünglich in den Religionen und später in der Philosophie Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens sucht. Der Autor hebt hervor, dass Schopenhauer den Religionen als "Volksmetaphysik" eine enorme kulturelle Macht zuschreibt, wobei er den Einfluss der Religionen zwar auch als sozial stabilisierend anerkennt, aber in der Tradition der Aufklärung religiöse Intoleranz und Fanatismus scharf kritisiert. Verdeutlicht wird auch, dass Schopenhauer, obwohl er das metaphysische Bedürfnis durchaus als anfällig für illusionäres Wunschdenken erkennt, den Religionen doch metaphorische Wahrheit zubilligt und an einer, freilich vagen, metaphysisch-religiösen Perspektive festhält.

Mit Schopenhauers kritischer, z.T. aber auch ambivalenter Einstellung zum Christentum befasst sich Gerhard Streminger. Schopenhauer habe zwar die Idee des Schöpfergottes und die damit verbundenen christlichen Dogmen entschieden zurückgewiesen, gleichwohl aber zu anderen christlichen Auffassungen, wie der Lehre von der Erbsünde (als allegorischer Wahrheit) und der christlichen Ethik der Nächstenliebe, eine positive Einstellung bewahrt. Indem es das Böse der Welt, gleichzeitig aber die Güte Gottes lehre, bleibt das Christentum für Schopenhauer zutiefst widersprüchlich. Insgesamt überwiegen, so Streminger, die negativen Merkmale in Schopenhauers Bild des Christentums. Durch einen aufschlussreichen Vergleich zwischen Schopenhauer und David Hume wird verdeutlicht, dass Hume als Vertreter eines liberalen, weniger pessimistischen Menschenbildes zu einer noch kritischeren Haltung zum Christentum gelangt ist als der Pessimist Schopenhauer.

Kann Schopenhauers pessimistisches Denken an die Anliegen des zeitgenössischen säkularen Humanismus angeschlossen werden? Dies ist das Thema des Beitrags von Gerhard Engel. Als Pessimist und Kritiker des Fortschrittsoptimismus ist Schopenhauer, so Engel, sicherlich kein konventioneller Humanist. Dennoch könne man in seiner Philosophie einige bemerkenswerte Verbindungen zum humanistischen Projekt erkennen. Der Autor weist zunächst auf Schopenhauers Skepsis bezüglich politischer Reformen und seine negative Einstellung zur 48er Revolution hin. Doch er sieht in Schopenhauers politischer Philosophie durchaus auch humanistische Ansätze. Positiv hervorgehoben wird z.B. Schopenhauers Redlichkeit und Realitätssinn, die ihn die Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse infolge des technischen Fortschritts anerkennen ließen. Im Einklang mit einem humanistischen Erkenntnisprogramm steht nach Engel auch Schopenhauers Deutung der Musik als "tönende Metaphysik". Sie finde u.a. eine Entsprechung in der zeitgenössischen String-Theorie.

Einen Vergleich zwischen den Ethiken Schopenhauers und Feuerbachs unternimmt Helmut Walther. Obwohl Schopenhauer mit seiner Lehre von der Verneinung des Willens und Feuerbach mit seiner Anerkennung menschlichen Glücksstrebens als Antipoden vorgestellt werden, werden doch auch die Berührungspunkte beider Positionen hervorgehoben. Insbesondere Feuerbachs Übergang von einer an Hegel orientierten Auffassung von Vernunft und Freiheit zum Materialismus sei mit einer Annäherung an Schopenhauer verbunden gewesen. Denn ähnlich wie Schopenhauer sei Feuerbach zu einer instrumentellen Sicht der Vernunft als Diener der Triebe und einer deterministischen Theorie menschlichen Handelns gelangt. Auch in der Annahme, dass moralisches Handeln im Mitleid bzw. im Mitgefühl wurzelt, konstatiert der Autor Übereinstimmung, doch während Schopenhauer darin einen Bruch mit dem natürlichen Egoismus sehe, halte Feuerbach moralisches Handeln für eine sozial verträgliche Form des Glückseligkeitstriebs.

Den geistesgeschichtlich wohl wichtigsten Einfluss hat Schopenhauer auf das Werk Friedrich Nietzsches gehabt, wobei Schopenhauer freilich vom ursprünglich bewunderten Lehrer zum zuletzt heftig attackierten Gegenspieler wird. Diesen Wandel in Nietzsches Einstellung zu Schopenhauer untersucht Günter Gödde. Dargestellt wird die Begeisterung des frühen Nietzsche für Schopenhauers pessimistische Weltsicht und sein idealisierendes Portrait Schopenhauers, sodann Nietzsches klare Distanzierung von Schopenhauer in der mittleren Phase. Schließlich wird gezeigt, wie Nietzsche durch Auseinandersetzung mit Schopenhauers Metaphysik und Ethik zentrale Lehren seines Spätwerks als Antithesen zu Schopenhauer konzipiert hat. Außerdem versucht der Autor der seinerzeit von Jörg Salaquarda festgestellten "gegenseitigen Verdrängung" von Schopenhauer und Nietzsche entgegenzuwirken, indem er etwa auf die Distanzierung des späten Schopenhauer vom radikalen Pessimismus seiner Jugend hinweist und den Blick auf gemeinsame Züge beider Denker hinter ihren zunächst polarisierend wirkenden Positionen hinlenkt.

Arthur Schopenhauer gehört zu den Philosophen des 19. Jahrhunderts, die sich am konsequentesten einer wissenschaftsorientierten, von theologischen Relikten freien Weltdeutung zugewandt haben. So finden sich in seinem Werk auch immer wieder Passagen, die auf die Evolutionstheorie Darwins vorausweisen. Franz M. Wuketits zeigt in seinem Beitrag, dass Schopenhauer sich von einer statischen Naturbetrachtung löst und zu einem Anhänger des Evolutionsdenkens wird. Ein Evolutionstheoretiker hingegen, der die Gesetzmäßigkeiten der Evolution erklären kann, ist Schopenhauer für Wuketits damit aber noch nicht. Er bleibt, so Wuketits, ein eher "skurriler Vorreiter der Evolutionstheorie", dessen Evolutionsdenken von metaphysischen Prämissen und teilweise obskuren Vorstellungen wie der Urzeugung durchsetzt ist.

Das Verhältnis von Schopenhauer und dem Marxismus wird von Wolfgang Weimer untersucht. Ausgangspunkt ist Schopenhauers Stellung zur sozialen Frage, wobei zwischen den Konsequenzen seines philosophischen Systems und seinen persönlichen Äußerungen unterschieden wird. Hervorgehoben wird, dass Schopenhauer und Marx in der Analyse der sozialen Situation und auch in der Ablehnung von Hegels These der Vernünftigkeit der Wirklichkeit im Kern übereinstimmen, dass aber beide gegenteilige Konsequenzen daraus ziehen. Schopenhauer sei eben primär Pessimist und kein Sozialreformer. Weimer geht nacheinander auf das Verhältnis der wichtigsten Vertreter des Marxismus im 20. Jahrhundert zu Schopenhauer ein: auf Georg Lukács als Hauptvertreter des Irrationalismus-Vorwurfs, auf Ernst Blochs ambivalente, aber insgesamt doch negative Einstellung zu Schopenhauer und schließlich auf Max Horkheimer als den Einzigen, der Schopenhauers hellsichtigen Pessimismus würdigte und in sein Denken einbezog.

Anders als Nietzsche, der sich zunehmend von Schopenhauer distanzierte, hat Sigmund Freud sich gerade im Alter dem Werk Schopenhauers stärker zugewandt. In seinem zweiten Beitrag versucht Günter Gödde nachzuweisen, dass Freud schon als Mitglied eines studentischen Lesezirkels Schopenhauers Philosophie kennengelernt hat und dass die Übereinstimmungen von Schopenhauers Willensmetaphysik und Freuds früher Konzeption des Unbewussten sich daraus teilweise erklären dürften. Zugleich wird jedoch nachgewiesen, dass Freud sich erst nach dem Ersten Weltkrieg mit den Schriften Schopenhauers intensiv zu beschäftigen begann. Der Einfluss Schopenhauers zeige sich beim späten Freud bereits in der Metaphorik der Sprache, vor allem aber in Freuds Modell von Es, Ich und Über-Ich, in seiner Hypothese des Todesstriebes sowie in seiner Religions- und Kulturkritik. Als grundlegende Gemeinsamkeit wird schließlich hervorgehoben, dass Schopenhauer und Freud "Rationalisten des Irrationalen" waren, die trotz aller naturgegebenen Hindernisse auf den Sieg der Vernunft hofften.

Mit dem Einfluss Schopenhauers auf Max Horkheimer und die von ihm begründete Kritische Theorie befasst sich Michael Jeske. Gezeigt wird, dass Horkheimer eine lebenslange positive Einstellung zu Schopenhauer hatte, die allerdings in seiner mittleren, an Marx orientierten, ideologiekritischen Phase verdeckt war und von Horkheimer erst Ende der 60er Jahre offengelegt wurde. Gestützt auf Schopenhauer habe Horkheimer sich aber schon früh gegen die optimistischen Geschichtskonstruktionen von Hegel und Marx gewandt und der materialistischen Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule ihre charakteristisch pessimistische Färbung gegeben. Schopenhauers Pessimismus habe auf diese Weise zwar als notwendiges Ingrediens in die Kritische Theorie Horkheimers Eingang gefunden, doch habe dieser, im Gegensatz zu Schopenhauer, aber nie die Hoffnung auf eine Welt, in der vermeidbares Leiden möglichst abgestellt ist, aufgegeben.

Angesichts der Verschiedenheit der philosophischen Grundpositionen kann es durchaus überraschen zu sehen, dass Schopenhauer von kritischen Rationalisten wie Karl Popper und Hans Albert besonders geschätzt wird. Wie Martin Morgenstern in seinem zweiten Beitrag zu zeigen versucht, ist es jedoch nicht der pessimistische Metaphysiker oder der idealistische Erkenntnistheoretiker, sondern der Rationalist und Aufklärer Schopenhauer, der bei kritischen Rationalisten hohes Ansehen genießt. Dargestellt wird, dass Albert zwar auch bestimmte Elemente von Schopenhauers Erkenntnistheorie, wie etwa die Betonung der Grenzen des Begründens und den Vorstoß zu einer hypothetischen Metaphysik, durchaus positiv würdigt, doch wichtiger ist für ihn Schopenhauer als Religionskritiker. Popper habe Schopenhauer vor allem als Aufklärer geschätzt, der sich Humanität und Wahrheit verpflichtet weiß und der leidenschaftlich gegen die Dunkelheit der Schriften Hegels polemisierte. Gerade durch seinen Einsatz für Klarheit und Verständlichkeit des philosophischen Denkens sei Schopenhauer zu einem Vorbild für Popper und den kritischen Rationalismus geworden.

Mit dem Einfluss des spanischen Jesuiten und Moralisten Baltasar Gracián (1601-1658) auf die in den Aphorismen zur Lebensweisheit enthaltene Klugheitslehre Schopenhauers befasst sich Robert Zimmer in seinem zweiten Beitrag. Gezeigt wird, dass bereits der junge Schopenhauer zu Beginn der 1820er Jahre damit begann, als lebenspraktische Ergänzung asketischer Willensverneinung sich mit philosophischen Klugheitsreflexionen zu beschäftigen, und dass die Hinwendung zu dieser Thematik von Anfang an entscheidend von Gracián beeinflusst war. Diese Beschäftigung gipfelte u.a. in Schopenhauers Übersetzung des Gracián’schen Handorakels, des Oráculo Manual. In Gracián fand Schopenhauer den Vertreter eines pessimistischen Weltbildes, der in seinen allegorischen Schriften menschliche Illusionen entlarvt, aber zugleich lebenspraktische Regeln und Ratschläge erteilt. Das von Gracián gezeichnete Bild des klugen Weltmanns, der sich in der Hofgesellschaft zu behaupten weiß, werde von Schopenhauer in das bürgerliche Zeitalter transponiert und dabei zum Vorbild des zurückgezogen lebenden Solitärs, der seine geistigen Interessen kultiviert.

Dass Schopenhauer in der Geschichte der Naturethik geradezu eine Pionierrolle zukommt, ist der Tenor des Beitrags von Dieter Birnbacher. Als erster europäischer Denker habe Schopenhauer die Tiere als leidensfähige Wesen in moralische Betrachtungen einbezogen und damit die herrschende anthropozentrische Sicht überwunden, die unter dem Einfluss des Christentums noch Kants Denken beherrscht habe. Schopenhauers Argumentation ist nach Birnbacher aber durchaus differenziert gewesen: Der Beitrag geht auch auf die Gründe ein, die Schopenhauer veranlassten, am moralischen Vorrang des Menschen vor den Tieren festzuhalten, und die ihn, trotz seines Einsatzes für den Tierschutz, weder generelle Verbote der Tierversuche und des Tötens von Tieren noch einen ethischen Vegetarismus fordern ließen.

Mit den Aufsätzen des vorliegenden Bandes ist das Verhältnis Schopenhauers zur Aufklärung sicher nicht umfassend beschrieben. Dennoch sollte hinreichend klar geworden sein, dass Schopenhauer mit seiner rationalen, wissenschaftlich orientierten philosophischen Grundhaltung, die ihn zum entschiedenen Religions- und Metaphysik-Kritiker, zum Wegbereiter eines naturalistischen, psychologisch vertieften Menschenbildes und zum Pionier der Naturethik gemacht hat, weit mehr in der Tradition kritischer Aufklärung steht, als gemeinhin angenommen wird.

Bezug der Ausgabe über die Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg via Internet: www.gkpn.de (Schutzgebühr 12,00 EUR zuzügl. 1,50 EUR Verp. u. Porto)