Wie Populisten die Justiz für sich vereinnahmen könnten

Die verwundbare Gewalt

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Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit, muss sich in Acht nehmen, nicht ihre Unabhängigkeit zu verlieren.
Justitia

Die unabhängige Justiz, so denkt man, ist ein Bollwerk. Ein Bollwerk gegen autoritäre Populisten, die, sollten sie an die Macht kommen, durch Gerichte in ihre Grenzen gewiesen werden. Doch andernorts wankt das Bollwerk längst. In den USA, in denen die "checks and balances" die Trump-Regierung nicht zu stoppen vermögen. Ähnlich ist es in Polen, in Ungarn, in der Türkei, in Israel und anderen Ländern. Und hier bei uns? Stehen wir auf sicherem Boden mit unserer Gewaltenteilung? Ganz und gar nicht – so ließe sich das Fazit einer aktuellen Arbeit mit dem Titel "Das Justiz-Projekt" zusammenfassen.

Die Justiz wird auch die Dritte Gewalt genannt, die insbesondere die Exekutive, aber auch die Legislative begrenzt und kontrolliert. Die Macher der Studie kommen nach ihrem Projekt jedoch zu einem ganz anderen Begriff, wenn sie von der "Verwundbaren Gewalt" sprechen.

Das "Justiz-Projekt" ist eine Arbeit des Verfassungsblogs. Dieser ist eine gemeinnützige Organisation an der Schnittstelle von Wissenschaft, Gesellschaft und Journalismus. Viel Aufmerksamkeit hat das sogenannte Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs erhalten. Darin wurde in den Jahren 2023 und 2024 untersucht, was wäre, wenn autoritär-populistische Akteure in Thüringen staatliche Machtmittel in die Hand bekämen. In dem Rahmen wurde auch festgestellt, dass die Struktur der Landesjustiz Einfallstore bietet, die zur Schwächung ihrer Unabhängigkeit genutzt werden können. Und eben das wurde jetzt im "Justiz-Projekt" umfangreich untersucht.

Unter Zuhilfenahme von Expertensachverstand aus der Justiz ging man Fragestellungen nach wie: Wo lässt sich Sand ins Getriebe der Justiz streuen? Welche Hebel haben autoritäre Populisten, Einfluss zu nehmen, Abhängigkeiten zu erzeugen, Schwachstellen auszunutzen? Wie kann die Funktionsfähigkeit der höchsten Gerichte der Länder für die Zukunft sichergestellt werden? Wie lassen sich – etwa durch Beförderungen oder Beurteilungen – Anreize schaffen, um treue Richterinnen und Richter in bestimmte Positionen zu bringen? Um dann von dieser Seite keine Kontrolle des eigenen Handelns mehr befürchten zu müssen.

Erst schlecht reden und dann auf Linie bringen

Wie ein dystopischer Roman lesen sich die Szenarien, die aufzeigen, wie Populisten sich der Justiz bemächtigen, deren Macht begrenzen und danach ganz in ihrem Sinne für ihre Zwecke einsetzen. Das Drehbuch beginnt mit einer Delegitimierung der Justiz, ihrem Schlechtreden und der Beschädigung ihres Ansehens in der Bevölkerung. Eines der Szenarien, die die Macher der Studie zeichnen, sieht so aus: Nach Urteilen in asylrechtlichen Verfahren wird immer häufiger behauptet, Richterinnen und Richter setzten sich über den Willen des Volkes hinweg. In den Sozialen Netzwerken wird diese Kritik zugespitzt, oft verbunden mit dem Vorwurf, die Justiz sei ein selbstherrliches Elitenprojekt. Gerichte sprächen längst nicht mehr Recht, sondern machten Politik. In Online-Medien wird die Justiz als zu teuer und weltfremd dargestellt. Richterinnen und Richter hätten schon lange den Kontakt zum wahren Volk verloren, wollten sich als Gutmenschen profilieren und sich dabei auf ihrem soliden Gehalt und ihrer sicheren Pension ausruhen. Verfahren dauerten viel zu lang und verschlängen Unsummen, die die Steuerzahler tragen müssten.

In einem Fall, so wird das Szenario weiter gesponnen, greifen rechtsextreme Medien und führende Figuren der autoritär-populistischen Opposition einen Richter als linksradikalen Aktivisten an, der sich und seine politischen Vorstellungen durch seine Urteile selbst verwirkliche. Zunehmend wird die autoritär-populistische Rhetorik zum politischen Mainstream.

Nachdem in einem Bundesland eine autoritär-populistische Partei an der Regierung beteiligt ist, stellt sie den Landesjustizminister. Dieser verkündet sogleich, es sei an der Zeit, die Justiz genau unter die Lupe zu nehmen.

Und er handelt. Das Verwaltungsgericht A., das bekannt ist für besonders harte Entscheidungen in Asylverfahren, bekommt mehr neue Richter-Planstellen. An anderen Gerichten werden Stellen abgebaut. Richter, die sich intern kritisch zu ministeriellen Vorhaben geäußert haben, erhalten unerfahrene oder überlastete Justizfachangestellte an die Seite gestellt. Gleichzeitig werden durch informelle Weisungen innerhalb der Geschäftsleitung bestimmte Abteilungen bevorzugt behandelt – etwa solche, in denen Richterinnen und Richter sitzen, die der autoritär-populistischen Partei angehören oder loyal zur Leitung stehen.

Der nächste Schritt ist die Durchführung von Asylverfahren an nur noch einem Verwaltungsgericht des Landes. Durch Beförderungen, Disziplinarmaßnahmen oder haushaltsrechtliche Entscheidungen wird das Personal an diesem Gericht Zug um Zug so weit ausgetauscht, bis es ganz auf die Linie der populistischen Partei gebracht ist.

Dies sind nur einige beispielhafte Maßnahmen, die in dem Szenario aufgeführt werden. Die aber ihren durchaus realen Hintergrund haben. Eben dieser wird sodann in der Studie aufgezeigt: Die geltenden Rahmenbedingungen für die Justiz werden beleuchtet und analysiert. Und entsprechend die Hebel, die von politischer Seite eingesetzt werden könnten, um sich ihren (missbräuchlichen) Einfluss auf die Justiz zu sichern.

Ein solches Szenario und der Abgleich mit den geltenden Rechtsregeln und deren Missbrauchsmöglichkeiten wird im "Justiz-Projekt" nicht nur für die Instanzengerichte aufgezeigt. Also die Gerichte, die direkte Berührungspunkte zum Schicksal der Bürgerinnen und Bürger haben. Auch führen die Macher der Studie vor Augen, wie sich eine populistische Partei Schritt für Schritt in die Entscheidungsgewalt der jeweiligen Landesverfassungsgerichte einschalten könnte. Diese weniger bekannten, aber durchaus einflussreichen Gerichte haben das Potenzial, die Politik einer Landesregierung effektiv auszubremsen, etwa wenn sie über Haushaltsklagen oder sogenannte Organstreitverfahren entscheiden. Wenn das Landesverfassungsgericht durch entsprechende Personalauswahl auf eine bestimmte Linie gebracht würde, könnte es einer Opposition als Blockadehilfe dienlich sein. Und einer Regierungspartei könnte es grünes Licht für deren Vorhaben geben.

Schon jetzt gibt es bedenkliche Übergriffe

Wie die Justiz und deren Repräsentanten delegitimiert und verletzbar gemacht werden – das ist nicht nur ein dystopisches Zukunftsszenario mit Blick auf autoritär-populistische Parteien. In jüngster Vergangenheit haben wir Entsprechendes bereits unter den bestehenden Mehrheitsverhältnissen erlebt. Zum einen in dem viel diskutierten Fall um die am Ende nicht zustande gekommene Verfassungsrichterwahl von Frauke Brosius-Gersdorf. Die Unionsfraktion im Bundestag hatte der Juristin nach einer medialen Kampagne und Stimmungsmache von rechts die Zustimmung zur Wahl verweigert. Und ein anderer Fall zeigt, dass es auch Wege gibt, die Justiz durch schlichtes Nichtbeachten zu degradieren. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte in einer Eilentscheidung drei somalischen Asylsuchenden ermöglicht, nach Deutschland einzureisen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) vertrat den Standpunkt, dass es sich bei dem Richterspruch nur um eine Einzelfallentscheidung handele und diese deshalb keine allgemeine Bindungswirkung für andere entsprechende Fälle entfalte. Folge: Die Justiz kann eine von ihr als rechtswidrig erkannte Politik nicht stoppen.

Eben dieser Fall zeigte auch das andere bereits beschriebene Phänomen der Delegitimierung eines Richters. Dieser wurde wegen der Entscheidung persönlich angegriffen. Die Bundesrechtsanwaltskammer schlug angesichts dieses Vorgehens Alarm, als sie beklagte, dass einer der Richter einer medialen Hetzkampagne ausgesetzt wurde, die durch die Berichterstattung des Nachrichtenportals Nius befeuert worden sei. Dort seien unter anderem das grüne Parteibuch und frühere Kontakte des Richters zu linken Organisationen hervorgehoben und der Richter als Teil einer "Asyl-Lobby" bezeichnet worden. Die Bundesrechtsanwaltskammer verurteilte jegliche Einschüchterung und Bedrohung des Richters scharf. Persönliche Anfeindungen gegen Richterinnen und Richter seien in einem Rechtsstaat nicht hinnehmbar.

Es wird sichtbar: Schon jetzt ist die Justiz nicht "wetterfest". Doch zurück zum "Justiz-Projekt" und den darin enthaltenen Warnrufen, dass die Dritte Gewalt vor allem in der nächsten Zukunft eine zutiefst verwundbare Gewalt sein könnte. Natürlich lassen sich diese Alarmsignale nicht lesen, ohne dabei an die an Popularität gewinnende AfD zu denken. Die Macher der Studie betonen indes: "Es handelt sich nicht um ein AfD-Projekt. Dass die AfD ein autoritär-populistischer Akteur ist, schließt nicht aus, dass auch andere Akteure ähnliche Strategien verfolgen können. Wir halten es daher für bedeutsam, offener von 'autoritär-populistischen Parteien bzw. Akteuren' zu sprechen." Und es lässt sich hinzufügen: Auch die genannten realen Fälle (Brosius-Gersdorf, Verwaltungsgericht Berlin) zeigen, dass es nicht nur um die AfD geht.

Eine "Gebrauchsanleitung" für autoritäre Populisten?

Aber noch ein anderer Gedanke drängt sich auf bei der Lektüre des "Justiz-Projekts". Ist es nicht geradezu eine Blaupause für das Handeln einer autoritär-populistischen Partei? Eine Art Gebrauchsanweisung, wie man sich die Justiz gefügig macht und damit die Gewaltenteilung aus den Angeln hebt, um freie Bahn für die Verwirklichung der eigenen politischen Vorstellungen zu haben? Dieses Bedenken ist auch den Studienmachern gekommen. Sie schreiben dazu:

"Szenarien, die aufzeigen, wie autoritär-populistische Akteure die Justiz unterminieren könnten, laufen Gefahr, selbst als Handlungsanleitungen missverstanden oder gar missbraucht zu werden. Damit entstünde genau das Gegenteil von dem, was eigentlich beabsichtigt ist: Anstatt zur Resilienzstärkung beizutragen, könnten Szenarien die Verwundbarkeit des Rechtsstaats noch vergrößern. Das hier entfaltete Wissen könnte daher durchaus von autoritären Populisten genutzt werden. Im Grundsatz überwiegt jedoch der Nutzen, eine breite Zahl an Stakeholdern – in Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft – über Verwundbarkeiten und Resilienzstrategien zu informieren, gegenüber dem Risiko, dass autoritäre Akteure dieselben Einsichten nutzen könnten. Dies gilt insbesondere dort, wo einfache rechtliche Abhilfen möglich sind. In solchen Fällen erscheint es geboten, potenzielle Probleme zu benennen, anstatt aus Sorge vor Missbrauch zu schweigen."

In der Tat, die Alternative wäre: Sich wegzuducken und darauf zu hoffen, dass die andere Seite schon nicht bemerken wird, wie sie bestehende Einfallstore für ihre Ziele nutzen kann. Da ist es wohl wirklich erfolgversprechender, dass diejenigen, die jetzt noch diese Einfallstore absichern können, eben daran arbeiten – so lange sie die entsprechenden Mehrheiten haben. Doch die Möglichkeiten schrumpfen, je länger man tatenlos zusieht. Das "Justiz-Projekt" sollte Pflichtlektüre für Politikerinnen und Politiker in den Landesparlamenten sein, die ja für die Justiz zuständig sind. Im eigenen und im Interesse des Rechtsstaats, wie wir ihn kennen. Einem Rechtsstaat mit dem Bollwerk einer starken Justiz, die der Politik notfalls in den Arm fällt.„

Das "Justiz-Projekt" gibt es als Printausgabe oder direkt zum Download als PDF.

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