Rezension

Das bedrohte Vermächtnis der europäischen Aufklärung

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Der literarische Salon von Madame Geoffrin (1755), Anicet Charles Gabriel Lemonnier
Der literarische Salon von Madame Geoffrin (1755)

"Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts gehört zu den einflussreichsten kulturellen und gesellschaftspolitischen Strömungen der westlichen Zivilisation", lautet der erste Satz eines Buches, das sich zum Ziel setzt, die Bedeutung dieser geistigen Entwicklung in allen Bereichen des Denkens und Handelns in Erinnerung zu setzen und die zunehmenden Widerstände und Bedrohungen, denen sie ausgesetzt ist, aufzuzeigen. Der in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung schreibende Philosoph, Soziologe und Sprachwissenschaftler Alexander Ulfig spannt einen weiten Bogen über die seit drei Jahrhunderten wichtigste geistesgeschichtliche Strömung Europas und vermittelt, warum und wie aufklärerisches Denken Wege aus den Krisen unserer Gegenwart weisen kann.

Die menschliche Vernunft und nicht eine göttliche Instanz gilt als Richtmaß der europäischen Aufklärung. Ihre Werte, Ideale und Rechte, wie Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit und Selbstbestimmung sowie Unabhängigkeit besitzen universellen Charakter und bestimmen das Welt- und Selbstverständnis der westlichen Zivilisation. Die Entstehung freiheitlicher, demokratischer Gesellschaftsordnungen sowie die Entwicklung der Wissenschaften, des Individualismus und der Religionskritik sind Früchte einer Entwicklung, die mit den Denkern der Aufklärung (Locke, Hume, Diderot, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, La Mettrie, Holbach, Kant, Lessing, Wolff usw.) ihren Ausgang nahm.

Gegenwärtig erfahren aufklärerische Ideen heftige Anfeindungen, Alexander Ulfig sieht das Erbe der europäischen Aufklärung von mehreren Kräften gleichzeitig bedroht. Neben fundamentalistisch-religiösen Strömungen sind es linksgerichtete Ideologien wie Kommunismus, Postkolonialismus, Identitätspolitik und die Frankfurter Schule, aber auch postmoderne Dekonstruktivisten, die zu ihrer Diskreditierung beitragen; neuer Kollektivismus, wonach Menschen nicht als Individuen, sondern als Repräsentanten von Gruppen zu betrachten sind, wie auch anti-aufklärerische Entwicklungen in der Politik sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. In den Wissenschaften sind vor allem die Geistes- und Sozialwissenschaften dem Zeitgeist einer Anti-Aufklärung ausgesetzt; das Ideal der Objektivität wird aufgehoben, Tatsachen werden nicht mehr nur anhand von Beobachtungen festgestellt, sondern konstruiert, kritische Vernunft und rationales Denken werden diffamiert.

Cover

Religionskritik als eine wichtige Säule der Aufklärung gehört seit Karl Marx zum festen Bestandteil linker Weltanschauung und linker politischer Praxis. Der Autor bedauert, dass es in den letzten Jahrzehnten um die linke Religionskritik still geworden ist, dass, im Gegenteil, die heutige Linke viel Verständnis und Solidarität mit dem Islam zeigt, "also mit einer Religion, die wesentlich mehr als das Christentum linken Idealen und Lebensformen widerspricht. Damit verrät die heutige Linke die Aufklärung und folgt dem aus der Postmoderne stammenden kulturrelativistischen Zeitgeist".

Zu den Bedrohungen der Aufklärung gehört nach Meinung des Autors unter anderem auch die Propagierung von Partikularrechten statt universeller Rechte; zum Beispiel in Sonderrechten für Muslime, aber auch in Ausformungen des Feminismus, der Rechte beansprucht, die nur für Frauen gelten. Als Beispiele nennt Alexander Ulfig die gesetzlich geregelte "Frauenquote" beziehungsweise generell die "Frauenpolitik/Gleichstellungspolitik", die Frauen als Opfer und Männer als Täter und Feinde darstellt: "Weite Teile der gegenwärtigen Politik orientieren sich nicht an der Vernunft und ihren universellen Werten, sondern an Emotionen."

Nach einer Einleitung gliedert sich das Buch in 9 Kapitel, die grundlegende Themen und Aspekte der Aufklärung in den Bereichen Wissenschaft, Religionskritik, Individualismus, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Humanismus und die "Postmoderne" bis zu den Grundlagen einer anti-aufklärerischen Politik beleuchten. Unter anderem wird dabei auch ein "Generalverdacht gegen die Aufklärung" – formuliert als "Kritische Theorie" der "Frankfurter Schule" – intensiv erörtert und weitgehend widerlegt.

Als Beispiel eines von vielen sehr bemerkenswerten Kapiteln des Buches sei die "Verteidigung des Humanismus" genannt: "In der Aufklärung wird der Mensch zum Ausgangspunkt der Erkenntnis, die menschliche Vernunft zu ihrem alleinigen Maßstab. Die Aufklärung kann deshalb als die Vollendung des Humanismus betrachtet werden." Postmoderne Denker wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Jacques Lacan kritisierten den Humanismus beziehungsweise lehnten ihn sogar ab. Nach Foucaults Ansicht habe Humanismus zur Entstehung des Totalitarismus und zur Rechtfertigung totalitärer Systeme beigetragen. Alexander Ulfig setzt sich mit der Kritik dieser Autoren, besonders mit Foucaults Anti-Humanismus, sehr eingehend auseinander und kommt zum Schluss, dass dieser auf politischen Entscheidungen, Fehlinterpretationen, Missverständnissen, Widersprüchen und fehlender Differenzierung beruht. Ulfig plädiert für einen nicht-essentialistischen Humanismus, der in Verbindung mit Kants Definition der Aufklärung ("Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit") dazu führt, dass Menschen ihre Fähigkeiten zu denken, zu erkennen, sich Ziele zu setzen und zu verwirklichen, nach Regeln zu handeln, Ideale und Prinzipien aufzustellen und sich nach ihnen zu richten, sehr wesentlich fördern. "Darüber hinaus ist der Mensch in der Lage, Ansprüche/Rechte zu formulieren und einzufordern, die sein Leben menschenwürdig machen und das Funktionieren der Gesellschaft erst ermöglichen." Ulfig zitiert dabei auch Erich Fromm, der eine essentialistische Bestimmung des Menschen ablehnte, Humanismus mit seinen wesentlichen Kennzeichen Freiheit ("der Stimme der Vernunft und des Wissens folgen und den Stimmen irrationaler Leidenschaften widerstehen"), Gleichheit ("Herausbildung der eigenen Individualität, indem man sich von Bindungen an seine Gruppe – eigene Nation, Religion, Rasse – löst") und Brüderlichkeit ("Herausbildung der eigenen Individualität und der Fähigkeit, über sich selbst hinauszugehen, sich selbst zu transzendieren") aber bejahte.

"Das bedrohte Vermächtnis der europäischen Aufklärung" ist ein Buch, das einerseits viel Wissen vermittelt, andererseits aufrüttelt und zu eigenem Engagement einlädt. Einige Intellektuelle, wie zum Beispiel Michel Houellebecq, postulieren, die europäische Aufklärung sei tot. Alexander Ulfig wendet sich dagegen; er beschreibt und analysiert die ernst zu nehmenden Bedrohungen, denen aufgeklärtes Denken und Handeln (wie auch freie Kommunikation, zum Beispiel durch das "Netzwerkdurchsetzungsgesetz" in den Sozialen Medien) gegenwärtig ausgesetzt ist und beleuchtet gleichzeitig ihre nach wie vor hohe Aktualität und Bedeutung mit unverzichtbaren Idealen und Werten als Garanten für Freiheit und Demokratie. Auch wenn man nicht allen Ausführungen des Autors – unter anderem zu den Themen Feminismus, Gleichstellungspolitik und "Hate Speech" – zustimmen mag, ist die Lektüre anregend und geistig gewinnbringend; sie erfordert in manchen Bereichen einige Vorkenntnisse und geschultes philosophisches Denken, die insgesamt vorherrschende Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung, ergänzt mit zahlreichen Fußnoten, erleichtert jedoch das Verstehen auch komplexer Zusammenhänge.

Alexander Ulfig, Das bedrohte Vermächtnis der europäischen Aufklärung – Wege aus der gegenwärtigen Krise, Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV) Baden-Baden, 2021, ISBN 978-3-86888-180-6, 130 Seiten, 17,95 Euro

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