Über den Prager Frühling 1968 wurde und wird viel geschrieben. Die Fotos von brennenden Panzern und verzweifeltem Protest gingen um die ganze Welt. Die Berichterstattung zum 50. Jahrestag der Niederschlagung des "Prager Frühlings" beschäftigt sich auch heute wieder zum großen Teil mit den Ereignissen in der goldenen Stadt, wie Prag gern genannt wird.
Was aber geschah in jenen Tagen an der Grenze zur ČSSR? Wie erlebten die Menschen in den Grenzregionen die Tage im August 1968? Die Truppen des Warschauer Vertrages sind – bis auf eine Luftlandeeinheit der Roten Armee – nicht bis Prag geflogen worden.
Die Vorgeschichte soll hier nur angerissen werden. Über die Ereignisse, die unter der Schlagzeile "Prager Frühling" in die Geschichtsschreibung eingingen, gibt es umfangreiche Abhandlungen in Wort und Bild.
Nach Ablösung des damaligen Parteichefs der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei (KPC) Novotny durch den Reformpolitiker Alexander Dubcek nahm das, was nur Monate später zerschmettert wurde, seinen Anfang. Das Ziel der neuen Führung in der ČSSR war nicht die Abschaffung der sozialistischen Ordnung. Es gab zu jener Zeit seitens der Reformer keine Bestrebungen, das sozialistische Lager zu verlassen. Man wollte stattdessen in dem bestehenden System umfassende politische Veränderungen durchsetzen. Ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz sollte es werden. Ziele wie die Herstellung der Pressefreiheit, Aufhebung der Zensur, Demokratisierung, Versammlungsfreiheit sowie wirtschaftliche Reformen kamen bei weiten Teilen der Bevölkerung gut an.
Bei den Machthabern in den Nachbarstaaten riefen diese Planungen allerdings Angst und Zorn hervor. Besonders die DDR-Führung unter Walter Ulbricht fühlte sich unmittelbar bedroht und forderte vehement ein Einschreiten.
So begann in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 die bis dahin größte Militäroperation seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Innerhalb kürzester Zeit rollten tausende Panzer und anderes Kriegsmaterial aus der Sowjetunion, Bulgarien, Ungarn und Polen auf das Territorium der ČSSR.
Nirgendwo war das Ausmaß der Invasion zur Niederschlagung der Reformbewegung in der damaligen ČSSR deutlicher zu spüren als in Erzgebirge und Vogtland.
Einige Tage vor Beginn der Invasion sprachen der Verteidigungsminister der DDR, Armeegeneral Heinz Hoffmann, und der Minister für Verteidigung der UdSSR, Marschall der Sowjetunion Andrej Antonowitsch Gretschko, über den Stand der Vorbereitungen zum Einmarsch in das Nachbarland.
Auszug aus einem Gesprächsprotokoll:
"… wenn wir den Befehl erhalten, ist in 24 Stunden in der ČSSR alles vergessen", brüstete sich der deutsche General.
Doch Gretschko relativierte diese Aussage und entgegnete: "… wenn wir dafür 24 Stunden benötigen würden, wäre es von uns eine schlechte Planung." (Quelle VS-Nr.: A 58912… Ausf … Blatt 3, Kopie – Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg).
Dieses Gespräch fand am 15. August 1968 statt und zeigt in erschreckender Weise, wie der Warschauer Pakt mit dem abtrünnigen "Bruderstaat" umzugehen gedachte.
Wer da Affinitäten mit der Blitzkriegstaktik im Dritten Reich erkennt, liegt sicher nicht ganz falsch.
Ein Teil der Truppen des Warschauer Vertrages war bereits im "Krisenland" stationiert, weil im Juni 1968 reguläre Manöver in Polen und in der ČSSR durchgeführt wurden. Nach deren Ende zog die UdSSR diese Einheiten jedoch nicht ab und schuf somit die Basis für das spätere militärische Einschreiten.
Die südlichen Ortschaften der Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden lagen direkt an der Grenze. Dort wälzte sich ab dem 20. August eine Lawine von Kriegsgerät aller Art durch die Ortschaften.
Das Oberkommando der Vereinigten Streitkräfte forderte 31 Züge mit je 17 Waggons an, um die Waffen zunächst von Polen ins Grenzgebiet zu transportieren.
Im Erzgebirge und im angrenzenden Vogtland gab es viele kleine Grenzübergänge in die ČSSR, von denen die meisten allerdings geschlossen waren. Diese Übergänge lagen meist abseits der großen Straßen, so dass die Militärkolonnen gezwungen waren, durch Dörfer, Wälder und über Felder zu fahren. Die Schäden an Straßen und Brücken durch tausende Panzer und Kettenfahrzeuge von Pioniereinheiten waren enorm.
Trotz strengstem Verbot gelang es einigen einheimischen Fotografen, Aufnahmen vom Einmarsch der Truppen zu machen (siehe Bilderstrecke oben).
Deutsche Soldaten nahmen nicht an der Okkupation teil. Dieses Szenario war selbst den hart gesottenen sowjetischen Befehlshabern nicht geheuer. Der Zorn unter großen Teilen der tschechischen Bevölkerung über den Einmarsch war ohnehin beträchtlich und der erneute Einmarsch deutscher Soldaten – 23 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges – hätte das Fass vermutlich zum Überlaufen gebracht.
So wurden zwei Divisionen der Nationalen Volksarmee direkt dem Oberkommando der Vereinten Streitkräfte unterstellt und lagen in den Tagen der Invasion in den Wäldern nahe der Grenze. Die Wälder im Grenzgebiet wurden zu waffenstarrenden Arealen. Selbst Raketen wurden vorgehalten, um das abtrünnige Nachbarland im Sinne des Sozialismus zu befrieden.
Die betroffenen Orte entlang der Grenze wurden kurzfristig zu Sperrgebieten erklärt und waren praktisch von Außenwelt abgeschnitten. Da es in den Sechzigern in der DDR kaum private Telefone gab, gelangte nur wenig vom Geschehen an der Grenze in das Umland. In nur 30 bis 40 km von der Grenze entfernt liegenden Orten wussten die Menschen zwar vom Einmarsch, doch das Ausmaß blieb ihnen verborgen.
Für die Menschen, welche die Invasion und die Besetzung des Grenzgebietes miterlebten, fühlte es sich an, als würde es Krieg geben.
Die Staatssicherheit war während dieser Wochen in höchster Alarmbereitschaft. Doch trotz scharfer Überwachung blieben Widerstand und Solidarität mit den Tschechen auf DDR-Seite nicht aus. So verzeichnete die Staatssicherheit eine große Anzahl von selbstgefertigten "Hetzschriften". Die meisten Delikte wurden in den Bezirken festgestellt, die von Einmarsch und Besetzung unmittelbar betroffen waren. Es gab viele Verhaftungen, doch die meisten Delikte blieben unaufgeklärt.
Auf dem Portal "Jugendopposition in der DDR" kann man sich einen Einblick über das Treiben der Stasi verschaffen.
Zur Erinnerung an das Geschehen wurde in Zusammenarbeit mit der Baldauf-Villa im erzgebirgischen Marienberg eine Wanderausstellung gestaltet. Um diese Ausstellung herum gibt es mehrere Veranstaltungen in verschiedenen Orten des Erzgebirges.
Das Interesse, ein weltweit beachtetes geschichtliches Ereignis aus regionaler Perspektive ganz neu betrachtet zu sehen, ist sehr groß.
Die Ausstellung zeigt u. a. Dokumente, die in der Abteilung Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg gefunden wurden. Kopien der BStU zeigen die Reaktion der Staatsorgane. Fotokopien von Zeitungsartikeln zeigen, wie die staatlich gelenkte Presse die Ereignisse im Sinne der SED-Herrschaft verbogen hat. Einige Menschen, die damals Zeitzeugen waren, deren Eltern davon berichteten oder die Fotos im Nachlass fanden, meldeten sich und bereicherten die Ausstellung mit dem Titel "Der Frühling starb im August".
1 Kommentar
Kommentare
Rudi Knoth am Permanenter Link
Ein interessanter Artikel. Eine Zeitungsfrau in Frankfurt/Main sagte damals "das kann Krieg geben". Also war die DDR "Durchmarschgebiet".