Rezension

Biographie eines Euro-Kommunisten: Enrico Berlinguer

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Enrico Berlinguer (links) bei einem Treffen mit Erich Honecker (1973)
Enrico Berlinguer

Er galt als einer der Begründer des "Euro-Kommunismus". Unter seiner Führung erhielt die Kommunistische Partei Italiens 1976 34,4 Prozent der Stimmen. Wer war dieser Enrico Berlinguer? Anlässlich seines 100. Geburtstages erschien erstmals eine Lebensbeschreibung über ihn in deutscher Sprache.

Kann man Demokrat und Kommunist gleichzeitig sein? Eine Antwort auf diese Frage setzt eine Rückfrage voraus: Was ist jeweils mit Demokratie und Kommunismus gemeint? Geht es dabei einerseits um die Basiswerte eines demokratischen Verfassungsstaates und andererseits um die Etablierung von mehr sozialer Gleichheit, so kann etwa in dem Eurokommunismus der 1970er Jahre eine solche Kombination gesehen werden. Die damit einhergehende Entwicklung führte dazu, dass die Kommunistische Partei Italiens (KPI) 1976 34,4 Prozent der Stimmen erhielt. Nie zuvor gelang es bekennenden Kommunisten bei freien Wahlen, in der Gesellschaft eine so hohe Zustimmung zu mobilisieren. Enrico Berlinguer war seinerzeit der KPI-Vorsitzende. 2022 wäre er 100 Jahre alt geworden, was aber von den deutschen Medien weitgehend ignoriert wurde. Dafür erschien erstmals eine deutschsprachige Biographie: "Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa" von Chiara Valentini.

Cover

Es ist eine von bereits mehreren Büchern der Journalistin über ihn. In einer Art Nachwort erklärt Valentini, sie hoffe auf wenig Kritik angesichts ihrer gegenüber dem Portraitierten unverkennbaren Sympathie. Eine solche Einstellung ist offenkundig, gelegentlich spricht sie auch bloß von "Enrico" und nicht von "Berlinguer". Gleichwohl handelt es sich um eine überaus interessante Biographie, welche die Entwicklung eines stalinistischen Kommunisten hin zu einem demokratischen Sozialisten thematisiert. Die Autorin liefert dazu eine klassische Biographie, die der historischen Chronologie folgt und eben nie Fragestellungen systematischer erörtert. Dabei entsteht das glaubwürdige Bild einer politischen Persönlichkeit, die von Aufrichtigkeit und Bescheidenheit, Integrität und Würde geprägt war. Auch Berlinguers Gegner sprachen ihm diese persönlichen Tugenden nicht ab. Noch bemerkenswerter ist gleichwohl sein politischer Wandel, erfuhr er doch zunächst in der Kommunistischen Partei eine klassische politische Sozialisation.

Die Autorin zeichnet diese Entwicklung, die nicht in einem plötzlichen Bruch, sondern in mehreren Etappen erfolgte, ausführlich anhand der politischen Ereignisse nach. Sie schreibt: "Sein ganzes Leben lang wird die Suche nach der Auflösung der Quadratur des Kreises zwischen Kommunismus und Demokratie das große Unterfangen von Enrico Berlinguer sein" (S. 124). Die Autonomie gegenüber der "Kommunistischen Partei der Sowjetunion" (KPdSU) war einer der ersten Schritte dorthin. Berlinguer, der noch an Kaderschulen in der Sowjetunion teilgenommen hatte, plädierte seit Mitte der 1960er Jahre immer mehr für eigenständige Schritte hin zum Sozialismus. Damit einher ging die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie wie die Bejahung politischer Grundrechte, die Einforderung einer sozial-transformativen Marktwirtschaft wie die Koalitionsbereitschaft auch gegenüber bürgerlichen Parteien. Dabei handelte es sich um Grundpositionen, nicht um Instrumentalisierungen. Gleichwohl scheiterte dieser "Eurokommunismus".

Anhand von Berlinguers Biographie wird diese Entwicklung nachvollzogen, wobei die Lebensbeschreibung einer interessanten Persönlichkeit mit der Schilderung von politischen Umbrüchen kombiniert wird. Besondere Akteure und Begriffe erläutern die Fußnoten, sodass die Ereignisse auch gut für Nicht-Kenner der italienischen Vergangenheit verständlich sind. Die Autorin ist indessen auf die Blickrichtung der Lebensbeschreibung fixiert. Gern hätte man genauere Erläuterungen darüber gelesen, warum Berlinguer angesichts seiner sozialen Herkunft dann Kommunist wurde, aber auch darüber, warum er mit dem Kommunismusverständnis der Sowjetunion brach. Der Portraitierte schien ein Sozialdemokrat geworden zu sein, zumindest wird diese Botschaft von Valentini suggeriert. Gleichwohl bremste Berlinguer durchaus derartige Entwicklungen, was hier eine differenziertere Einschätzung bedeutsam erscheinen lässt. Bilanzierend liegt ein interessanter Blick in die Geschichte vor, welcher auch Perspektiven für die Zukunft enthält.

Chiara Valentini, Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa, Bonn 2022, J.H.W. Dietz-Verlag, 480 Seiten, 32 Euro

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