Die Kraft des Humanismus

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Menschen brauchen Unterstützung, wenn sie sich in Krisen befinden. Gleichgültig ob sie am Ende ihres Lebens sind oder mittendrin, gibt es Zeiten, in denen sie Hilfe benötigen. Menschen, die nicht mehr weiter wissen, die sich in Gewissenskonflikten wiederfinden, im Gefängnis, in der Armee, hilflos in Krankenhäusern oder in Altenheimen sind, sollten die Möglichkeit haben, kompetente und adäquate Unterstützung zu bekommen. Im religiösen Kontext wird dies Seelsorge genannt. Ansprechpartner ist hier eine Person, die zuhören kann, die die richtigen Fragen stellen wird und für Klarheit oder auch Erleichterung sorgen kann.

Religiöse Institutionen bieten diese Unterstützung, eingebettet in Rituale und mit Hilfe von Berater*innen. Auch Therapeut*innen begleiten Menschen in Krisen, die sich auf eine längere Zeit der Reflexion und Veränderung einstellen können und wollen.

Was aber kann Menschen geboten werden, die sich akut in einer Krise befinden und menschlichen Beistand brauchen, sich jedoch einen frei von religiösen Ideen wünschen?

Der Bedarf an humanistischem Beistand in einem Land wie Deutschland, mit 44 Prozent konfessionsfreien Menschen (2020), dürfte entsprechend hoch sein. Dennoch gibt es bisher keine passenden Begleiter*innen, die zum Beispiel in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder in der Bundeswehr dieser wichtigen Aufgabe nachkommen.

Drei Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, sollen hier zu Wort kommen: Manouchehr Navissi, 84 Jahre alt, Humanist, Architekt, Maler, politischer Aktivist, Vater von vier Kindern, der drei Heimatländer hat: Spanien, Deutschland und Iran.

Sven Thale, Foto: privat
Sven Thale, Foto: privat

Ulla Ringe, 63 Jahre alt, Humanistin, langjährige Lebenskundelehrerin, humanistische Feierrednerin in Ausbildung, Feministin, Töpferin, Gärtnerin, Mutter und Oma.

Und Sven Thale, 53 Jahre alt, Humanist, Referent im Humanistischen Verband Deutschlands, Vater von zwei Kindern und Wahl-Berliner seit 1997.

Der eine hat genau diesen humanistischen Beistand schmerzlich vermisst, als er letzten Herbst einen dramatischen Krankenhausaufenthalt durchstehen musste; der andere kämpft seit einiger Zeit dafür, genau diesen Beistand politisch durchzusetzen. Die Dritte beschäftigt sich schon immer mit der Frage, was ein gutes Leben ist. Durch die Ausbildung zur Feierrednerin befasst sie sich auch mit den existentiellen Momenten des Lebens, wie Hochzeiten, Beerdigungen und Namensfeiern.


hpd: Was bedeutet Humanist*in sein für Sie? Wann haben Sie beschlossen, sich als Humanist*in zu bezeichnen?

Manouchehr Navissi (M.N.): Humanist sein bedeutet, überlegt zu handeln und dabei keinen Schaden anzurichten oder Menschen zu verletzen. Ehrlichkeit, Vernunft und überlegtes Handeln sind die Grundlagen für mein Humanist-Sein.
Ich war bereits über 60 Jahre alt, als ich mich mit den Fragen des Humanismus beschäftigt habe. Diese haben mich begeistert und ich habe gemerkt, dass ich Humanist bin und wahrscheinlich schon immer war.

Ulla Ringe (U.R.): Für mich bedeutet Humanistin zu sein, menschlich zu sein auf der Basis von Vernunft, Wissen und Wissenschaft. Das heißt, Respekt und Achtung gegenüber allen Menschen (auch Andersdenkenden), sowie Tieren und der Natur ohne die Vorstellung im "Jenseits" für eigenes Handeln bestraft oder belohnt zu werden. Ich bin verantwortlich für mein Leben und mitverantwortlich für das Große und Ganze. In Bezug auf Menschen muss immer die Würde im Vordergrund stehen.

Sven Thale (S.T.): In persönlicher Hinsicht bedeutet Humanist zu sein für mich, aufmerksam für Menschen zu sein. Denn als Weltanschauung leitet der Humanismus sich vom Menschen ab. Doch wenn wir schnell verallgemeinern, was der Mensch eigentlich sei, dann erfahren wir nicht viel über die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Welt. Darin liegt schon die zweite existenzielle Bedeutung des Humanist-Seins für mich: selbst abzuwägen, was ich aushalten sollte und was nicht. Und die dritte: verbunden zu sein mit anderen und mit der Natur. Das hilft enorm beim Abwägen.
Etwas allgemeiner sehe ich den Humanismus vor allem als kulturellen Rahmen, der Menschen hilft, sich gegenseitig vor den Abgründen der Destruktivität zu schützen und ihre sozialen Bemühungen um Emanzipation und Würde unterstützt.

Manouchehr Navissi, Foto: privat
Manouchehr Navissi, Foto: privat

Welche Unterstützung hätten Sie sich gewünscht, als Sie sich in der lebensbedrohlichen Situation im Krankenhaus befanden?

M.N.: Ich brauchte zum einen die Unterstützung meiner Familie, aber ich hätte auch gerne einen weiteren Menschen gehabt, mit dem ich Themen, die mich beschäftigt haben, besprochen hätte. Zum Beispiel die Angst zu sterben oder wie es weitergeht, falls ich nicht mehr alleine leben kann. Da ich nicht religiös bin, ging es mir nicht um religiösen Trost sondern um eine mitfühlende Person, die mir beisteht in dem Wissen, nicht zu wissen.

Wie kann humanistischer Beistand für Menschen in Krisen aussehen? Helfen die vier Fragen von Immanuel Kant  Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? –, um Menschen in Not zu unterstützen oder ist das zu leicht beziehungsweise zu schwer?

S.T.: Ein humanistischer Beistand bietet Hilfesuchenden die Sicherheit, Gespräche auf Grundlage einer evidenzbasierten Weltanschauung führen zu können.
Im Hinblick auf Kant hilft uns bereits, dass er genau diese Fragen stellt. Denn wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen, werden wir merken: unsere Antworten sind immer vorläufig. Daran zeigt sich einerseits, dass Fortschritt stets möglich ist – andererseits lehrt uns diese Auseinandersetzung Bescheidenheit. Beide Dimensionen sind gegenüber Menschen in Krisen wichtig: die optimistische und die zurückhaltende, offene.

U.R.: Humanistischer Beistand in Bezug auf die Fragen von Kant könnte folgendermaßen aussehen:
Ich kann wissen, was man mir mitteilt in Worten, Gesten, Emotionen und Schweigen. Dafür muss ich gut zuhören und mich auf die jeweilige Person einlassen. Ich muss Interesse an dem Menschen und seiner Biografie haben und Fragen stellen. Ich bin da und höre zu.
Durch dieses Wissen kann ich tun, was die Person sich wünscht – wenn es im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt. Ich kann für schöne Atmosphäre sorgen mit Musik, Bildern, Düften, Hand halten etc. Je nachdem, was ich über die Person weiß, kann ich auf die Bedürfnisse (zum Beispiel am Ende des Lebens) eingehen.
Ich darf hoffen, dass ich dem Menschen durch meinen Beistand helfen kann beziehungsweise die Not lindern und die Angst schmälern kann.
Der Mensch ist Produkt seiner Erfahrungen und Erlebnisse und muss würdevoll, respektvoll und achtsam behandelt werden.

M.N.: Es geht um Zuhören und darum, die richtigen und wichtigen Fragen zu stellen oder auch einfach nur darum, die Hand zu halten.

Ulla Ringe, Foto: privat
Ulla Ringe, Foto: privat

Welche Schritte fehlen noch, um humanistischen Beistand institutionell zu etablieren? In welchen Institutionen sollte dieser angeboten werden?

S.T.: Das langfristige Ziel ist, humanistische Lebensbegleitung als ein selbstverständliches Angebot in unserer Gesellschaft zu verankern, in dem Trost und Hoffnung mit einem religionsfreien Hintergrund erfahren werden können. Dabei ist es sinnvoll, in Institutionen zu beginnen, die in Artikel 140 des Grundgesetzes genannt werden: Krankenhäuser, Gefängnisse, Polizei und Bundeswehr. Denn hier sind Menschen in besonderer Weise gebunden und können bedrohliche Situationen nicht einfach verlassen. Sofern es sich dabei um staatliche Einrichtungen handelt, ist es jeweils eine politische Entscheidung, sogenannte Seelsorgeverträge mit dem Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) abzuschließen, die zu einer Gleichstellung mit den Kirchen führen. Wenn genügend Politiker*innen erkannt haben, dass der größte Teil unserer Gesellschaft nur auf Basis einer säkularen Weltanschauung zu erreichen ist, wird diese Gleichstellung erfolgen.

Vielen Dank für die Gespräche!

Die Interviews führte Susan Navissi für den hpd.

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