Wie, um Himmels Willen, kam der Mensch nur auf Gott? Trotz unübersehbarer Säkularisierungstendenzen beschäftigt uns diese Frage auch heute noch intensiv. Denn der Glaube, dass alles mit Gott beginnt und mit ihm enden wird, ist tief in unserem Bewusstsein verankert. Dabei lässt sich darüber streiten, ob Gott in unseren Genen steckt oder "nur" durch Kultur und Erziehung in unser Unbewusstes gepflanzt wurde.
Sicher ist hingegen, dass uns Gott ziemlich egal wäre, wenn wir kein Todesbewusstsein hätten, also nicht wissen würden, dass wir sterben müssen. Alles, was mit Gott zusammenhängt, beginnt mit dem Tod. Gott ist also nicht nur ein religiöses Phänomen, sondern auch ein psychologisches.
Um die These zu versinnbildlichen, greifen wir am besten auf Adam und Eva zurück. Die beiden ersten Menschen lebten in Frieden und Harmonie. Sie kannten keine Ängste, keine Krankheiten. Die Löwen spielten mit den Rehen und die Trauben flogen Adam und Eva in den Mund. Ein Todesbewusstsein kannten sie nicht. Sie sahen ja nie jemanden sterben. Das Leben dauerte für sie ewig, weshalb sie keinen Himmel brauchten. Und folglich auch keinen Gott.
Existenzängste führten zu Gott
Wäre ihnen der Fauxpas mit dem Apfel nicht passiert, hätte Gott für sie überhaupt keine Rolle gespielt. Schließlich lebten sie im Paradies. Also war es sinnlos, wenn sie sich mit metaphysischen und transzendentalen Fragen herumgeschlagen hätten. Im Paradies braucht es keinen Gott, denn die Sinnfrage stellt sich dort nicht wirklich.
Die goldenen Zeiten sind bekanntlich vorbei, seit Adam und Eva jäh aus dem Paradies vertrieben wurden. Bezeichnend ist, dass das Naschen vom Baum der Erkenntnis zur Vertreibung führte. Gott wollte offensichtlich verhindern, dass sich Adam und Eva Wissen aneigneten. Wie heißt es doch in der Bibel: Selig sind die Armen im Geiste.
Seither ist für die Nachfahren der beiden Urmenschen, also für uns, das Leben ein permanenter Kampf, und der Tod unser unsichtbarer Begleiter. Solche Existenzängste haben dazu geführt, dass unsere Vorfahren auf Gott kamen. Sie suchten eine Ursache für Krankheiten, Unfälle und Katastrophen und stießen auf den Schöpfer, von dem angeblich alles Leben ausgeht.
Bei diesem Konzept zeigte sich aber eine schwer überwindbare Krux: Warum hat Gott uns Menschen erschaffen, wenn er uns nach einem kurzen Auftritt auf der Erde wieder verschwinden lässt? Darin ist kein Sinn zu erkennen. Also erfanden unsere Ahnen den Himmel respektive das Leben nach dem Tod. Und dafür brauchten sie Gott, der uns von den Toten auferweckt und in den Himmel holt.
Das Leiden als Prüfung Gottes
Mit dieser Gottesidee fanden unsere Vorfahren auch gleich eine Erklärung für das Leiden auf der Erde: Es war eine Prüfung von Gott, der uns bei Wohlgefallen belohnt und ein Ticket für das Paradies ausstellt. Es ist das gleiche erzieherische Konzept, das irdische Väter bei der Erziehung ihrer Kinder anwenden. Und natürlich auch Mütter, die aber in der Bibel eine untergeordnete Rolle spielen.
Und was passiert mit dem sündigen Rest? Für diesen sollte die Strafe nach dem Tod eine Fortsetzung finden. Und zwar im Anti-Himmel. Und da ohne Führer in der Bibel gar nichts geht, kamen unsere Vorfahren auf den Teufel. Und weil noch Adam und Eva zum Spiel gehörten, erfanden sie flugs die Erbsünde.
Der liebende Vater im Himmel, der uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, führte bei der Vertreibung von Adam und Eva ein Unrechtssystem ein, die Kollektivstrafe. Eine Strafe, die heute geächtet ist und nicht einmal im Militär angewendet werden darf.
Hauptsache, die Autoren der Bibel hatten eine Erklärung für das Leid auf Erden, für Naturkatastrophen, für tödliche Krankheiten.
Funktioniert so die göttliche Logik und Ethik? Wohl kaum. So funktioniert eher die menschliche Phantasie.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors von watson.ch.
16 Kommentare
Kommentare
Wolfgang am Permanenter Link
Auf dem Bild haben Adam und Eva einen Bauchnabel. 1. Fehler
Einen Apfel gab es damals noch nicht. 2. Fehler
Ein Paradies hat es noch nie gegeben. 3. Fehler
4. Fehler
Nach 4,5 Milliarden Jahren Erdzeitalter stellt man vor 2000 Jahren fest, es gibt ein Leben nach dem Tode. 5. Fehler
Richtig ist, die Dummheit konnte bis heute nicht ausgemerzt werden. Größter Fehler.
Wenn ich 6. Fehler schreibe rebelliert wieder die Gegenseite!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
So sehr ich Hugo Stamms Kolumnen schätze, muss ich hier doch in einigen Punkten vehement widersprechen:
„Wie, um Himmels Willen, kam der Mensch nur auf Gott?“
Das ist zweifelsohne eine wichtige Frage, weil sie doch möglicherweise zur Antwort führt, wie wir ihn wieder loswerden.
„Die beiden ersten Menschen lebten in Frieden und Harmonie. [...] Ein Todesbewusstsein kannten sie nicht. Sie sahen ja nie jemanden sterben. Das Leben dauerte für sie ewig, weshalb sie keinen Himmel brauchten. Und folglich auch keinen Gott.“
Das stellt leider die Realität auf den Kopf. Die Vorstellung vom Paradies steht am Ende einer langen Evolution zum monotheistischen Gottesbild. Sie kann auch logischerweise nicht am Anfang stehen, weil sich der Mensch aus der Gruppe der Primaten evolvierte, d.h. Tod, Leid, Krankheit, Hunger und Lebensgefahr waren seine evolutionären Wegbegleiter, seit Anbeginn des Lebens. Diese natürlichen Prozesse können ihn nicht wirklich überrascht haben.
„Wäre ihnen der Fauxpas mit dem Apfel nicht passiert, hätte Gott für sie überhaupt keine Rolle gespielt.“
Diese Szene der Genesis ist Aufdruck wesentlich späterer Gesellschaftsmodelle, als es für die Stammesfürsten darum ging, ihren Untertanten – um nicht zu sagen ihren Sklaven – zu verdeutlichen, dass sie Befehle bedingungslos, ohne Murren und Nachfragen – also in Form eines Kadavergehorsams – aufzuführen hätten. Durch den Übergang der Stammesführer zu gottgleichen Pharaonen/Herrschern wurde dieser Gehorsamkeitsbefehl auf die später extrahierten Gottheiten übertragen.
„Im Paradies braucht es keinen Gott, denn die Sinnfrage stellt sich dort nicht wirklich.“
Das wäre richtig, wenn es das Paradies im biblischen Sinne je als „Erlebnisraum“ für Menschen gegeben hätte. Doch die Paradiessage ist ein Mem, das im Scheitelpunkt des Fruchtbaren Halbmonds in Ostanatolien entstand, als nach der letzten Kaltzeit beim Übergang von der Alt- zur Jungsteinzeit die Regenfälle auch im Quellgebiet von Euphrat und Tigris dramatisch zunahmen und die Region deutlich fruchtbarer – paradiesischer – werden ließ. Trotzdem kannte der Menschen dort immer noch Leid und Tod.
Die „Sinnfrage“ mag einige Jahrtausende später entstanden sein, als diese überquellende Fruchtbarkeit wieder verschwand und der bis dahin entwickelte Feldregenbau deutlich beschwerlicher wurde.
„Gott wollte offensichtlich verhindern, dass sich Adam und Eva Wissen aneigneten.“
Auch hier muss ich leider ein wenig widersprechen. „Gott“ (= der Stammesfürst) wollte den Menschen zeigen, wohin sie ihr Ungehorsam führt – nämlich in ein entbehrungsreiches, schmerzerfülltes Leben (außerhalb der Gemeinde). „Informiert“ darüber wurden die Untertanen natürlich von ihrer Stammesobrigkeit, die nun einerseits eine Erklärung erhielten, warum es ihnen auch im "Normalzustand" so dreckig ging und andererseits wurde im Christentum (aber erst dann!) daraus die „Erbsünde“ gestrickt, die der Heiland als Sohn „Gottes“ (= Teil der Trinität) wieder von den Menschen – aber nur von seinen treuen Untertanen – nehmen würde. Um Wissen ging es dabei nur insofern, als ein dummer Untertan auch immer ein folgsamer Untertan ist.
„Warum hat Gott uns Menschen erschaffen, wenn er uns nach einem kurzen Auftritt auf der Erde wieder verschwinden lässt? Darin ist kein Sinn zu erkennen.“
Das ist ja richtig, aber – wie gesagt – der Tod war immer natürlicher Begleiter des Lebens. Unsere Vorfahren töteten ja auch ihre Jagdbeute oder Rivalen, sogar Babys von Gen-Konkurrenten. Der Himmel als Belohnungsort der Toten kam erst viel später auf, als die Menschen anspruchsvoller wurden und nach mehr strebten, als nur eine reiche Ernte.
Der Neid der Sklaven dem Prunk der Stammesfürsten, Pharaonen, Könige oder Kaiser gegenüber mag hier eine Rolle gespielt haben. Da der weltliche Führer seinen Reichtum nicht teilen wollte, vertröstete er seine Untertanen mit theologischen Tricks seiner geistlichen Verbündeten auf die unendlichen Wonnen des Himmels.
„Und da ohne Führer in der Bibel gar nichts geht, kamen unsere Vorfahren auf den Teufel. Und weil noch Adam und Eva zum Spiel gehörten, erfanden sie flugs die Erbsünde.“
Der Teufel entstammt in direkter Linie den animistischen Dämonen, als man sich die Welt dualistisch erklärte. Es gab „gute Geister“ und „böse Dämonen“. Was zunächst ein primitives Ordnungssystem zum Verständnis der Natur war (Nahrungspflanzen/-tiere sind von guten Geistern beseelt, Giftpflanzen/Raubtiere sind von bösen Dämonen beseelt), verselbstständigte sich zunehmend, wurde personeller, bis sich im Monotheismus am Ende „Gott“ und „Teufel“ herauskristallisierten.
Die „Erbsünde“ ist eine wesentlich spätere Erfindung aus der Entstehungszeit des frühen Christentums. Sie legitimierte nachträglich die „Aufgabe“ eines „Sohnes Gottes“ – der genauso wie „Heiliger Geist“ und „Trinität“ zu Lebzeiten Jesu ein völlig unbekanntes theologisches Konzept war.
„Funktioniert so die göttliche Logik und Ethik? Wohl kaum. So funktioniert eher die menschliche Phantasie.“
Das ist uneingeschränkt richtig...
mgs am Permanenter Link
Pardon, ein ungewohnt flacher Beitrag. Alttesttamentarisch, eurozentrisch, nicht über den Tellerrand schauend.
Wenn man diese große Frage so klein auf unseren Kulturkreis beschränkt ansetzt, dann gibt es seit bald 200 Jahren weit bessere Ansätze: Heinrich Heine "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" sei immer mal wieder empfohlen. Liest sich flott als wäre es ein Blogger unserer Zeit. Er arbeitete sehr schön die Satanisierung der Natur und des Natürlichen (Sexualität z. B.) durch die Herrschaftskirche heraus.
Ansonsten gilt, mal über die Grenzen von Alexander des Großen hinaus schauen. Was war eigentlich jenseits des Indus los? Und was ging "Hinter Indien" ab? Schon weiß man, "der Mensch" braucht keinen Gott (Buddhismus), also ist die Sache mit den Genen schon mal kompletter Unsinn. Ebenso klug wäre es zu fragen: gibt es ein IPhone-Gen?
Das Alte Testament zu lesen ist natürlich wichtig, um diesen immer noch vorherrschen Wahnsinn (Juden, Christen, Muslime) halbwegs zu begreifen: Es ging um Herrschaft! Um Gehorsam, Knechtschaft, Versklavung, um skrupellosen Machtmissbrauch.
Und in diesem Zusammenhang stellt sich eine erstaunlich wichtige Frage: Wieso hatten die Herrschenden Skrupel zu versklaven, zu rauben, zu töten, zu brandschatzen und zu vergewaltigen? Wieso brauchten sie erst einen Gott, der ihnen diese Schandtaten befahl und sie damit legitimierte?
Diese Skrupel wiederum, die könnten etwas mit den Genen zu tun haben: der Mensch weiß von sich aus, dass Rauben, Morden und das ganze schmutzige Programm eben nicht "in Ordnung" sind, sondern immer einer Legitimation "Gott (Herrscher, Befehlshaber etc.) hat es so gewollt" bedürfen.
mgs am Permanenter Link
Das war keine Antwort an Sie, Herr Kammermeier, sondern ein Beitrag zum Artikel. Pardon für ein eventuelles Missverständniss.
Gerfried Pongratz am Permanenter Link
"Existenzängste führten zu Gott" ist sicherlich auch richtig, die Wurzeln liegen aber noch tiefer, siehe: https://hpd.de/artikel/11132
Roland Weber am Permanenter Link
Da auch hier das AT mit dieser Geschichte entdeckt wird, möchte ich nur die Glaubensgemeinde darauf aufmerksam machen, dass zwei Bäume in der Mitte des Garten Edens standen: Der Baum der Erkenntnis und der Baum des Le
Außerdem bissen beide nicht in einen Apfel, sondern eine Frucht. Das sollte man als Bibelfester schon wissen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Gott in unseren Genen" - wir bitte?
Und ansonsten etwas viel unkommentierte Kirche im Kopf ("die ersten Menschen", "Paradies" etc.).
Mark am Permanenter Link
Der Apfel basiert auf einen Übersetzungsfehler aus dem Latein, im Latein ist das Wort malus enthalten.Malus kann sowohl mit Böse, als auch mit Apfelbaum übersetzt werden. Die Bibel ist voller Übersetzungsfehler.
Wolfgang Schaefer am Permanenter Link
Die Bibel ist nicht voller Übersetzungsfehler, sie ist ein Buch voller Lügen und Betrug und die Menschenwürde wird darin mit Füßen getreten.
S. Bohnenkamp am Permanenter Link
Latein ist für Texte des AT eigentlich egal.
Aramäisch oder Hebräisch wäre da wohl wichtiger.
Äpfel gab es nachweislich zu jener Zeit im Nahe Osten, man denke nur an die Apfelringe im Königsgrab in UR (vor 2500BCE).
karl kraus am Permanenter Link
das boese MALUM, in der bibeluebersetzung aus dem lateinischen kommt gar kein "apfel" vor, nur baum...erkenntnis oder so. dies ist jedoch unbedeutend, so viele wesentliche!
Peter Mersch am Permanenter Link
Ich finde den Artikel eher oberflächlich. Zum einen ist die Erläuterung der Vertreibung aus dem Paradies auf der Grundlage des Baums der Erkenntnis eher spekulativ.
Die Unverletzlichkeit individueller Verfügungsrechte bzw. die Einführung des Eigentums war die Grundlage der neolithischen Revolution und das eigentlich Neue an der dann folgenden Zeit. Ab da war es auf einmal verboten, einen Apfel von einem Baum zu pflücken, wenn der Baum jemandem gehörte. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie groß die Umstellung für die Menschheit damals gewesen sein muss.
Zum anderen krankt das obige "Wort zum Sonntag" daran, dass ihm ein schlüssiges Lebensmodell fehlt, wie es eigentlich bei den meisten Atheisten festzustellen ist, obwohl sie sich ständig über die Lebensmodelle der Religiösen lustig machen.
In seinem berühmten Buch "Was ist Leben?" hatte Nobelpreisträger Erwin Schrödinger postuliert, dass alles Leben darum bemüht sei, Entropiezuwächse zu vermeiden. Er folgerte dies aus dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Das Problem an diesem Postulat ist: Es erklärt die Fortpflanzung nicht. Warum sollten Lebewesen sich fortpflanzen, wenn es ihnen primär nur darum geht, Entropiezuwächsen entgegenzuwirken?
In einer ziemlich länglichen (über weite Strecken auch mathematischen) Herleitung hatte ich in "Die egoistische Information" - ausgehend von einer Überlegung Murray Gell-Manns (ebenfalls Nobelpreisträger) aufgezeigt - dass alles Leben Kompetenzverlustvermeidung ist. Selbsterhaltung und Fortpflanzung (aber auch die Weitergabe von kulturellem Wissen) sind in diesem Sinne beides Mechanismen der Kompetenzverlustvermeidung, und zwar mit unterschiedlichen Zeitzielen: Selbsterhaltung dient primär dem aktuellen Lebewesen, Fortpflanzung und Wissensweitergabe haben dagegen die Kompetenzverlustvermeidung über das eigene Leben hinaus zum Ziel. Unternehmen kennen solche unterschiedlichen Zeitziele auch: Der Austausch eines defekten PCs in der Marketingabteilung ist Kompetenzverlustvermeidung mit einem nahen Zeitziel, Forschung & Entwicklung dagegen Kompetenzverlustvermeidung mit einem fernen Zeitziel. Superorganismen wie Unternehmen oder Bienensozialstaaten müssen übrigens nicht zwingend sterben: Sie sind potenziell unsterblich, wie es z. B. der Bienenforscher Tautz angemerkt hat.
Und damit bin ich bei dem zentralen Dilemma jedes Vielzellers: Warum muss er sterben? Warum sollte er sich fortpflanzen, statt sich einfach nur "selbst zu verwirklichen"? Warum sollte man anderen helfen, wenn man selbst davon aller Wahrscheinlichkeit nach keinen direkten Nutzen mehr hat? Antwort: Weil es beim Leben nicht um den Erhalt des eigenen Lebens, sondern um Kompetenzverlustvermeidung geht.
Die Religionen haben für die neue Situation nach der neolithischen Revolution (Privateigentum, Verfügungsrechte) konkrete Antworten geliefert. Die 10 Gebote z. B. stellen eine einfache Gesetzesordnung für Eigentumsgesellschaften dar. Selbstverständlich waren sie leichter durchsetzbar, wenn behauptet wurde, sie seien vom Schöpfer der Welten selbst formuliert, anstatt von einem anderen Menschen, der vielleicht nur seine eigenen Interessen verfolgt.
Wenn man die Bibel und den Koran liest und diese Werke z. B. mit Schmidt-Salomons "Das Manifest des evolutionären Humanismus" vergleicht, dann stellt man fest, dass in den religiösen Werken die Fortpflanzung zentral ist. Im Grunde dreht sich ganz vieles nur um sie. Religiöse Werke sind auf die Zukunft hin ausgerichtet, gewissermaßen auf das, was nach dem eigenen Tod passiert (wofür diese Werke dann zusätzliche Belohnungen als Ansporn für die Anstrengungen im Hier und Jetzt bereithalten). Im Manifest des evolutionären Humanismus (und in fast allen anderen atheistischen Werken) kommt die Zeit nach dem eigenen Leben dagegen praktisch nicht vor. Alles dreht sich nur um das aktuelle Individuum und seinen möglichst großen Lustgewinn im Jetzt. Das heißt: Zentral ist die Selbstverwirklichung.
Genau das ist Leben aber eben nicht. Leben weist immer über das eigene Leben hinaus. Kompetenzen nur für sich zu entwickeln, macht evolutionär betrachtet (und damit für das Leben an sich) überhaupt keinen Sinn. Ein solches Leben voller individueller Kompetenzen, die aber nicht weitergegeben werden, wäre im Sinne der Evolution ein völlig sinnloses Leben.
Religionen waren und sind nach meinem Dafürhalten deshalb so erfolgreich, weil sie in den entscheidenden Punkten weit mehr dem Leben und der Evolution entsprechen als es z. B. "Das Manifest des evolutionären Humanismus" tut.
mgs am Permanenter Link
Lieber Herr Mersch.
Ein durchaus interessanter Leserbrief. Ich würde ihn gerne verstehen.
Doch hapert es schon daran, dass ich trotz Philosophie, Geschichte, Germanistik u. a. abgeschlossener Master keine Vorstellung habe, was "Entropiezuwächse" sind, die "alles Leben sich bemühen würde zu vermeiden".
Wiki hilft mir auch nicht: Entropie = thermodynamische Zustandsgröße mit der SI-Einheit Joule pro Kelvin. Haben Sie die Muße, das hier zu erläutern?
Kann ich mein Bemühen (ich lebe), diese Zuwächse zu vermeiden, erkennen? Wenn ja: wie?
Ich bin recht bibelfest (AT & NT), habe den Koran, die Bagavadh-Gita und buddhistische Pali-Schriften gelesen, kann jedoch nicht bestätigen, dass in genannten Werken die "Fortpflanzung das zentrale Thema sei". Ist mir da etwas entgangen?
Ebenso behandeln nach meinen Quellen maximal zwei (im Grunde nur eins) der Zehn Gebote Eigentumsdelikte. Welche Quellen haben Sie?
Ihre Conclusio (s. u.) "Religionen entsprächen weit mehr dem Leben und der Evolution als es z. B. "Das Manifest des evolutionären Humanismus" tut" kam für mich nach aufmerksamen Studiums Ihres Beitrags auch eher sehr überraschend. Was habe ich verpasst? Entropiezuwächse? Vielleicht liegt in diesem Kunstwort der Schlüssel zum Verständnis?
Kann man das auch so erklären, dass es Noch-Nicht-Nobelpreisträger wie ich verstehen?
Mit bestem Dank im Voraus!
MGS
Peter Mersch am Permanenter Link
Lieber mgs, es handelt sich dabei um komplexe Grundsatzthemen, die nicht unbedingt einfach zu erläutern sind.
Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik postuliert, dass sich in unserem Universum alles von unwahrscheinlicheren zu wahrscheinlicheren Zuständen hin bewegt. Populärwissenschaftlich wird meist gesgt, dass sich (ohne sonstige äußere Einwirkung in einem abgeschlossenen System) alles von der Ordnung hin zur Unordnung hin bewegt. Ein Lebewesen z. B. ist ein in höchstem Maße geordneter Zustand (= niedrige Entropie). Stirbt ein Lebewesen, dann zerfällt es in Windeseile zu "Staub" und damit zu Unordnung (= hohe Entropie). Das ist die Wirkung des 2. Hauptsatzes.
Lebewesen nehmen Energie (Nahrung, Sonnenenergie) auf, um die eigene Ordnung aufrechtzuerhalten, das heißt um ihre Entropie niedrig zu halten. Sie persönlich merken Ihr Bemühen, Entropiezuwächse zu vermeiden, unter anderem dadurch, dass sie hungrig werden. Anschließend laufen im Ihren Organismus Prozesse ab, die dem drohenden Entropiezuwachs (bzw. dem Verfall ihrer Zellen und ihrer Gesamtstruktur) entgegenwirken. Man bezeichnet sie als "Stoffwechsel". Das ist grob vereinfacht die Sicht, die Erwin Schrödinger in seinem berühmten Buch "Was ist Leben?" vermittelt hat. Etwas ausführlicher und im Kontext der Evolutionstheorie habe ich die wesentlichen Zusammenhänge hier dargestellt: https://www.facebook.com/peter.mersch.1/posts/1897621603589560
Gegen Ende finden Sie noch einen Verweis auf einen Facebook-Artikel von mir zur Zivilisation. Sollten Sie noch den Nerv dazu haben: Auch diesen Artikel möchte ich allen ans Herz legen, die sich für solche Grundsatzthemen interessieren. Darin wird u. a. erläutert, warum man die Darwinsche Evolutionstheorie nicht auf menschliche Zivilisationen anwenden kann.
Die Schwäche der Sicht Erwin Schrödingers ist, dass sie nur die Selbsterhaltung abdeckt. Sie können aus seiner Darlegung zwar herleiten, warum Tiere essen müssen, aber nicht, warum sie auch bestrebt sind, sich fortzupflanzen. Letzteres ist aber zentral für die Evolutionstheorie. Die Selbsterhaltung ist in der Evolutionstheorie nur eine Vorstufe, um die Fortpflanzung möglichst zahlreich zu ermöglichen. Bei der Fortpflanzung werden genetische Kompetenzen an die nächste Generation weitergegeben (selbst Richard Dawkins spricht von "Informationen"). Ich habe in einem Buch gezeigt, dass man die Sicht Schrödingers (Entropieverlustvermeidung) zum Prinzip der Kompetenzverlustvermeidung verallgemeinern kann. Sowohl Selbsterhaltung als auch Fortpflanzung (und auch Weitergabe von Wissen) können in diesem Sinne als Kompetenzverlustvermeidung verstanden werden.
Im Alten Testament sagt Gott Dinge wie: "Seid fruchtbar und mehrt euch und regt euch auf Erden, daß euer viel darauf werden." Noch eindeutiger ist der Koran. Da sind die Frauen das Saatfeld der Männer, welches von ihnen regelmäßig genutzt werden soll. In sehr vielen Textstellen geht es um Frauen, im Leben des Propheten sowieso (der hat sich sogar in den Koran diverse Sonderrechte hinsichtlich der Zahl seiner Ehefrauen etc. hineinschreiben lassen), und im Paradies wartet auf die Gläubigen kein unermesslicher Reichtum, sondern eine Art Vollversorgung und eine Zahl an Gespielinnen mit schwellenden Brüsten. Und auch in den islamischen Hadithen geht es ganz viel um das Verhältnis von Männern und Frauen. Frauen für sich zu gewinnen war in der damaligen Zeit gleichbedeutend mit "sich fortzupflanzen", da es noch keine Verhütungsmittel gab.
Ich sprach allgemeiner von Verfügungsrechten statt von Eigentum. Verfügungsrecht ist der allgemeinere Begriff. Als Mieter einer Wohnung besitzen sie bestimmte Verfügungsrechte an ihrer Wohnung, obwohl sie nicht der Eigentümer sind.
In den Geboten 1 - 3 beansprucht Gott die alleinigen Verfügungsrechte an der Ressource Gott. Niemand darf sich sonst Gott nennen und man darf auch keine weiteren Götter verehren. Im 4. Gebot werden den Eltern bestimmte soziale Ressourcen gegenüber den Kindern zugesprochen, die von den Kindern nicht infrage gestellt werden dürfen. Jeder Mensch besitzt die ausschließlichen Verfügungsrechte an seinem Leben. Anders gesagt: Das eigene Leben gehört einem, es ist das Eigentum jedes Menschen. Das 5. Gebot sagt entsprechend: Du darfst einem Menschen dieses Leben nicht nehmen.
Das 6. Gebot geht davon aus, dass die Ehepartner bei der Ehe die alleinigen Verfügungsrechte über die Sexualität des anderen erlangen. Mitunter sagt man auch heute noch Dinge wie: "Ich möchte, dass du allein mir gehörst. Willst du mich heiraten?" Ein Ehebruch hätte diese Verfügungsrechte verletzt. Die Gebote 7, 9 und 10 erklären sich von selbst, darin geht es um die Verletzung von vorhandenen individuellen Verfügungsrechten, was untersagt wird. Gebot 8 ist komplexer. Hier geht es um soziale Ressourcen (z. B. das Ansehen, das eine Person in der Öffentlichkeit oder in seiner Gruppe genießt). Auch die dürfen einer Person nicht trickreich streitig gemacht werden.
Der Grundaussage aller 10 Gebote ist im Grunde: Du darfst einem anderen Menschen (und Gott sowieso nicht) nicht mutwillig zu deinem Vorteil einen Kompetenzverlust zufügen.
Da ich weiter oben schrieb, dass Lebewesen gemäß der Systemischen Evolutionstheorie Kompetenzverlust vermeidende Systeme sind, folgt daraus, sofern man diese Eigenschaft auch allen anderen Menschen zugesteht, unmittelbar die Goldene Regel der praktischen Ethik, die ich für eine schlüssige Verallgemeinerung der 10 Gebote halte.
Mit anderen Worten: Man kann die Goldene Regel der praktischen Ethik ("Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu.") direkt aus den Grundprinzipien der Systemischen Evolutionstheorie herleiten. Andere Voraussetzungen benötigt man nicht.
Im "Das Manifest des evolutionären Humanismus" kommt nach meiner Kenntnis die Fortpflanzung (oder allgemeiner die Kompetenzverlustvermeidung) so gut wie gar nicht vor, jedenfalls ist mir nichts aufgefallen. Die Religionen kommen in diesen Punkten oft mit klaren Regeln daher. Das Christentum predigt die Monogamie, der Islam präferiert die Polygamie, was die Ursache vieler kriegerischer Auseinandersetzungen ist. Der evolutionäre Humanismus sagt gar nichts, obwohl es in der Evolutionstheorie praktisch nur um Fortpflanzung geht. Man könnte als evolutionärer Humanist den ganzen Tag damit beschäftigt sein, ein guter Mensch zu sein, sich seinem Lustgewinn widmen, als Mann mit möglichst vielen wechselnden Frauen ins Bett gehen, dabei ständig verhüten und am Ende ein Leben geführt haben, das evolutionär keine Spuren hinterlassen hat. Ich finde, dass dies dem Wesen des Lebens nicht gerecht wird.
Meine Kritik lautet: Der evolutionäre Humanismus beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Kompetenzverlustvermeidung während des aktuellen Lebens, nicht mit einer Kompetenzverlustvermeidung, die über den Tod hinausgeht. Letzteres macht aber das Leben aus. Und genau darum geht es auch in den Religionen.
Herzlichst Peter Mersch
mgs am Permanenter Link
Lieber Herr Mersch,
haben Sie herzlichen Dank für Ihre Erläuterungen, nun war es gar mir möglich "Entropiezuwächse zu vermeiden" zu verstehen, und ja, auch wahrzunehmen: ich habe Hunger, werde der Ordnung halber etwas essen.
Herzlich MGS
S. Bohnenkamp am Permanenter Link
Der Text nimmt an, dass die Adam & Eva Story für sich alleine entstanden wäre.
Betrachtet man diese Texte aber, stellt man fest, dass Amam und Eva ursprünglich göttlich also unsterblich waren etc.
Viele der Texte in der Bibel wurden mehr oder weniger von anderen Kulturen übernommen und auf YHWH umgebaut. Dabei wurde teilweise auch der Inhalt der Texte verändert bzw. entstellt. Der Grund dafür mag viel profaner sein, ggf. brauchte man dringend Propagandamaterial. Das passt auch dazu, dass einer der alten König im AT plötzlich die scheinbar verschollenen Gesetze Mose hinter einem Alter "findet". (steht so in der Bibel Joshua 8:30 ff.)