In jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Thema Mensch wuchs das Bedürfnis des renommierten Entwicklungspsychologen Rolf Oerter, in Berücksichtigung der Sichtweisen und Forschungsergebnisse weiterer Disziplinen quasi als ersten Schritt seine Sicht des Menschen als eines hochspezifischen Produkts von Evolution, Kultur und Ontogenese in einem vor zwei Jahren erschienenen, akribisch recherchierten und doch verständlich formulierten Werk (1) vorzustellen.
"In Zeiten einer alarmierenden Entwicklung, die katastrophale Folgen haben könnte, erscheint es notwendig, sich um Grundlagen zu bemühen, die für menschliches Denken und Handeln Entscheidungshilfe bieten."
Zugunsten derer, die angesichts der weitgehend selbstverursachten Gefährdung unserer Kultur sowie der kontroversen Diskussionen über Abhilfe leistende politische Entscheidungen usf. klarer sehen und Handlungsspielräume kompetenter abschätzen wollen, hat Oerter in einem zweiten Schritt erfreulicherweise nun Basisinformationen über die wohl wesentlichen Problemfelder des komplexen Verhältnisses von Kultur und Evolution so informativ, komprimiert und gut lesbar vorgelegt, dass dieser "auf der Basis eines evolutionären Humanismus" formulierten Schrift (2) breiteste Aufmerksamkeit zu wünschen ist.
Erstaunlich, wie gründlich Oerter auf den nur 127 Textseiten aufräumt. So hält er bereits die übliche Unterscheidung des Menschen als Natur- und Kulturwesen für irreführend, da Kultur von Beginn an zur Evolution des Homo sapiens gehöre, sich angesichts ihres um Potenzen schnelleren Entwicklungstempos früh verselbständigt und dabei leider keineswegs durchgängig zum Partner der Evolution entwickelt habe.
Die Gedankenführung: eingangs skizziert die Schrift das Verhältnis von Kultur und Evolution auf verschiedenen Ebenen (S. 12-18), um in den drei weiteren Kapiteln des Hauptteils – Kultur als Freund, Feind und Herr der Evolution (S. 19-79) – u.a. Themen wie Bevölkerungswachstum, Ernährung, Inzesttabu, Emotions- und Bedürfniskontrolle, Besitzstreben, Konsumverführung, Aggression, Evolutionskontrolle in der Menschheitsgeschichte, Revolution in der Landwirtschaft und Überwindung evolutionärer Erkenntnisbarrieren durchzuspielen.
Bevor Oerter zum Abschluss "Einige Konsequenzen" und "Dringende Aufgaben" (S. 112-126) skizziert sowie einen Ausblick (S. 127) formuliert, bietet er als fünf "ausgewählte kulturelle Bereiche" (S. 80-111) die Teilkapitel "Religionen als Gefangene der Evolution?", "Ausloten menschlicher Möglichkeiten", "Spiel als Bindeglied zwischen Kultur und Evolution", "Zurück zur Natur?" und "Die Rolle des Kapitalismus: pro und contra" als konkreter ausgeführte Beispiele, deren breiter Ansatz den Rezensenten fasziniert hat.
Auch wenn von "Pflichtlektüre" oft recht leichtfertig gesprochen wird: Diese hervorragend gedruckte und gebundene Schrift in Großoktav hat schon vom Äußeren her den Charakter eines Handbuchs und Vademecums, gehört nicht nur in die Hand, sondern dank ihrer differenzierten Information und konsequenten Gedankenführung auch in den Arbeitsapparat jedes ernsthaft Aufklärerungsorientierten, der über Tagesaktualitäten hinaus gediegene, breit angesetzte Basisinformationen zum Hintergrund vieler heute angängiger Problemzusammenhänge sucht, die ansonsten schwer zu recherchieren wären; und der Denkanstöße schätzt.
- Rolf Oeter: Der Mensch, das wundersame Wesen. Was Evolution, Kultur und Ontogenese aus uns machen. Wiesbaden: Springer Sepktrum, 2014, 442 S.
- Rolf Oeter: Kultur als Freund, Feind und Herr der Evolution. Lengerich, 2016, 134 S., 20,- Euro