Nietzsches Tugendattentat

schmidt_hermann_josef.jpg

Hermann Josef Schmidt
Hermann Josef Schmidt

BERLIN. (hpd) Der Nietzsche-Fachmann Prof. Hermann Josef Schmidt befasst sich in einer Rezension für den hpd mit dem derzeit bei de Gruyter erscheinenden Nietzsche-Kommentare zur "Morgenröthe" und zu den "Idyllen aus Messina".

"Die schädliche Seite der Religion ist oft hervorgehoben, ich möchte die schädliche Seite der Moral zum ersten Male zeigen und dem Irrthum entgegnen, daß sie den Sinnen von Nützlichkeit ist."

Zum Jahresanfang 1880 formulierte Nietzsche diese Absichtserklärung für seine schriftstellerische Arbeit der nächsten Jahre: Die ersten beiden Veröffentlichungen, die diesem Konzept folgten, waren die Gedankensammlung "Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile" mit 575 Texten aus dem Juli 1881 und die einzige von ihm selbst zum Druck gebrachte Gedichtsammlung, die kaum bekannten, jedoch faszinierenden "Idyllen von Messina" aus dem Mai 1882.

Beide Texte sind Gegenstand des Teilbandes 3/1 des Historischen und kritischen Nietzsche-Kommentars, bearbeitet von Jochen Schmidt und Sebastian Kaufmann.

Während Schmidt in gewohnter Manier in seiner Kommentierung der "Morgenröthe" Nietzsches 575 Denkangebote erklärt, sie in ihren historischen Bezügen insbes. zur Antike erläutert, Quellen aufspürt, die Stichhaltigkeit sowie die Seriosität der Argumentation Nietzsches überprüft und Schattenwirkungen dieses Aufklärers herausarbeitet, läßt Kaufmann in seiner Kommentierung der Idyllen diese als ein fulminantes, kaum angreifbares poetisches Attentat auf die "Naumburger Tugend" erkennen. Darunter verstand Nietzsche "Alles, was sich heute als 'guter Mensch' fühlt", denn dieser sei "vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehen als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, tugendhaft-verlogen."

Cover

Während Nietzsche in seinen Schriften in der Regel nun so vorgeht, daß er tradierte Tugendkonzepte angreift und gegen sie polemisiert, verfolgt er in den Idyllen eine überraschende Strategie. Er gliedert sie in eine Rand- und in eine Kerngruppe, wobei die aus dem Eröffnungs- und den beiden Schlussgedichten bestehende Randgruppe, die Fragen poetischen Selbstverständnisses exponiert, eine Art Abschirmungs- oder Schutzfunktion gegenüber den 5 Gedichten der Kerngruppe wahrzunehmen scheint.

Diese haben es dann allerdings "in sich", wenn man sie näher unter die Lupe nimmt. Oberflächlich gesehen bieten die Idyllen 2-6 mehr oder weniger sexuell aufgeladene teils belustigende teils eher sentimentale Storys mit christentums- und "tugend"-kritischen Anspielungen in mediterranem Flair. Doch in Berücksichtigung der Komposition dieser 8 Gedichte zeigt sich als eine zweite, streng durchkomponierte, wohl eigentliche "Gefechtslinie" eine Art Breitbandverspottung christlicher Auffassungen, Praktiken und Symbole ebenso wie ein Ensemble demonstrierter, von einschränkenden tradierten Tugendkonzepten befreiter Sexualität, dank ihrer leichten poetischen Form kaum angreifbar und scheinbar primär gegen die katholische Kirche gerichtet.

Berücksichtigt man den Zusammenhang, so läuft vieles auf die in der Idylle "Die kleine Hexe" demonstrierte weltbejahende, befreite Sinnlichkeit hinaus, deren emanzipierte Vertreterin mit religiösen Vorgaben sowie mit deren Verfechtern souverän zu spielen vermag. Die vielleicht überzeugendste Form konkreter Religions- und Leibfeindlichkeit verhöhnender Moralkritik.

Bezeichnenderweise schließt Nietzsche seine Sequenz mit "Pia, caritatevole, amorisissima" als einer Art Gegenprobe ab, mit einem Gedicht also, das auf sensible Weise andeutet, daß der Kummer auch über aus religiösen Gründen unterdrückte Liebeserfahrungen, wenn nicht zu frühzeitigem Tod so doch zur Suspension von Lebensfreude zu führen vermag.

Nietzsche verpackt seine brisanten Denkimpulse allerdings in eine Form, daß er als Autor nicht haftbar gemacht werden kann. Ein Balanceakt, der so gut gelang, daß die kritische Leistung sowie Brisanz der Idyllen bisher noch kaum entdeckt worden zu sein scheint.

Ebensowenig wie Nietzsche selbst geben sich die Kommentatoren eine Blöße, präsentieren gediegene Wissenschaftlichkeit.

So fällt dem Rezensenten sein Urteil leicht: ernstlich an Nietzsche(er)kenntnis Interessierte sollten diesen die Morgenröthe- und Idyllen-von-Messina-Kommentierung enthaltenden Band nicht nur Zeile für Zeile lesen, sondern auch besitzen, da er in exzellenter Weise Nietzscheerkenntnis zu fördern und analytische sowie interpretative Fähigkeiten des Lesers zu schärfen, ja zu ermutigen vermag.

Jochen Schmidt: Kommentar zu Nietzsches Morgenröthe und Sebastian Kaufmann: Kommentar zu Nietzsches Idyllen aus Messina. Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Band 3/1. Berlin/Boston: de Gruyter, 2015, 611 S., 69,95 Euro

Der Text stellt eine auf knapp 1 % heruntergeschliffene Fassung meiner auf meiner Webseite bereits eingestellten Besprechungen der beiden Teile von NK 3/1 dar.