Christopher Daase, Nicole Deitelhoff und Julian Junk haben mit "Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen" einen Forschungsüberblick zum Thema vorgelegt. Da zu den Autoren viele langjährige Forscher gehören, erhält man so einen informativen und strukturierten Überblick, gelegentlich aber auch mit kleinen Schiefen.
Werden politische Entwicklungen in der Gesellschaft immer extremer und radikaler? Diesen Eindruck kann man mitunter bekommen. Mit ihrer polarisierenden Agitation treten als populistisch geltende Parteien erfolgreich an die Öffentlichkeit und gewinnen bei Wahlen. Autonome Gewalttäter nutzen legitime Protestveranstaltungen, um mit enormen Sachbeschädigungen ihren Unmut ausleben zu können. Und aus scheinbar harmlosen Gläubigen mit überzeichneten Symbolen werden mitunter überaus brutalen Terroristen. Doch welche Bedingungsfaktoren gibt es jeweils für solchen Entwicklungen? Welche Antworten kann die sozialwissenschaftliche Forschung auf solche Fragen geben? Eine – vorläufige, muss man hier wohl sagen – Bilanz dazu liefert ein Sammelband, der von Christopher Daase, Nicole Deitelhoff und Julian Jung herausgegeben wurde. Alle drei arbeiten bei der renommierten Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).
Das gemeinte Buch trägt den Titel "Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen" und versteht sich entsprechend des Untertitels als Forschungsbilanz zum Thema. Autoren sind bekannte Sozialwissenschaftler aus dem jeweiligen Themenspektrum. Dabei fällt auf, dass die meisten Aufsätze von um die fünf und mehr Personen geschrieben wurden. So etwas macht immer hinsichtlich des realen Arbeits- bzw. Autorenanteils misstrauisch, hier erklärt es sich aber wohl mehr dadurch, dass mehrere Autoren zu Einschätzungen wirklich komplexer Fragen nötig waren. Doch was meint Radikalisierung? Gleich zu Beginn findet man folgende Definition: Es gehe dabei um "die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft die institutionelle Struktur dieser Ordnung zu bekämpfen" (S. 20). Dabei handele es sich um ein breit gehaltenes Verständnis, was nicht nur deswegen nicht unproblematisch ist.
Die folgenden Aufsätze versuchen dann die erwähnte Bilanz zu den jeweiligen Forschungen zu ziehen: Da geht es um individuelle Faktoren der Radikalisierung hin zu Extremismus und Gewalt. Da wird nach den Brückennarrativen als verbindende Erzählungsstrukturen bei der Radikalisierung von Gruppen gefragt. Da stehen die Dynamiken gesellschaftlicher Radikalisierung, auch und gerade angesichts einer Bedrohung für eine offene Gesellschaft im Vordergrund. Da geht es um die Erfahrungen mit Deradikalisierung als Herausforderung für Theorie und Praxis. Da wird dem Internet als Ort eines Online-Extremismus ein gesonderter Stellenwert zugeschrieben. Und da fragt man nach den Möglichkeiten der Evaluationsforschung zur Messung von Wirkung. Jeder der genannten Aufsätze ist entsprechend bestimmter Akteure und Themen gegliedert. Es werden auch Forschungslücken nicht verschwiegen, existieren doch viele Grenzen für ein gesichertes Wissen.
Leider gibt es nur selten Forschungsbilanzen wie diese, hat man es hier doch mit einem überaus informativen Sammelband zu tun. Er kann als eine Einführung ins Thema gelesen werden, er macht aber auch den Experten viele Wissenslücken deutlich. Darüber hinaus findet man darin auch Hinweise auf weiterführende Literatur. Meist fällt der Blick auf den Islamismus und Rechtsextremismus, hier kommt ab und an aber ebenso der Linksextremismus vor, was nicht immer bei einschlägigen Projekten der Fall ist. Erstaunlich sind manche pauschalen Einschätzungen oder schiefe Zuordnungen. So ist die Auffassung von einem "Lone Wolf" durchaus noch haltbar, sofern man hier einen "Lone Actor" als allein Handelnden meint (vgl. S. 45). Und die Extremismustheorie wird – mal wieder, muss man leider sagen – schief dargestellt. Eine Abgrenzung von der Mitte meint sie gerade nicht (vgl. S. 92). Gleichwohl hat man es mit einer beachtenswerten Bilanz zum Thema zu tun.
Christopher Daase/Nicole Deitelhoff/Julian Junk (Hrsg.) Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen, Frankfurt/M. 2019 (Campus-Verlag), 295 S., 24,95 Euro
1 Kommentar
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Andreas E. Kilian am Permanenter Link
„Gleich zu Beginn findet man folgende Definition: Es gehe dabei um "die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft die institutionelle Struktur diese
Nach dieser Definition sind alle, die den Kirchenstaat Deutschland als institutionelle Struktur und normative Ordnung in Frage stellen und ihn mit Aktionen, Humor, Aufklärung sowie der Straftat Blasphemie „bekämpfen“, ebenfalls Extremisten. Bei Glaubensentscheidungen, die mit Ja oder Nein zu beantworten sind, gibt es halt immer nur Extreme.