Mit dem Untertitel "Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft" legt die mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen geehrte 33-jährige Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim ihr zweites Buch vor, das schon nach kurzer Zeit Bestsellerstatus erlangte und für den Sachbuchpreis 2021 nominiert wurde.
Der promovierten Chemikerin ist es ein Anliegen, an der "zunehmend verschwimmenden Grenze zwischen Fakten und Meinungen" sowie der "Informations- und Desinformationsüberflutung in sozialen Medien und der scheinbar unerschütterlichen Realitätsfeindlichkeit mancher Menschen" ein Zeichen der Aufklärung zu setzen. Unter den Gesichtspunkten "Wahr, falsch, plausibel?" vermittelt sie neben grundlegendem Wissen auch Verständnis für wissenschaftliche Methodik als Voraussetzung, sich sachlich fundiert eigene Meinungen bilden zu können.
"Dass wir uns immer mehr von einem gemeinsamen Verständnis von Wirklichkeit entfernen, müssen wir dringend ändern." In der aktuellen Debattenkultur dominiert "Schwarz-Weiß", viele Fronten sind verhärtet. Seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte Themen polarisieren in der Öffentlichkeit, Laien verlieren bei der Vielzahl unterschiedlicher Wortmeldungen sehr leicht den Durchblick. Hinzu kommen in Medien und Sozialen Netzwerken oft Fakes, Halbwahrheiten und Verschwörungsmythen, die einfache Antworten und Lösungen zu komplexen Fragestellungen und Problemen versprechen und damit in die Irre führen. "In diesem Buch will ich mich auf die Suche begeben, auf die Suche nach der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit. Nur wenn man bei einem Streit auf dem Fundament einer gemeinsamen Wirklichkeit steht, funktioniert Streit, funktioniert Debatte."
"Wozu auf die Wissenschaft hören, hat sich so mancher während der Corona-Pandemie gefragt, die irren sich doch eh ständig. Dabei übersehen wir, dass der Unterschied zwischen jemandem, der immer recht hat, und jemandem, der oft irrt, oft nur darin liegt, dass Letzterer seinen Irrtum einsieht."
In neun Hauptkapiteln des Buches werden "Die Legalisierung von Drogen", "Videospiele und Gewalt", "Gender Pay Gap", "Big Pharma versus Alternative Medizin", "Wie sicher sind Impfungen?", "Die Erblichkeit von Intelligenz", "Warum denken Frauen und Männer unterschiedlich?", "Sind Tierversuche ethisch vertretbar?" sowie "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit" behandelt, in 60 Unterkapiteln wird dazu eine Fülle von damit verbundenen Fragen und Themen wie "systemrelevante Berufe", "Care-Arbeit", "Lohngerechtigkeit", "Homöopathie", "klinische Studien", "Impfpflicht", "Gene versus Umwelt", "Corona" oder "Klimawandel" erläutert.
Mai Thi Nguyen-Kim taucht dabei tief in die Materie ein und zeigt anhand von Studiendesigns und Untersuchungsmethoden, wie die Wissenschaft zu ihren (mehr oder minder) signifikanten Aussagen kommt. Es ist ihr dabei wichtig, Scheuklappenblicke aufzuweiten und mit Denkanstößen darauf hinzuwirken, jedes Thema von mehreren Seiten zu betrachten.
Didaktisch anregend beginnt jedes Hauptkapitel des Buches mit einer Fangfrage, die zum Grübeln anregt und eigene Auffassungen reflektieren lässt, zahlreiche Infoboxen für wissenschaftliche Inhalte und Fachbegriffe sowie farbig hervorgehobene Kernaussagen im Text erleichtern und vertiefen das Verständnis des Gebotenen. Um einschätzen zu können, inwieweit die in diversen Medien verbreiteten Inhalte richtig oder eher falsch sind, ist es neben vorhandenem Wissen auch notwendig, Daten, Studien und Statistiken korrekt interpretieren zu können. Dass wissenschaftlicher Konsens nicht in "Stein gemeißelt", sondern bei neueren Erkenntnissen änderbar ist, versteht sich dabei von selbst; der Autorin ist es wichtig, auch Verständnis für wissenschaftliche Fehlerkultur – für das Prinzip des Falsifizierens – zu vermitteln.
Aus der Vielzahl an Themen einige Beispiele:
- Lieber fehlerhaft als gar keine Wissenschaft?
- Warum Aggressionsforschung besonders kompliziert ist
- Die verlockende Suche nach einfachen Antworten
- Zwischen gesunder Skepsis und Verschwörungsmythen: Genaue Lupe für alle!
- Wirksamkeit ist das, was du daraus machst
- Warum die Anzahl unserer Finger weniger erblich ist als das Ergebnis eines IQ-Tests
- Drei Gesetze für die Genetik komplexer Persönlichkeitseigenschaften
- Die große "Matschepampe" aus Genen und Umwelt
- Dieser Abschnitt verändert dein Gehirn – denk mal darüber nach
- Müssen Tierversuche wirklich sein?
- Warum wir eine kleinste gemeinsame Wirklichkeit brauchen
- Falsche Bilder von "Wissenschafts-Religion" und "Cancel Culture"
- Die Kunst des wissenschaftlichen Konsenses: Ein wissenschaftlicher Konsens ist keine Abstimmung und wissenschaftlicher Konsens verändert sich mit neuen Erkenntnissen
- Der wissenschaftliche Spirit: Wissenschaftliches Denken, wissenschaftliche Methoden, wissenschaftliche Fehler- und Diskussionskultur
- Der Debattenfehlschluss: "Wissenschaftlichkeit heißt nicht, weniger zu streiten, sondern besser."
"Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit" bietet interessierten Leserinnen und Lesern nicht nur eine Vielzahl neuer beziehungsweise vertiefender wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern regt auch inspirierend zum Nachdenken und Hinterfragen eigener Anschauungen an. Die Autorin klammert dabei nicht aus, dass es auch Aspekte bei der Beantwortung von Fragen gibt, die keine Antwort erlauben, wenn man nicht unwissenschaftlich beziehungsweise populistisch sein will. Lebensnahe Beispiele und eine Vielzahl aussagestarker Abbildungen erleichtern das Verständnis. Manche Kapitel erfordern etwas Vorwissen und Durchhaltevermögen, dazu auch ein gewisses Maß an wissenschaftlichem Denken, die sehr umfangreichen Anmerkungen und Erläuterungen im Anhang helfen dabei.
Alle Abschnitte beziehungsweise Themen des Buches können problemlos einzeln für sich gelesen werden, es kann somit auch als Nachschlagewerk dienen. Mai Thi Nguyen-Kims Ausführungen verdeutlichen, wie Wissenschaft funktioniert und wie und wo es dabei zu Konflikten mit der Gesellschaft kommen kann. Dass sie ein Medienprofi mit hervorragendem Kommunikationsstil ist, wird in der sehr professionellen Vermittlung auch sperriger und komplizierter Inhalte deutlich: In klarer, erfrischend humorvoller Schreibweise nimmt sie den Leser, die Leserin – auch anspruchsvoll – fesselnd, unterhaltend mit. Uneingeschränkte Leseempfehlung!
Viele der im Buch behandelten Themen werden von Mai Thi Nguyen-Kim auch in ihrem YouTube-Kanal "maiLab" audiovisuell präsentiert – "maiLab" verzeichnet bis dato 1,26 Millionen Abonnenten bei 176 Videos, darunter "Corona geht gerade erst los", als mit 6,6 Millionen Aufrufen erfolgreichstes YouTube-Video des Jahres 2020. Zuletzt erhielt Nguyen-Kim 2020 das Bundesverdienstkreuz. 2021 wurde sie mit einem Sonderpreis der "Goldenen Blogger" ausgezeichnet.
Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit, Droemer Verlag, München 2021, 368 Seiten, 20 Euro, eBook: 17,99 Euro, Hörbuch (von der Autorin gelesen): 11,39 Euro. ISBN: 978-3-426-27822-2
Titelbild-Quelle: YouTube-Video: "Wie sicher ist AstraZeneca wirklich?"
10 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Gerfried, werden die Streitfragen da tatsächlich "geklärt" - endgültig?
Ich denke, nein.
Gerfried Pongratz am Permanenter Link
Ich denke auch "nein", und schon gar nicht "endgültig".
Hans Trutnau am Permanenter Link
Fragte das nur, weil im Teaser zunächst 'geklärt' statt 'geprüft' stand; wurde von der Red. korrigiert.
David Z am Permanenter Link
Ich kann mich noch gut an das Aufeinandertreffen von Frau Nguyen mit Herrn Streeck bei Lanz erinnern.
Wolfgang von Sulecki am Permanenter Link
Wenn Argumente nicht widerlegt werden können erfolgt oft ein Angriff auf die Person.
Denken Sie 'mal darüber nach.
David Z am Permanenter Link
Nicht jede Kritik ist automatisch ein argumentum ad hominem.
Denken Sie mal darüber nach.
Übrigens hat sich der beschiebene Eindruck mit ihrer Reaktion auf die kürzliche Satireaktion der Schauspieler weiter gefestigt.
Werner Helbling am Permanenter Link
Eine überaus bewundernswerte, hoch intelligente Persönlichkeit. Sehr empfehlenswert sind ihre Video-Clips. Erfrischend, auch für den Laien gut verständlich vorgetragen.
Klaus Bernd am Permanenter Link
„dass der Unterschied zwischen jemandem, der immer recht hat, und jemandem, der oft irrt, oft nur darin liegt, dass Letzterer seinen Irrtum einsieht."
Dazu ist mir vor kurzem folgendes geniale Zitat von André Gide untergekommen:
„Croyez ceux qui cherchent la vérité, doutez de ceux qui la trouvent.“
"Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.“
(Dazu möchte ich noch ergänzen: Und zweifle insbesondere an denen, die sie auch noch als ABSOLUTE Wahrheiten ausgeben.)
Übersetzung nach http://zitate.net/wahrheit-zitate
Dort findet man auch das Zitat von Sir Arthur Conan Doyle, nach dem er seinen Sherlock Holmes die Fälle lösen lässt:
"Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist."
Ich hoffe allerdings, dass kein Ermittler heute noch nach diesem Motto vorgeht und halte dem entgegen:-)
Wer glaubt alle Unmöglichkeiten ausgeschlossen zu haben, kennt vielleicht nur nicht alle Möglichkeiten.
Und einer Wahrheit, die sehr unwahrscheinlich ist, sollte man erst mal mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnen.
Auf das Kapitel über die große "Matschepampe" aus Genen und Umwelt bin ich schon sehr gespannt.
Hans Trutnau am Permanenter Link
>„Croyez ceux qui cherchent la vérité, doutez de ceux qui la trouvent.“
"Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.“
(Dazu möchte ich noch ergänzen: Und zweifle insbesondere an denen, die sie auch noch als ABSOLUTE Wahrheiten ausgeben.)< - finde ich gut, Klaus Bernd!
Und zweifle selbst an denen (möchte ich ergänzen), die vorgeben, sie finden zu können oder auch nur ihre Wahrheits-*Nähe* bestimmen zu können.
Hans Trutnau am Permanenter Link
So, nicht kleinst-gemeinsam, sondern der Hammer:
Globuli gegen Corona!
https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_89949552/impfstoffreste-aus-impfzentrum-fuer-globuli-genutzt.html
Bin übrigens gespannt, was "Mrs.schine" dazu zu sagen hat...