Veganismus

"Gemüseheilige" gibt es schon lange

Unter Großstadtjugendlichen gibt es einen Hype: den Veganismus. Ernährung ohne tierische Produkte ist "in". Die Argumente dafür lauten: Gesundheit, Ökologie und Tierwohl. Dabei handelt es sich aber um kein neues Phänomen: Bereits im 19. Jahrhundert gab es Veganer, nur nannten sie sich selbst noch nicht so.

Der Begriff kam erst 1944 auf. Dies kann man in dem Buch "Gemüseheilige. Eine Geschichte des veganen Lebens" von Florentine Fritzen nachlesen. Die Bezeichnung „Gemüseheilige“ war im 19. Jahrhundert die spöttische Kennzeichnung aus der Mehrheitsgesellschaft. Die Gemeinten nannten sich damals noch "strenge Vegetarier". Wie sich die vegane Bewegung entwickelt hat, will die Autorin, die als Redakteurin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung arbeitet, in ihrem Buch nachzeichnen. Der Beruf erklärt die Form der Präsentation. Auch wenn Fritzen Archiv aufgesucht und Fachliteratur gewälzt hat, ist es doch kein wissenschaftliches Buch. Dies macht nicht nur das Fehlen von Nachweisen, sondern auch der Erzählstil in Sprüngen anschaulich.

Die "Geschichte des veganen Lebens" beginnt bei der Autorin im 19. Jahrhundert, wobei gleich die Frage erlaubt ist: Gab es nicht schon in der Antike einige Ansätze in diese Richtung? Aber bleiben wir bei diesem Beginn: Die Darstellung orientiert sich zunächst an dem veganen Geschäftsreisenden Reinhold Riedel und dessen Problemen bei der Suche nach veganen Lebensmitteln außerhalb der Großstädte. Dabei erinnert die Autorin die Menschen unserer Zeit an ganz andere Rahmenbedingungen für ein solches Alltagsleben. Ausführungen über den "Kleinen Hype um die Sojabohne", "Das Zwischenreich von Milch und Eiern", "Das gute Brot" oder "Die Rohkost und ihre Gegner" machen die Auffassungen und Debatten jener Jahre deutlich. Als Gründungsvater dieses Vegetarismus gilt der Autorin der freireligiöse Pfarrer Eduard Baltzer, der die ersten Vereine diesen Zuschnitts gegründet hatte. Auffällig geringes Interesse widmet die Autorin der politischen Dimension. Die randständige Bedeutung der Frage in der Linken kommt etwa in dem Buch gar nicht vor.

Dafür berichtet sie darüber, dass Anfang der 1930er Jahre eine "Führer-Fixierung" auch in der veganen bzw. vegetarischen Bewegung existiert habe. Statt auf die Einsicht der Menschen habe man nun auf die Leitung durch den Staat gesetzt. Dann muss auch unweigerlich die Aussage kommen, dass Hitler ein Vegetarier gewesen sei. Hier ist die Autorin dann nicht differenziert genug informiert, denn der Diktator und Massenmörder verzichtete keineswegs auf Taubenfleisch und war demnach kein konsequenter Vegetarier. Aber auch wenn er das gewesen wäre, ist dies für solche Fragen eigentlich nicht besonders relevant. In Großbritannien erfand mitten im Zweiten Weltkrieg ein Donald Watson das Wort "vegan". Dies erklärt im Buch die Kapitelaufteilung "Bevor es das Wort gab" und "Nachdem es das Wort gab". Denn der folgende dritte Teil geht ausführlich auf die Nachkriegsentwicklung ein. Hier fällt der Blick auf eine vegane Ordensgemeinschaft ebenso wie auf das Verhältnis von Tierschutz und Kirche ebenso wie auf den neuen Wohlfühl-Veganismus.

Fritzen schreibt kenntnisreich und locker. Gleichwohl kommt man in der Bilanz zu einem ambivalenten Urteil. Die Aufmerksamkeit gilt meist nur skurrilen Repräsentanten der veganen Ernährungsweise. Ein Erlösungsdenken wird als Kontinuität unterstellt. Dafür kann die Autorin auch durchaus Belege präsentieren. Dabei beschreibt und kommentiert sie aber aus der Blickrichtung der Mehrheitsgesellschaft, welche aus Gewohnheit die Gründe für die Umorientierung nicht wahrnimmt. Erstaunlicherweise fehlen bedeutsame Aspekte: Dies gilt insbesondere für das Ausblenden der politischen Dimension des Themas. In der Gesamtschau entsteht sogar der Eindruck, dass es sich nur um eine Frage für Rechte oder Sonderlinge handelt. Das Buch endet zwar mit dem "Hype" der Gegenwart. Aber auch dabei wird nicht auf die Breite der veganen Bewegung genauer hingewiesen. Hier gibt es tatsächlich esoterische, aber auch rationale, hinterwäldlerische wie moderne Repräsentanten. Die auch im "Gemüseheilige"-Titel deutliche ironisierend-negative Schlagseite dominiert all zu sehr.

Florentine Fritzen, Gemüseheilige. Eine Geschichte des veganen Lebens, Stuttgart 2016 (Franz Steiner Verlag), 183 S., ISBN 978-3-515-11429-5, 21,90 Euro