Worüber sprechen wir hier aus humanistischer Perspektive? "Die Zeit als Raum menschlicher Entwicklung" (MEW 26.3, S. 252), um noch einmal Marx zu zitieren.
Sind Wörterbuchprojekte vielleicht an sich anachronistisch, könnte man nun fragen. Der Erfolg der digitalen Wiki-Enzyklopädien spricht erstmal dagegen. Und doch gibt es Warnungen, dass die Mehrzahl der Artikel bei Wikipedia zum Beispiel nur von einzelnen wenigen AutorInnen geschrieben werden, nämlich jenen die anscheinend dazu die Zeit finden.
Auf jeden Fall haben einige Nerven an der langsamen Entstehungsdauer dieses Handbuchs gelitten, nicht zuletzt die von Frau Dr. Grünkorn, die die Grundbegriffe beim De Gruyter Verlag betreut.
Aber ich denke die Mühe hat sich gelohnt.
Wir leben in einer Zeit, in der weltweit antihumane Reaktionen auf die Krisen der modernen Gesellschaft und des Kapitals zunehmen. Und ob wir nun in mehreren oder in einer Zeit leben, unabhängig von Wahrnehmung und Erfahrungen, gibt es globale soziale und ökonomische Prozesse, die zwar von Menschen gemacht sind, aber von einzelnen nicht gesteuert werden können und auch nicht von Regierungen und mit deren Entwicklung das moderne Dasein verwoben ist. Und es gibt momentan scheinbar keine Lösung für diese Widersprüche außer dem Markt.
Gerade hier ist es wichtig, diese Art von Grundlagenarbeit zu machen, ein Handbuch, um es Anderen an die Hand geben zu können, allen aber besonders auch den jüngeren und jungen Menschen. Humanismus als praktischer Kampfbegriff und das Handbuch als Instrument für eine Praxis, die in das öffentliche Bewusstsein hineinreicht. In diesem Sinne kann man ein Begriffslexikon begreifen wie einen Werkzeugkasten mit der Säge und ihren Zinken.
Aber es sind auch die Blumen des Geistes, in einem umfassenden humanistischen Verständnis, welches Bewusstsein nicht von den Gefühlen und Sinnen trennt. Mit der Schönheit als einer der stärksten menschlichen Kategorien.
Hier ist mit einer leichten Trauer anzumerken, dass der ursprünglich vorgesehene Bildteil des Handbuchs nicht realisiert werden konnte. Diese Bilder werden mir fehlen.
"Etwas fehlt." Darin waren sich auch Brecht und Bloch einig. Doch da sind die Bilder vermutlich das kleinere Problem.
Jede enzyklopädische Anstrengung enthält vielleicht ein Moment von Verzweiflung und auch Konfusion. Man will eine Enzyklopädie machen und kann froh sein am Ende bei einer Sammlung zu landen. Aber auch Honig ist eine Sammlung – und ein Lebenselixier.
Abschließend möchte ich noch einmal auf das Thema meines Artikels zu sprechen kommen.
Anfang der 70er Jahre haben die Ton Steine Scherben gesungen:
Uns fehlt nicht die Zeit, uns fehlt nicht die Kraft
Uns fehlt nicht das Geld, uns fehlt nicht die Macht
Was wir wollen, können wir erreichen
Wenn wir wollen, stehen alle Räder still
Wir haben keine Angst zu kämpfen
Denn die Freiheit ist unser Ziel
Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität
Uns fehlt nicht die Hoffnung, uns fehlt nicht der Mut
Uns fehlt nicht die Kraft, uns fehlt nicht die Wut
Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität
Die Solidarität
Ein humanistischer Grundbegriff par exellence. So bin ich schon vor meiner Mitarbeit an dem Handbuch und im Kolloquium auf die von Horst Groschopp in der Humanistischen Akademie im Dezember 2010 ausgerichtete Tagung mit dem Titel: "Barmherzigkeit und Solidarität – nur säkularisierte Nächstenliebe? Sozialkulturelle Gemeinschaftsformen humanitärer Krisenbewältigung" gestoßen.
Ich selber beschäftige mich in meiner Dissertation mit dem Wandel von Formen und Praktiken der Solidarität. Und ich denke die Rückverfolgung der "langen Linien" des genuin modernen Solidaritätsbegriffs, der erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Frühsozialisten geprägt wurde – über die Französische Revolution, die Freidenker, die Aufklärungsbewegungen, die christliche Brüderlichkeit, die jüdische Nächstenliebe zur antiken humanitas, misericordia und philantropia – der Menschenliebe und Barmherzigkeit – und noch weiter zurück auf die Genossenschaft der Menschen bei Odysseus und dem Mitempfinden bei Pythagoras – dies ist ein gutes Beispiel für die Arbeit an einem humanistischen Begriff. Die unterschiedlichen "Konjunkturen" des Begriffs, wie man in der ökonomisch geprägten Sprache unserer Epoche sagen würde – zeigen verschiedene gesellschaftlich wirkmächtige Aneignungsbewegungen – von unten wie durch die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung, aber auch z.B. eine nachträglich sakralisierende wie durch die katholische Soziallehre, die nicht zuletzt den westdeutschen Nachkriegssozialstaat maßgeblich prägte.
Auf die Frage, welcher Solidaritätsbegriff einem zeitgenössischen Humanismus entspricht, kann eine Antwort lauten Konvivialismus – die Kunst des Zusammenlebens in einer Weltzivilgesellschaft, die solidarisch verfasst sein und auf der Idee beruhen sollte, dass der jeweils andere eine Bereicherung darstellt, weil er ein Anderer ist – wie Emmanuel Levinas es formulierte. Bei den gegenwärtig durch Kriege und zunehmende Konzentration des gesamtgesellschaftlichen Reichtums auf wenige Menschen und bestimmte Regionen ausgelösten Flucht- und Migrationsbewegungen sowie Spaltungstendenzen im Inneren, gibt es hier einiges zu tun aus humanistischer Perspektive.
Aber "die Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie auch lösen kann." (MEW 13, S. 9) Um mit einem letzten Marx-Zitat zu schließen.
Ich freue mich auf jeden Fall über die Fertigstellung dieses Handbuchs, hoffe dass es gelesen und genutzt werden wird und ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit an dem – unabgeschlossenen – "humanistischen Projekt" einer im besten und emphatischsten Sinne menschlichen Gestaltung der Welt.
8 Kommentare
Kommentare
Frank Roßner, H... am Permanenter Link
Liebe Marie Schubenz und liebe Redaktion,
danke für den Blick von Innen.
Bin gespannt, was der Rezensent vom Dienst des HPD dazu bemerken wird.
JM am Permanenter Link
Ich habe den Artikel mit großem Interesse angefangen zu lesen konnte mich aber nicht bis zum Ende durchkämpfen.
Frank Nicolai am Permanenter Link
Sehr geehrte/r JM,
der Artikel ist - wie oben erwähnt - der Abdruck einer gestern gehaltenen Rede. Und das "Thema meines Artikels" nimmt Bezug auf das Thema, dass Frau Schubenz im vorgestellten Buch bearbeitet hat; nicht auf das Thema der hier veröffentlichten Rede.
MfG
Frank Nicolai
Atheist Steinbrenner am Permanenter Link
Grundlegende Bücher über Humanismus müssen anscheinend extrem teuer sein, damit Sie kaum jemand kauft, liest oder rezipiert.
Wenn die Autoren die hier wie dort auch aktiv in Humanistischen Organisationen sind eine Verbreitung des Gedankenguts wünschten, wären wohl in beiden Fällen eher 20-30 EUR denn um die 150 EUR angemessen. So muss man sich schon Fragen ob dem legitimen Wunsch Einkommen mit diesen Büchern zu erzielen, nicht das Ziel der Verbreitung der eigenen Weltanschauung mit Hilfe derselben geopfert wird.
Horst Groschopp am Permanenter Link
Ach, armer Herr Steinbrenner, es lohnt sich, bevor Sie auf die Herausgeber und Autoren wegen des Preises losdonnern und weitere Schlüsse ziehen, sich sachkundig zu machen, wie der Buchmarkt funktioniert, was dazu bere
wbretier am Permanenter Link
Ach, armer Herr Groschopp
Wenn es nicht die Autoren und Herausgeber sind, wer ist es dann? Bleibt nur noch der Verlag vermutlich.
Hopf, Arnulf am Permanenter Link
auc h ich bin erschrocken ob des hohen Verkaufpreises.
Heutzutage sind Druck- und Verbreitungswege möglich,die offensichtlich nicht alle geprüft wurden.
Rüdiger Weida am Permanenter Link
Ich warte auf das Buch überhaupt nicht.
Humanismus aus Sicht des HVD und unter Mitwirkung eines Autoren, der hier durch seinen Kommtar gezeigt hat, was er unter praktischem Humanismus versteht, wären mir nicht mal 20,- Euro wert.
So habe ich auch kein Problem mit dem jetzigen Preis. :)