Am 8. April jährte sich der Todestag des Streitschriftstellers Karlheinz Deschner. Nachdem er sich zunächst als Literaturkritiker profiliert hatte, erreichten später vor allem seine Werke zur Geschichte des Christentums ein größeres Publikum. Über Deschners weltanschauliche Auffassung sprach der hpd mit dem Philosophen Hermann Josef Schmidt, der ihm über lange Jahre freundschaftlich verbunden war.
hpd: Wenn Sie beide miteinander telefonierten, wie lange drehte sich das Gespräch um Kirche und Religion?
Hermann Josef Schmidt: "Kirche" spielte nur noch eine Rolle, wenn wir uns belustigt Storys erzählen wollten. "Religion" hingegen, wenn wir uns beispielsweise bei speziellen Verhaltensweisen fragten, ob dabei noch religiöse Prägungen wie Schuldgefühlerziehung eine erschwerende Rolle spielen könnten.
Dann war Deschner gar nicht so auf die Kirche fixiert, wie ihm hin und wieder vorgeworfen wurde?
Nein, das war er wirklich nicht. Dafür war er doch viel zu intelligent. Man muss freilich erinnern, dass Religionskritik Basis fast jeder Kritik ist und dass in der Generation Deschners die Karriere eines Kritikers meist als Kirchen-, später Christentums- und noch später Religionskritiker begann. Dennoch: Er hatte wohl bis 1962 geglaubt, mit dem Abschluss seiner faszinierenden kritischen Kirchengeschichte "Abermals krähte der Hahn" seine Arbeit getan zu haben. Der Band ist ja noch heute unersetzlich.
Vielleicht erst der immense Widerstand sowie das dabei demonstrierte irritierend erbärmliche Argumentationsniveau sog. Kritiker, ebenso freilich die überraschende Flut ermutigender Aufforderungen, seine Arbeit doch spezifischer weiterführen zu wollen, und zahlreiche persönliche Briefe zeigten ihm: Streng genommen konnte der "Hahn" erst die Ouvertüre sein. Die Erarbeitung einer auch ins Detail gehenden Kriminalgeschichte des Christentums inklusive der faschismusfördernden Politik neuerer Päpste, einer Sexualgeschichte usf. durch eine so unabhängige, scharfsinnige, integre und sprachlich potente Person wie Deschner war unumgänglich. Sein jahrzehntelanges Waten durch diesen Morast – eine heroische Tat – verdient höchsten Respekt.
Deschner hat sich als Agnostiker bezeichnet. Worin unterschied sich seine Position von einem erklärten Atheisten?
In der Dichotomie Theismus – Atheismus verortete Deschner den Agnostizismus zwar in engster Nähe des Atheismus, doch der entscheidende Unterschied liegt für ihn nicht nur darin, dass der Agnostizismus Zentrales offen hält, sondern auf einer anderen, der persönlicheren Ebene. Für ihn ist der Agnostiker Skeptiker, Einzelgänger, Außenseiter, ist "weniger dogmatisch als sachlich interessiert", seine Weltanschauung ist "weniger ein Glaubensbekenntnis (...) als eine kritische Methode, ein Versuchs-Standpunkt", wie er in seinem Essay "Warum ich Agnostiker bin" formulierte. Für Deschner tendiert der Agnostiker zu "Vorbehalten, zum Vorläufigen". So neige er "mehr zum Infragestellen als Jasagen, mehr zum Widerspruch und oft genug Widerwillen als zu irgendeinem Konsensus, zur Entgötzung mehr als zur Anthropolatrie".
Ist seine weltanschauliche Orientierung damit erschöpfend beschrieben?
Nicht ganz. Nicht nur 1977 in "Warum ich Agnostiker bin", sondern auch 1994 in "Was ich denke" reflektiert er, ob man ihn Anarchist nennen könne. Oder Sozialist, Pazifist, Individualist, Humanist, Demokrat? "All dem" fühlt er sich, "auf die eine oder andere Weise, mehr oder weniger verbunden". Doch angesichts all dem freilich, was die Welt an Anarchisten usf. schon gesehen habe, stehe er "doch lieber ein bißchen, ein kleines bißchen daneben und versuche, in aller Bescheidenheit, aber auch aller Entschiedenheit", sich "weder verdummen noch korrumpieren zu lassen. Von keiner Seite. Weder von rechts noch von links noch von der Mitte." Und erst recht nicht "von oben".
Hat Deschner sich eigentlich explizit als Humanist verstanden?
Er war wohl allergisch gegen jedwede Art von Eingruppierung, war und blieb selbstdenkender und selbstverantwortlicher Einzelgänger. Wir haben darüber nie gesprochen. Doch erlebt habe ich ihn als einen Humanisten ungewöhnlich weiten Horizonts. Vielleicht trifft als Stichwort "selektive Biophilie", eine wiederum sehr persönliche Lebens- und Weltliebe, besser. So erinnere ich nur an einige Passagen aus "Dornröschenträume und Stallgeruch" (1989) oder auch an seine Auswahl und Art der Kommentierung intensiver Landschaftsbeschreibungen von Robert Musil, Hermann Broch oder Hans Henny Jahnn schon in "Kitsch, Konvention und Kunst" (1957).
Wenn sich vor allem der späte Deschner zu Tieren äußerte, klingt manchmal eine fast grundsätzliche Distanz zu den Menschen durch. Bewegt sich Deschner mit seiner Tierethik noch im Rahmen des humanistischen Grundkonsenses?
Ich sehe ihn vor mir, wie er bei so üblichen Formulierungen wie "mit seiner Tierethik" oder "im Rahmen des humanistischen Grundkonsenses" leise durchatmet, maliziös lächelt und eine Sottise unterdrückt, denn derlei klingt ihm viel zu definitiv, einschränkend-fixiert, schablonenmäßig. Auch hier steht er "daneben" oder, besser: darüber, insistiert auf eigenem Urteil.
Genau das, ein eigenes Urteil – aber eben: ein Urteil! – gesteht er anderen nicht nur zu, sondern erwartet, ja provoziert es auch, gerade dann übrigens, wenn sie wie ich beispielsweise keine Vegetarier sind. Wir haben uns in großer Offenheit mehrfach über dieses Thema unterhalten und gestanden uns unsere wechselseitigen, wohlbegründeten Auffassungen zu. Dazu mag beigetragen haben, dass er wusste, was meine Frau und ich über ein Jahrzehnt lang auf uns genommen haben, um in einem ganz zentralen Punkt deutscher Geflügelmassentierhaltung Veränderungen aufzwingen zu lassen.
Würden wir über Deschners Aphorismen sprechen, so würde ich darauf hinweisen, dass er mit bis ins Maximale überspitzten Formulierungen Denkverkrustungen aufzusprengen sucht, dass er wie ein Billardspieler insofern über die Bande spielt, dass es ihm darauf ankommt, seine Leser soweit zu provozieren, dass sie der Auseinandersetzung mit seinem als Spontanreaktion promptem Gegenvotum nicht mehr ausweichen können. Deschners Hoffnung: Mancher erschrickt dann vielleicht doch und überprüft seine erst in Spontanreaktionen deutlich gewordene Auffassung. Wer Deschners Provokationen jedoch wörtlich nimmt, fällt nicht nur auf sie herein, sondern drückt sich damit meist auch vor der von Deschner intendierten Selbstauseinandersetzung.
Inwieweit lässt sich Deschner Verständnis von Geschichtsschreibung aus seiner weltanschaulichen Position ableiten?
Wer wenigstens intuitiver Historiker und klarer Gegenwartsbeobachter ist, weiß, wie sehr Historiker und deren Popularisierer nicht nur zeitgeistfixiert, sondern autoritätshörig referieren, rekonstruieren und paraphrasieren. Gerade von Deschner gibt es hierzu ja wohltuend treffsichere Auflistungen und Passagen. Wenigstens wer nicht nur sagt, sein "ganzes Leben" auf der Seite der "Erniedrigten, Beleidigten" gestanden zu haben, und "keinen Augenblick auf der des Gegenteils", sondern sich auch so verhält, erkennt, dass unter der Schicht des Wechsels historischer Moden und schleimiger Anpassungsstrategeme doch so manche Konstante historischer Geschichtsschreibung aufzuspüren ist. Dazu gehört vor allem konsequente Aussparung oder Beschönigung basaler Inhumanismen. Genau hier aber setzt Deschner ein: als konsequenter und rigoroser Humanist, der Verbalqualm nicht nur durchschaut, sondern treffsicher diskreditiert.
Sie kannten ihn über 40 Jahre, haben ihn gegen die Angriffe katholischer Apologeten verteidigt und mehrfach zu festlichen Anlässen Reden gehalten. Gab es eine weltanschauliche Frage, in der Sie beide soweit auseinanderlagen, dass Sie sie aus Ihrer Freundschaft ausklammerten?
Für Deschner kann ich nicht sprechen, doch ich kann mich nicht daran erinnern, weltanschaulich Brisantes ausgeklammert zu haben. Karlheinz war ein bewundernswert sensibler Gesprächspartner. So kurios es klingen mag, wir haben uns nach Möglichkeit wechselseitig ermutigt. Ich ihn, bei seiner Heraklesarbeit historischer Augiasstallausmistung zu bleiben, er mich, den schon seit seiner Kindheit genuinen Christentumskritiker Nietzsche weder interpretierenden Dunkelmännern noch der Meute Zeit(un)geisthöriger zu überlassen.
Und zu welcher weltanschaulichen Frage ist Deschners Position so wegweisend, dass eine Lektüre noch heute unverzichtbar wäre?
Die Unverzichtbarkeit wenigstens sporadischer Deschnerlektüre möchte ich nicht mit einer einzelnen weltanschaulichen Frage in Verbindung bringen, das ist mir viel zu eng, sondern mit Deschners spezifischem Denk- und Argumentationsstil, den ich als schwerlich überbietbar aufklärend bezeichne. Deschner lässt sich nicht rubrizieren, denkt und argumentiert selbst sowie auf eigene Rechnung. Genau dazu provoziert und ermutigt er, demonstriert, was ein einzelner, der nicht irgendwo unterkriecht, leisten kann, wenn er konsequent in eigener Verantwortung handelt. So hat er zu fast jedem Thema eine eigene, ernstzunehmende Sichtweise, die er so prägnant präsentiert, dass man sich mit ihr auseinandersetzt. Genau darum geht es aber: nicht um's Trommeln auf hohlen Köpfen, sondern um Denkimpulse bei Selbstdenkenden, um den jeweils eigenen Beitrag zu infiniter Aufklärung. Schon in dieser Hinsicht sind Deschners Arbeiten Unikate.
Ich danke für das Gespräch.
Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.
In Kürze erscheint im Alibri Verlag der fünfte Band der Werke Karlheinz Deschners. Er enthält u. a. auch die Texte "Warum ich Agnostiker bin" und "Was ich denke". Die Subskriptionsfrist läuft noch bis Ende Mai.
1 Kommentar
Kommentare
David am Permanenter Link
für mich sein wichtigster satz. aus meiner Erinnerung ungefähr so. die kleinste hilfe ist/kann größer sein als der größte gedanke.