Dignitas

Irrtümer in der Diskussion um die SAMW-Richtlinien "Umgang mit Sterben und Tod"

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Arzt Schweiz

Der Verein Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben hat sich vertieft mit den Richtlinien zum "Umgang mit Sterben und Tod" der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) auseinandergesetzt. Dignitas stellt fest, dass in der aktuellen Diskussion in den Medien Meinungsverschiedenheiten aufgezeigt werden, die teilweise in Irrtümern und Unwissen wurzeln. Ein zusammenfassender Überblick ist angezeigt.

Allgemein wird dargestellt, die SAMW-Richtlinie "Umgang mit Sterben und Tod" würde die ärztlich unterstützte Suizidhilfe im Sinne von verbindlichen Vorschriften oder rechtlich durchsetzbaren Normen "regeln". Das ist ein Irrtum. Eine Kompetenz der SAMW zum Erlass von Regeln, welche die verbindliche Qualität von Gesetz oder Verordnung haben, existiert nicht: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts hält fest, dass Richtlinien der SAMW Regeln einer privaten Stiftung ohne Gesetzgebungskompetenz ("puissance publique") sind und diese keine Gesetzeskraft haben. Gesetzeskraft haben nur formelle staatliche Erlasse; so zum Beispiel die Aufzählung der Berufspflichten für Personen, die einen universitären Medizinalberuf privatwirtschaftlich in eigener fachlicher Verantwortung ausüben. Diese sind in Artikel 40 des Medizinalberufgesetzes (MedBG) einheitlich und abschließend geregelt. Von den Berufspflichten sind Standesregeln zu unterscheiden. Diese werden durch Art. 40 lit. a MedBG nicht zu objektivem Recht erhoben, können aber als Auslegungshilfe zur Präzisierung allgemein formulierter Berufspflichten herangezogen werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die abschließende Aufzählung der Berufspflichten in Art. 40 MedBG durch die Standesregeln nicht ergänzt werden dürfen.

Sofern die FMH die SAMW-Richtlinien "Umgang mit Sterben und Tod" übernimmt und damit zu Standesregeln erhebt, können diese höchstens als Auslegungshilfe berücksichtigt werden – und auch dies nur, wenn dadurch, nebst anderen Voraussetzungen, keine Grundrechte eingeschränkt werden.

Qualität der medizinischen Versorgung sichern

Solche Standesregeln der Berufsverbände liegen jedoch nicht immer im öffentlichen Interesse. Ein Rückgriff auf diese zur Präzisierung einer allgemein gehaltenen Berufsregel des Medizinalberufegesetzes setzt deshalb voraus, dass die fragliche Standesregel nicht auf spezifische Interessen des Berufsstandes ausgerichtet ist, sondern die Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden und zuverlässigen medizinischen Versorgung der Bevölkerung bezweckt, und sie muss das im öffentlichen Interesse Geforderte normieren und Ausdruck der herrschenden Sitte und der communis opinio der Medizinalpersonen mit universitärer Ausbildung sein.

Die Meinung der Ärzte

Durch die Studie "Haltung der Ärzteschaft zur Suizidhilfe", eine Umfrage im Jahr 2014, an der 1.318 Schweizer Ärzte teilnahmen, ist bekannt: "gut drei Viertel aller Antwortenden finden ärztliche Suizidhilfe grundsätzlich vertretbar" und nur "gut ein Fünftel lehnt diese grundsätzlich ab". Zudem bezeichneten zwei Drittel der Antwortenden ärztliche Suizidhilfe auch in anderen Situationen als am Lebensende als grundsätzlich vertretbar.

Was will die Patientin vom Arzt?

Die Umfrage unter Personen in der deutschen Schweiz im Alter 50+ "Letzter Lebensabschnitt: Was erwartet die Bevölkerung vom Arzt?" zeigt, dass 66 % der Befragten wünschen, dass sie der Arzt über die verschiedenen Möglichkeiten zu sterben orientiert, und mehr als die Hälfte der Befragten, nämlich 55 %, verlangen, dass der Arzt auf Verlangen auch das Sterbemittel-Rezept ausstellt. Eine weitere Studie zeigt, dass Patienten ganz besonders jenen Ärzten Vertrauen entgegenbringen, mit denen sie Suizidhilfe und generell Lebensende-Themen offen diskutieren können. Diverse weitere Umfragen zeigen seit mehreren Jahren, dass die Suizidhilfe grossmehrheitlich befürwortet wird. Die Resultate der Volksabstimmung vom 15. Mai 2011 im Kanton Zürich über zwei Initiativen, die einerseits eine Standesinitiative zum Verbot von Suizidhilfe allgemein (mit 84,48 % Nein-Stimmen abgelehnt) und anderseits ein Verbot von Suizidhilfe für Personen von ausserhalb des Kantons Zürich (mit 78,41 % Nein-Stimmen abgelehnt) zum Ziel hatten, unterstreichen dies sehr deutlich.

Realitätsverlust bei Ärztefunktionären?

FMH-Präsident Jürg Schlup und der Zürcher Ärztepräsident Josef Widler, beide unübersehbar Gegner der ärztlich unterstützten Suizidhilfe, behaupten "unlösbare Probleme" für die Ärzte, und "Suizidbeihilfe gehöre nicht zur Aufgabe des Arztes". Sie irren sich in beidem. Erstens: 35 Jahre Schweizer Suizidhilfe-Praxis durch Organisationen wie Exit und Dignitas in Zusammenarbeit mit Ärzten zeigen, dass Ärztinnen und Ärzte sehr wohl in der Lage sind, auch bei Sterbewünschen von Patienten mit komplexen Leidenssituationen patientenorientierte und menschenwürdige Lösungen zu finden. Und zweitens: Das Genfer Ärztegelöbnis des Weltärztebundes besagt unter anderem: "Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren" und "Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden". Die Freiheit, über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes zu entscheiden, wurde sowohl vom Bundesgericht 2006, wie auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2011 als Grund- und Menschenrecht anerkannt.

Eigenverantwortung übernehmen

Jürg Schlup meint, "ein behandelnder Arzt müsste ein persönlich verantwortetes Urteil fällen, ob das Leiden des Patienten unerträglich ist. Das stellt ihn vor große Schwierigkeiten". Soll es eine Schwierigkeit für den Arzt sein, Verantwortung für seinen Entscheid übernehmen zu müssen? Jeder gute Arzt tut dies täglich, so wie jede andere Berufsfachperson. Und jeder Arzt kann und darf Unterstützung zur Suizidhilfe ablehnen. Gemäss der vorgenannten Studie "Haltung der Ärzteschaft zur Suizidhilfe" lehnt gut ein Fünftel der Ärzte die Suizidhilfe grundsätzlich ab. Das ist deren Freiheit und deren gutes Recht.

Die Schweizer Rechtslage

Die Schweizer Rechtslage bezüglich ärztlich unterstützter Suizidhilfe ist weder besonders liberal, noch so, dass sie "fast nichts regelt", wie kürzlich zu lesen war. Grundrechte in der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zivilgesetz, Strafrecht, Strafprozessrecht, Medizinalberufegesetz, Heil- und Betäubungsmittelgesetz und die Rechtsprechung der Gerichte bilden einen klaren Rahmen. Die SAMW-Richtlinien "Umgang mit Sterben und Tod" sind ergänzend dazu ein interessantes Orientierungsinstrument, an dem eine Gruppe von Fachleuten der privaten Stiftung SAMW intensiv gearbeitet hat. Deshalb hat der Ständerat zu Recht die unnötige Standesinitiative des Kantons Neuenburg "Bedingungen für die Suizidhilfe" deutlich abgelehnt.

Fazit

Ärztefunktionäre wie Schlup und Widler täten gut daran, die Bedürfnisse der Patienten und die Meinung der praxiserfahrenen Ärzte anzuerkennen. Insbesondere auch und vor allem, weil ärztlich unterstützte Suizidhilfe eine wichtige "Notausgangstüre" für schwerleidende Menschen ist. Sie hilft, die Zahl der einsamen, hochriskanten Suizide und Suizidversuche zu verringern – eine Zahl, die auch dank dieser Notausgangstüre seit Jahren sinkt. Wenn Schlup und Widler die Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden und zuverlässigen medizinischen Versorgung der Bevölkerung und das Wohl der Patienten im Sinne des Genfer Ärztegelöbnisses und der Mitmenschlichkeit respektierten, würden sie dafür sorgen, dass die ärztliche Tätigkeit im Zusammenhang mit Suizidhilfe genauso wie die suizidversuchspräventive Tätigkeit von Dignitas und Exit sowie deren umfassende Beratung zu Vorsorge, Palliativversorgung und allen weiteren Lebensqualitäts- und Lebensendefragen in das Gesundheitssystem der Schweiz integriert wird.


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