gbs-Jahresrückblick 2022

Ein Jahr voller Höhen und Tiefen

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Mit 2022 geht ein ereignisreiches Jahr zu Ende, in dem die Giordano-Bruno-Stiftung bemerkenswerte Erfolge erzielen konnte, aber auch schmerzliche Verluste verkraften musste. So feierte die gbs mit der Ärztin Kristina Hänel die Streichung des § 219a StGB, musste sich aber auch von ihrem Gründer Herbert Steffen verabschieden, der im Alter von 88 Jahren starb.

1. Quartal: Januar bis März

Januar: Mit seiner Neujahrsansprache 2022 läutete gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon das "säkulare Jahrzehnt" ein. Dabei machte er darauf aufmerksam, dass Katholiken und Protestanten 2022 – erstmals in der deutschen Geschichte – weniger als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen und die Konfessionsfreien spätestens in zehn Jahren die absolute Mehrheit in Deutschland stellen werden. Davon ausgehend forderte er nachhaltige politische Veränderungen, u.a. die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die Ablösung der historischen Staatsleistungen, eine grundlegende Reform des kirchlichen Arbeitsrechts sowie eine konsequente Trennung von Staat und Religion. (Im August 2022 griff der SPIEGEL die Thematik des "säkularen Jahrzehnts" explizit auf. Dabei kam im SPIEGEL-Artikel "Land der Gottlosen" insbesondere fowid-Leiter Dr. Carsten Frerk zu Wort, der auf die Frage, ob die Entkirchlichung der Gesellschaft eine vorübergehende Erscheinung oder ein nachhaltiges Phänomen sei, ein schönes Bonmot zum Besten gab: "Das ist wie beim Haarausfall: Was weg ist, das ist weg und kommt nicht wieder!")

Vom 19. bis 21. und am 27. Januar demonstrierte die gbs in München gegen die Vertuschung des kirchlichen Missbrauchsskandals. Anlass hierfür war die Veröffentlichung der zweiten Missbrauchsstudie des Erzbistums München-Freising sowie die eine Woche später stattfindende Pressekonferenz von Kardinal Marx. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte dabei ein weiteres Mal der "Hängemattenbischof", mit dem die Aktionsgruppe "11.Gebot" die Betroffeneninitiativen im Auftrag der gbs unterstützte, sowie die neuen Großplakate "Aufklärung auf Katholisch" und "Wir sind schuldig!" (in Anlehnung an eine alte Schlagzeile der Bild-Zeitung). Konservative Kreise regten sich allerdings mehr darüber auf, dass die gbs-Proteste u.a. von der Kirchenreformbewegung "Maria 2.0" unterstützt wurden.

Februar: Am 15. Februar fand der Strafprozess gegen den radikalen christlichen Abtreibungsgegner und Betreiber der "Babycaust"-Website Klaus Günter Annen statt. Angeregt wurde das Verfahren vom Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) in Zusammenarbeit mit der Ärztin Kristina Hänel, die von Annen persönlich angegriffen wurde. Das Gericht verurteilte den Abtreibungsgegner zu einer Geldstrafe wegen Beleidigung, ließ aber den Tatbestand der "Volksverhetzung", auf die gbs und ifw hingewiesen hatten, nicht gelten, was heftigen Widerspruch in den Medien sowie in juristischen Kreisen hervorrief.

Am 21. Februar stellte die gbs zusammen mit den Organisationen "Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben" (DGHS), "DIGNITAS-Deutschland" und dem "Verein Sterbehilfe" den "Berliner Appell" im Haus der Bundespressekonferenz vor. Er enthält die zehn zentralen Forderungen für eine humane Suizidhilfe in Deutschland. Über die Pressekonferenz, die von der ehemaligen SPD-Spitzenpolitikerin und gbs-Beirätin Ingrid Matthäus-Maier moderiert wurde, berichtete u.a. die Tagesschau.

"Ein brandgefährlicher Mix von Nationalismus und Religion": Über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine war die gbs weniger überrascht als die meisten westlichen Kommentatoren, da sie die ideologische Mobilmachung unter Putin sowie dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. über viele Jahre hinweg aufmerksam verfolgt hatte. Dies drückte sich auch in den Stellungnahmen aus, welche die Stiftung kurz nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar veröffentlichte.

März: Am 9. März forderte die gbs in Kooperation mit der internationalen Organisation "Reporter ohne Grenzen" (RSF) die sofortige Freilassung des saudischen Bloggers und Menschenrechtsaktivisten Raif Badawi, der seine zehnjährige Haftstrafe bereits am 28. Februar verbüßt hatte. Tatsächlich wurde Raif zwei Tage später aus dem Gefängnis entlassen. Allerdings muss er aufgrund eines Ausreiseverbots weitere 10 Jahre in Saudi-Arabien bleiben, wodurch ihm ein Zusammenleben mit seiner Frau Ensaf Haidar und seinen drei Kindern weiterhin verwehrt ist. Um Raif, mit dem die Stiftung seit März 2022 in engem Kontakt steht, in seiner Notlage zu helfen, rief die gbs wenig später zu einer internationalen Spendenkampagne auf und richtete ein Treuhandkonto für Raif und Ensaf ein. Parallel dazu versuchte die gbs auf nationaler wie internationaler Ebene, eine Aufhebung des unmenschlichen 10-jährigen Ausreiseverbots zu erwirken – bislang jedoch ohne Erfolg (was sicherlich auch daran liegt, dass der Westen momentan in besonderem Maße auf Energielieferungen aus Saudi-Arabien angewiesen ist, was das Regime auszunutzen versteht).

2. Quartal: April bis Juni

April: Am 5. April 2022 veröffentlichte die gbs die Broschüre "Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat". Grundlage des Textes ist die Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel gegen § 219a StGB, welche die Giordano-Bruno-Stiftung und das Hans-Albert-Institut (HAI) bereits Ende März eingereicht hatten. gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon erklärt in der Stellungnahme, dass nicht nur § 219a StGB als verfassungswidrig einzustufen ist, sondern die gesamte deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch, da sie u.a. im Widerspruch zum "Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates" sowie zu dem in der Verfassung garantierten "Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit" steht. Das Fazit der umfassenden Analyse ist klar: "Der Schwangerschaftsabbruch war auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes niemals rechtswidrig, rechtswidrig war vielmehr der 'Gebärzwang', dem sich Frauen unterwerfen mussten. Ein solch eklatanter Verstoß gegen die Würde der Frau hätte niemals stattfinden dürfen."

Mitte April, pünktlich zu Ostern, sorgte die Meldung, dass Katholiken und Protestanten inzwischen weniger als die Hälfte der Bevölkerung stellen, für Furore. Die gbs hatte die entsprechenden Daten der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) bereits im Januar bekanntgegeben, um den Beginn des "säkularen Jahrzehnts" zu begründen (siehe oben), die Medien griffen dies jedoch erst zu dem hohen christlichen Feiertag auf. Ebenfalls zu Ostern ging der österreichische Sender ServusTV auf das brandaktuelle Thema "Kirche und Krieg: Gewalt im Namen Gottes?" ein. Michael Schmidt-Salomon, der in der Talkshow die religionskritische Perspektive vertrat, bot sich dabei die Gelegenheit, die religiös-nationalistischen Hintergründe des Ukraine-Kriegs zu beleuchten und am Ende sogar eine "humanistische Osterbotschaft" an das Fernsehpublikum zu richten.

Mai: Am 7. Mai 2022 jährte sich zum zehnten Mal die Verkündung des bahnbrechenden "Kölner Urteils", das auch Jungen das Recht auf genitale Selbstbestimmung zugesprochen hatte, indem es eine medizinisch nicht indizierte Vorhautentfernung ("Beschneidung") als strafbare Körperverletzung wertete. Inzwischen ist der 7. Mai weltweit zu einem Symbol für die Selbstbestimmungsrechte des Kindes geworden. Wie in den Jahren zuvor beteiligte sich die gbs auch 2022 am "Wordwide Day of Genital Autonomy" (WWDOGA) und bekräftigte die Position, die sie bereits 2012 eingenommen hatte, nämlich dass religiös begründete Beschneidungen erst in einem Alter erfolgen sollten, in dem die Betroffenen selbst darüber entscheiden und die Folgen des Eingriffs abschätzen können. Schließlich handelt es sich bei der Vorhautamputation keineswegs um eine Bagatelle, sondern um einen "risikoreichen, schmerzvollen, mitunter traumatisierenden Eingriff, der mit der irreversiblen Amputation eines hochsensiblen, funktional nützlichen Körperteils verbunden ist".

Am 19. Mai stellte sich der "Zentralrat der Konfessionsfreien" erstmals der Öffentlichkeit vor. Die gbs hatte die Einrichtung eines solchen Zentralrats bereits in ihrem Gründungsjahr 2004 angeregt. Sie war auch maßgeblich daran beteiligt, dass die neue "Lobbyorganisation der Konfessionsfreien" 18 Jahre später ihr politisches Programm, die "Die Säkulare Ampel", im Haus der Bundespressekonferenz präsentieren konnte. Wie der Vorsitzende des Zentralrats, Bestsellerautor und gbs-Beirat Philipp Möller, in der Pressekonferenz betonte, "hat die Ampelkoalition die historische Chance, Deutschland zu einem wahrhaft säkularen und weltanschaulich neutralen Staat zu machen." Der Zentralrat der Konfessionsfreien will künftig mit Nachdruck dazu beitragen, dass diese Chance genutzt wird.

Ende Mai kritisierte die gbs die hohe öffentliche Subventionierung des Katholikentags in Stuttgart. David Farago, der mit dem "11. Gebot" ("Du sollst deinen Kirchentag selbst bezahlen") gleich mit drei Großskulpturen (Moses, Geldhamster und Hängemattenbischof) vor Ort war, erklärte dazu: "Mit 241 Euro pro Besucher erhält der Katholikentag dieses Jahr die höchste jemals gezahlte Förderung seit dem Beginn unserer Statistik im Jahr 2000. Diese absurd hohen Fördersummen sind mit einem weltanschaulich neutralen Staat nicht zu vereinbaren!"

Ebenfalls Ende Mai fand am gbs-Stiftungssitz in Oberwesel das erste Stipendiat*innen-Treffen des Bertha von Suttner-Studienwerks statt. Bei gutem Essen und gutem Wein gingen die Gespräche bis tief in die Nacht. Die damit einhergehenden Schlafdefizite taten der guten Stimmung keinen Abbruch. "Ich habe noch nie so viele interessante und nette Menschen auf einen Schlag getroffen", sagte einer der Suttner-Stipendiaten bei der Abschlussrunde. "Die Atmosphäre hier war einfach fantastisch. Das hat meine Erwartungen weit übertroffen!"

Juni: Mitte Juni veröffentlichte die gbs zusammen mit dem Great Ape Project eine repräsentative Studie, die zeigte, dass sich die Mehrheit der Deutschen gegen die Haltung von Affen in Zoos ausspricht. Dabei belegen die von der "Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland" (fowid) ausgewerteten Daten, dass Konfessionsfreie die Affenhaltung signifikant stärker ablehnen als Gläubige und dass Frauen für das Leid von Affen, die ihr Leben im Zoo statt in freier Wildbahn verbringen müssen, eher empfänglich sind als Männer. Als noch wichtiger erwies sich die Altersverteilung: Während sich über 75 Prozent der 18-34-Jährigen gegen die Affenhaltung in Zoos aussprechen, sind es bei den Über-55-Jährigen nur 61 Prozent. gbs-Beirat Colin Goldner, Leiter des "Great Ape Project" in Deutschland, wertete dies als "ein klares Zeichen dafür, dass tierethische Argumente in der jüngeren Generation stärker verankert sind als bei Älteren".

Am 24. Juni strich der Deutsche Bundestag den umstrittenen Paragrafen 219a aus dem Strafgesetzbuch – ein großer Erfolg für die Ärztin Kristina Hänel, deren Verfahren die gbs seit 2018 intensiv begleitet hatte. Seit dem 24. Juni können Ärztinnen und Ärzte in Deutschland nicht mehr dafür belangt werden, dass sie Informationen über den Schwangerschaftsabbruch öffentlich verbreiten. Dies ist ein erster wichtiger Schritt hin zu der längst überfälligen Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, auf den die gbs gemeinsam mit der ProChoice-Bewegung und dem "Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung" schon seit vielen Jahren hinarbeitet. Entsprechend gut war die Stimmung auf der "219a-Abschiedsparty", die Kristina Hänel wenig später auf ihrem Hof in der Nähe von Gießen ausrichtete. (Getrübt wurde die Stimmung allerdings dadurch, dass am gleichen Tag, an dem § 219a in Deutschland gestrichen wurde, das einigermaßen liberale Abtreibungsrecht in den USA durch trumpistische Richter*innen gekippt wurde.)