gbs-Jahresrückblick 2022

Ein Jahr voller Höhen und Tiefen

3. Quartal: Juli bis September

Juli: Den Zeugen Jehovas sollte der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts entzogen werden: Zu dieser Einschätzung gelangte ein juristischer Kommentar, den das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) Anfang Juli in seiner Onlinepublikation "Weltanschauungsrecht aktuell" veröffentlichte. Grundlage des Kommentars war ein Urteil des Landgerichts Hamburg, das im November 2020 festgestellt hatte, dass die "aggressive Entfremdung von der Gesellschaft und dem Staat" ein charakteristisches Merkmal der Zeugen Jehovas sei.

August: Am 20. und 21. August fand in Köln der große, internationale Kongress "Celebrating Dissent" statt, zu dem neben Ex-Muslimen aus aller Welt auch westliche Religionskritiker wie Richard Dawkins, Dan Barker und Michael Schmidt-Salomon anreisten. Der Kongress stand noch unter dem Eindruck des Anschlags auf Salman Rushdie, der wenige Tage zuvor durch eine Messerattacke in New York schwer verletzt wurde. Und so zogen die Kongressteilnehmer*innen geschlossen in einer Spontandemo durch die Kölner Innenstadt, bekundeten ihre Solidarität mit Rushdie und riefen zur Stärkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, Blasphemie und Apostasie auf. Maryam Namazie (Vorsitzende des britischen Zentralrats der Ex-Muslime) brachte die kämpferische Stimmung des Kongresses wunderbar auf den Punkt, als sie in ihrer Eröffnungsrede den chilenischen Dichter Pablo Neruda zitierte: "Sie können alle Blumen abschneiden, aber sie können den Frühling nicht verhindern."

Nicht um Religionskritik und Menschenrechte, sondern um die Vision einer zukunftsgerechten humanistischen Ökologie ging es bei den Großkonzerten der beiden erfolgreichsten deutschen Punkrockbands ("Die Ärzte" und "Die Toten Hosen") im August 2022 auf dem Berliner Tempelhof-Gelände. Dabei arbeiteten die Bands eng mit der "Cradle to Cradle"-NGO zusammen, die seit ihren Anfängen von der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) gefördert wird. gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon, der mit Ärzte-Schlagzeuger und -Sänger Bela B im Beirat der C2C-NGO sitzt, war mit gbs-Geschäftsführerin Elke Held und den gbs-Beiratsmitgliedern Monika Griefahn (ehemalige Umweltministerin in Niedersachsen und Mitbegründerin von Greenpeace Deutschland) und Michael Braungart (dem maßgeblichen Begründer des C2C-Ansatzes) zu einem der vier Konzerte eingeladen und hat über dieses denkwürdige Ereignis auf der gbs-Website berichtet.

September: Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die von der religiösen Sittenpolizei wegen eines nicht "ordnungsgemäß" sitzenden Kopftuchs inhaftiert worden war, entstand im Iran eine große Protestbewegung, die "den Anfang vom Ende des islamischen Regimes" bedeuten könnte. Kurz nach dem Ausbruch der Unruhen im Iran kam es weltweit zu Solidaritätsaktionen, die in Deutschland maßgeblich von der Giordano-Bruno-Stiftung unterstützt wurden. (Seit 2007, als die gbs zusammen mit der iranischen Menschenrechtsaktivistin Mina Ahadi den "Zentralrat der Ex-Muslime" vorstellte, gibt es enge Verbindung zur iranischen Opposition – insbesondere nachdem die gbs Anfang 2008 mit dem Foto einer jungen Frau mit gelüftetem Schleier ein ikonografisches Bild geschaffen hatte, das in der iranischen Frauenbewegung großen Anklang fand, siehe hierzu u.a. das Video "10 Jahre Ex-Muslime" aus dem Jahr 2017).

Im September gingen liberal denkende Menschen allerdings nicht nur zur Unterstützung der iranischen Opposition auf die Straße, sondern auch zur Stärkung der sexuellen Selbstbestimmungsrechte in Deutschland. Unter dem Motto "Ich entscheide selbst!" organisierte das "Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung" am 17. September eine Gegendemonstration zum "Marsch für das Leben” radikaler Abtreibungsgegner sowie den bundesweiten "Safe Abortion Day", der sich für die längst überfällige Enttabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzte. Beide Aktionstage wurden von der Giordano-Bruno-Stiftung unterstützt.

Ende September fanden darüber hinaus die letzten Auswahlgespräche für das Suttner-Stipendium 2022 statt. Von den mehr als 160 Bewerberinnen und Bewerbern konnten sich am Ende 15 hochqualifizierte Kandidat*innen das Stipendium sichern. Damit fördert das Bertha von Suttner-Studienwerk, das 2021 von der gbs, dem Humanistischen Verband Deutschlands, der Bundesarbeitsgemeinschaft Humanistischer Studierender und der Humanistischen Akademie Deutschland gegründet wurde, seit Oktober 25 freigeistige Studierende und Promovierende aus verschiedenen akademischen Disziplinen.

4. Quartal: Oktober bis Dezember

Oktober: Am 5. Oktober erschien die aktuelle Ausgabe des "bruno-"-Jahresmagazins mit dem Schwerpunkt "Das säkulare Jahrzehnt: Wie sich Deutschland verändern wird". Wie das Heft an markanten Beispielen aufzeigt, waren die Voraussetzungen für eine säkulare Politik nie so günstig wie heute – zugleich jedoch wird es im globalen Maßstab immer schwieriger, die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Schon im Vorfeld, nämlich nach dem Wahlerfolg einer postfaschistischen Kandidatin in Italien Ende September, hatte die gbs hierzu den "bruno."- Artikel "Die autoritäre Bedrohung" veröffentlicht, der (nicht nur, aber auch) am Beispiel des russischen Angriffskriegs aufzeigte, wie identitäre Denkmuster die Grundlagen des modernen Rechtsstaats gefährden.

Vom 7. bis 9. Oktober fand im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg das interdisziplinäre Symposium "Gehirne zwischen Genie und Wahnsinn" statt. Veranstaltet wurde der prominent besetzte Kongress, der sich u.a. mit der Frage beschäftigte, wo die Grenzen zwischen Genie und Manie, Scharfsinn und Wahnsinn verlaufen, vom Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs (Kortizes), unterstützt von der Giordano-Bruno-Stiftung. Das Symposium war keineswegs die einzige Kooperation von gbs und Kortizes im Jahr 2022. Zuvor hatte die gbs u.a. bereits die Kortizes-Veranstaltungsreihe "Vom Reiz der Sinne – Wahrnehmung und Gehirn" gefördert.

Nachdem die gbs Mitte Oktober u.a. den nackten Protest von Exil-Iranerinnen gegen den Muezzinruf in Köln ermöglichte, richtete sie am 22. Oktober den öffentlichen Festakt zum 80. Geburtstag von Gerhard Czermak aus, der viele Jahre als eine Art "juristische Ein-Mann-Taskforce gegen das große Heer der frommen Staatskirchenrechtler" die Trennung von Staat und Kirche sowie das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates verteidigt hatte (siehe hierzu den Veranstaltungsbericht). Ohne die wichtige Arbeit von Gerhard Czermak wäre das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) wohl nie entstanden – und die gbs hätte einige wichtige Erfolge vor Gericht und in der Politik nicht erzielen können (man denke nur an die Aufhebung von § 217 StGB und die Streichung von § 219a).

November: Im November war die gbs u.a. am Stuttgarter Zukunftskongress sowie am zweiten Stipendiat*innen-Treffen des Suttner-Studienwerks beteiligt, doch dies wurde überschattet von einem Ereignis, das die Stiftung tief erschütterte: Denn am 18. November starb gbs-Gründer Herbert Steffen im Alter von 88 Jahren. Sein Tod markiert das "Ende einer Ära", wie es sein Freund und Vorstandskollege Michael Schmidt-Salomon in seinem sehr persönlich gehaltenen Nachruf formulierte. Glücklicherweise hatte "Herbie" in den vorangegangenen Monaten die Veröffentlichung seiner Autobiografie "Mein langer Weg vom Paulus zum Saulus" energisch vorangetrieben und die "bruno."-Redaktion den Artikel über sein Leben an den Anfang der aktuellen Ausgabe des Jahresmagazins gestellt. So konnte "Herbie" am Ende seines Lebens von vielen Seiten noch einmal die Wertschätzung erfahren, die er verdiente.

Der Tod von Herbert Steffen war nicht der einzige schwere Verlust, den die Stiftung 2022 verkraften musste. Schon im Juli 2022 war ein Mann gestorben, der die gbs durch seine Großzügigkeit und seine Denkanstöße in den letzten Jahren entscheidend geprägt hat. Da er darauf bestand, dass sein Name niemals an die Öffentlichkeit dringen dürfe, erhielt er im internen Stiftungsumfeld den liebevollen Spitznamen "Herr Geheimrat". Herbie und der "Herr Geheimrat" waren als Persönlichkeiten sehr verschieden, doch das hinderte sie nicht daran, (gemeinsam mit anderen) dafür zu sorgen, dass sich die gbs auch in Zukunft für die Ziele von Humanismus und Aufklärung einsetzen kann (mehr dazu im Fazit unten).

Dezember: Am 12. Dezember veröffentlichte das Institut für Weltanschauungsrecht zum 10-jährigen Bestehen des "Beschneidungsparagrafen" 1631d BGB einen Offenen Brief, der die Bundesregierung und die Abgeordneten des Deutschen Bundestags mit guten juristischen, medizinischen und ethischen Gründen aufforderte, Kinderrechte stärker zu beachten und § 1631d BGB abzuschaffen. Zuvor hatte die Stiftung bereits drei Online-Lesungen angekündigt, von denen zwei zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Jahresrückblicks bereits ausgestrahlt wurden: Am 2. Advent erklärte Niko Alm, warum Staat und Religion getrennt sein müssen, am 3. Advent plädierte Helmut Ortner für eine aufgeklärte Streitkultur. Am 4. Advent wird Michael Schmidt-Salomon eine "Philosophie der Gelassenheit" skizzieren, die traditionelle Moral- und Lebensvorstellungen radikal infrage stellt. Alle Vorträge bleiben auf dem YouTube-Kanal der gbs dauerhaft erhalten. Wer die Premieren an den Adventssonntagen verpasst hat, kann sich die Vorträge zu einem späteren Zeitpunkt anschauen.

Fazit: Ein Jahr voller Höhen und Tiefen

Wie in den vorangegangenen Jahresrückblicken konnten wir auch 2022 nur auf einige Stiftungsaktivitäten eingehen. Selbst größere Aktivitäten wie die Ausrichtung des "DA!-Art-Award", bei dem mehr als 1000 künstlerische Arbeiten aus ganz Deutschland eingereicht wurden, sowie das Bürgerbegehren #NichtMeinKirchentag des Düsseldorfer Aufklärungsdienstes (DA) gegen die öffentliche Finanzierung des Kirchentags 2027 mussten hier aus Platzgründen ausgespart werden.

Insgesamt erwies sich 2022 als ein Jahr voller Höhen und Tiefen – sowohl auf politischer als auch auf persönlicher Ebene. Besonders getroffen hat die Stiftung natürlich der Tod ihres Gründers. Ohne "Herbie" fühlt sich der Stiftungssitz "Haus Weitblick" momentan sehr leer an, man hat ständig das Gefühl, dass etwas Wesentliches fehlt. Dennoch wird die Stiftungsarbeit selbstverständlich weitergehen! In organisatorischer Hinsicht stellt dies kein Problem dar, da die gbs schon seit einem Jahrzehnt von finanziellen Zuwendungen ihres Gründers unabhängig ist. "Herbie" hat zwar bis zum Schluss den persönlichen Kontakt zu zahlreichen Spenderinnen und Spendern gepflegt, die großen Zustiftungen ins Verbrauchsvermögen der gbs wurden allerdings von anderen "eingeworben" (insbesondere von Michael Schmidt-Salomon und gbs-Geschäftsführerin Elke Held). Auch aus dem politischen Alltagsgeschäft der Stiftung hat sich "Herbie" mehr und mehr zurückgezogen. Wenige Wochen vor seinem Tod hat er sogar ein drittes Vorstandsmitglied benannt, so dass die Stiftung nun ohne Unterbrechung mit einem vollständigen Vorstand (Michael Schmidt-Salomon als Vorsitzendem und der Philosophin Ulla Wessels als Stellvertreterin) weiterarbeiten kann.

Die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft der Giordano-Bruno-Stiftung sind also gestellt – auch wenn es nach dem Tod von "Herbie" niemals wieder so sein wird, wie es früher einmal war...

Erstveröffentlichung auf der Webseite der gbs.

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